Buchrezensionen, Rezensionen

Francois R. Martin / Michel Menu / Sylvie Ramond (Hrsg.): Grünewald, DuMont 2012

Obwohl das Werk, dass ihm zugeordnet werden kann, recht gering ist, gilt Matthias Grünewald als einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Renaissance. Im DuMont Verlag ist nun eine umfassende Monografie erschienen, die in drei Kapiteln Werk, Technik und Rezeption behandelt. Walter Kayser war begeistert von dieser umfangreichen Bestandsaufnahme.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es gewöhnlich Sterblichen kaum noch verständlich zu machen, wie heftig damals, zu Beginn des 4. Jahrhunderts, am türkischen İznik-See die Fetzen flogen. Auf dem Konzil von Nicäa 325 entbrannte unter den Vätern der alten Kirche ein heißer Kampf um die Beantwortung der Frage, wie dieser Jesus von Nazareth eigentlich zu Gott gestanden habe. War er wirklich „Gottes Sohn“ – ein Titel, den man aus anderen Religionen übernommen hatte? Letztlich ging es um eine winzige, aber entscheidende Kleinigkeit, - jenes sprichwörtlich gewordene Iota, sozusagen das Tüpfelchen auf dem i.: Behaupteten die einen, dass ihn mit dem Vater „Wesensgleichheit“ verband (gr. Homousie), so stritten die anderen, die so genannten Arianer, erbittert darum, dass er Gott nur „wesensähnlich“ sei (gr. Homoiusie).

Wie so oft wurde der Streit nicht gerade mit Sachkompetenz entschieden. Kaiser Konstantin sprach ein Machtwort: Man exkommunizierte Origenes und Arius von Alexandria und hüllte fortan die Dreifaltigkeit und Christologie in ein großes Mysterium, das bis zum heutigen Tag ganze theologische Lehrstühle ernährt.

Die Künstler des Abendlandes machten sich da schon immer ihre eigenen Vorstellungen. Sicherlich hatten sie sich nach den christologischen Positionen ihrer Zeit zu richten, aber in der Darstellung des Jesus pendelten sie doch gewaltig zwischen den Polen der Göttlichkeit und Menschlichkeit hin und her. Es ging ihnen einfach darum, den Erlöser glaubwürdig darzustellen. Das geschah mal in der Pose des erhabenen, in hierarchischer Strenge stark stilisierten Pantokrators, Lehrers oder Gottkönigs, dann wieder in der Rolle des ganz irdischen Menschenfreunds und Heilands.

Eine absolute Extremposition nimmt auf dieser Skala wohl der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald ein. Nie zuvor und nie danach wurde Jesus so vermenschlicht, ja entmenschlicht dargestellt.
Doch das ist nur die eine, die offensichtlichste und bekannteste Seite eines der größten Maler des 16. Jahrhunderts. Ganz anders und im selben Werkzusammenhang: Er war einer der strahlendsten Koloristen aller Zeiten. Grünewalds Archaismen einerseits, seine Ausnahmeerscheinung und seine avantgardistischen Vorstöße in das, was man 500 Jahre später Expressionismus oder Surrealismus nannte, selbst seine Identität und der Umfang seines Œuvre andererseits – vieles gibt auch heute noch Rätsel auf.

Denn dieser Matthias Grünewald alias Meister Mathis, Mathis Gothart Nithart, Mathis Grün, Mathis Gerung – „Mathis, der Maler“, wie ihn dann Hindemith zu Beginn der NS-Diktatur als Projektionsfigur eines Künstlers in der inneren Emigration schuf – dieser Maler ist ein Kompositfigur, zumindest was seine historische Identität angeht. Ja, man kann sagen: Je präsenter sein Werk wurde, je unauslöschlicher sich seine extreme Bildwelt eingebrannt hatte, desto größer wuchs das Verlangen danach, dem Menschen dahinter eine klar umrissene Gestalt zu geben. Und doch, an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit lebend, teilt er weitgehend noch das Schicksal der vielen namenlosen Künstler des Mittelalters. Er bleibt, anders als seine Zeitgenossen Hans Holbein, Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien (ganz zu schweigen von den italienischen Universalgenies), zumindest was seine Lebensumstände angeht, weitgehend im Dunkeln.

Der vorliegende Band dürfte wohl der gründlichste Versuch sein, Person, Werk und Wirkung zu sichten. Die so geschaffene Bestandsaufnahme ist vermutlich auf lange Zeit hin das, was man im Musikgeschäft eine „Referenzaufnahme“ nennen würde. Dafür spricht allein schon die großartige Qualität der Abbildungen. Sie besitzen eine farblichen Brillanz und Schärfe, die auch bei gewaltigen Vergrößerungen nichts zu wünschen übrig lässt und Studien zulässt, die man unter den Bedingungen eines normalen Museumsbesuchs wohl nicht mehr anstellen könnte.

Die drei Verfasser haben sich zu einer konzertierten Aktion von Museumspraxis, wissenschaftlicher Forschung und restauratorischen Erkenntnissen zusammen-geschlossen. François-René Martin ist Professor für Kunstgeschichte an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris. Für Sylvie Ramond, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts in Lyon, war diese Veröffentlichung so etwas wie ein Rückblick auf ihren langjährigen Umgang mit dem Isenheimer Altar im Musée Unterlinden in Colmar, dem sie bislang als Leiterin vorstand. Und der Dritte im Bunde, Michel Menu, ist seit Jahrzehnten erfahrener Restaurator am Centre de Recherche et de Restauration des Musées de France.


Entsprechend ist der opulente Band in drei Abschnitte eingeteilt. Francois-Rene Martins kunsthistorischer Überblick nimmt mit etwa zwei Dritteln den bei Weitem größten Teil ein. In „Fragmente einer Biographie“ geht es um die ungeklärten Rätsel von Grünewalds Identität. Statt sich auf eine Seite innerhalb des vielstimmigen Forschungskonzerts zu schlagen oder eine neue Hypothese anzubieten, fächert er das Spektrum der verwirrenden Anhaltspunkte auf. Lediglich die jüngste These, hinter den Monogrammen MG bzw. MGN verberge sich in Wirklichkeit der Maler Mathis Grün, ist für ihn definitiv vom Tisch.
Auch im zweiten Anlauf geht es um den Menschen hinter dem Werk. Welches Porträt gibt uns als verstecktes Selbst- oder Kryptobildnis einen Anhaltspunkt, wie der Maler aussah? Auch hier siegte wohl unterm Strich wieder das Wunschdenken. Denn ein weiteres Mal war es der Kupferstecher Joachim von Sandrat, der 1679 dem Maler ein Gesicht geben wollte.

Erst nach diesem Vorspiel um die Figur des Malers wird das Werk in seinen wichtigsten Tafeln diskutiert. Die chronologische Entwicklung geht von der Abendmahl-Predella aus, die heute zur Schweinfurter Sammlung Georg Schäfer gehört, führt über den Lindenhardter Altar, die Verspottung Christi in der Alten Pinakothek in München, über die Basler und Washingtoner Kreuzigungen bis zum opus magnum aus dem ehemaligen Antoniter-Kloster im elsässischen Isenheim. Nicht immer ist die Datierung unumstritten, die Qualität der Werke sehr unterschiedlich, die Rekonstruktionsversuche, etwa des Heller Altars mit seinen heute verstreuten Standflügeln in Grisaille-Technik, nicht ganz überzeugend.

Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Exkurse, die Grünewalds Verhältnis zu Dürer, seine möglichen Beziehungen zu Italien, die Bezüge zu anderen Großmeistern wie Vater und Sohn Holbein oder Hans Baldung Grien. Sie führen immer wieder auf einen Punkt hin, den man so zusammenfassen kann: Je angestrengter die Versuche sind, Verbindungen herzustellen, sei es zu anderen Künstlern, mithin zu Vorbildern, Vorlagen und entscheidenden Anregungen, desto erratischer steht dieser Künstler für sich da.

Was das Verhältnis zu Dürer betrifft (immerhin waren zwei zuständige Revolutionskommissare des Jahres 1794 noch der festen Überzeugung, der Isenheimer Altar sei das Werk des Nürnberger Künstlers), so muss man davon ausgehen, dass sie weder zusammenarbeiteten noch sich auch nur gegenseitig wahrnahmen. Im Gegenteil, ähnlich wie zwischen Michelangelo und Leonardo bzw. Raffael kann man eher von einer geflissentlichen Missachtung aus Rivalität sprechen. Ähnliches gilt für die in keiner Weise greifbare These, dass Grünewald nach Italien gereist und dort Anregungen (etwa durch Leonardo) erhalten habe.

Dasselbe gilt für die Stellung des Isenheimer Altars im Gesamtwerk. Dieser mehrfache Wandelaltar steht umso einzigartiger da, je länger man ihn intensiv betrachtet. Rückwärtsgewandt ist er eine summa theologica und summa iconographica mittelalterlicher Bilderfindungen; aber die Radikalität seines Ausdrucks ist auch heute noch schier atemberaubend und lässt sich nur mit den kompromisslosesten Zeitgenossen wie Francis Bacon, Picasso oder Arnulf Rainer vergleichen. Und dann diese Bandbreite, mit der der Isenheimer Altar in der Kreuzigung die denkbar dunkelste Seite des menschlichen Lebens und mit dem Auferstehungsbild oder dem Engelskonzert seine strahlendsten Aspekte vereint! Wie Georg Scheja, der vielleicht derjenige ist, der sich am intensivsten mit ihm auseinandergesetzt hat, ist dieses Werk so »überdeterminiert«, wie man in der Psychoanalyse sagen würde, so komplex und verdichtet, dass nur eine mehrfache Lektüre auf unterschiedlichen Ebenen seine Geheimnisse zu entschlüsseln verspricht. Dieser Status sui generis ergibt sich auch im Hinblick auf den Anschlussauftrag, auf die Reste des Maria-Schnee-Wunders für Aschaffenburg oder auf das fragmentarische Eigenleben der »Stuppacher Madonna«. Führt man sich ferner vor Augen, dass zeitgleich zwischen 1512-16 der große Dürer-Schüler Hans Baldung Grien an seinem Hochaltar für das Freiburger Münster malte, so wird deutlich, wie wenig der Isenheimer Altar als Kommentar oder Fortschreibung irgendeines anderen Werks zu verstehen ist.

Beim Lesen dieses Buches fällt nebenbei wieder einmal auf, wie anders in dem Land, mit dem Deutschland die längste gemeinsame Grenze hat und das sich vor nunmehr sechzig Jahren zum Tandem und Motor der europäischen Einigung zusammenschloss, Kunstgeschichte betrieben wird. Das Denken ist irgendwie ungebundener, poetisch gewagter, nicht so kurz am Zügel der wissenschaftlichen Fachterminologie geführt (die ja oft nichts anderes ist als Begriffsgeklingel innerhalb eines Jargons mit kurzer Haltbarkeitsfrist). F.-R.Martin ist die Lust an der gewagten Chiffre anzumerken. Eine Art von Nachbetrachtung zum Altar in Colmar stellt er unter die Überschrift »Das gequälte Auge« und lässt dann eine ganze Kaskade ähnlicher Kapitelüberschriften folgen.


Ungemein aufschlussreich sind die Erfahrungen, die Michel Menu aus der Sicht des Restaurators zur Maltechnik wiedergibt. Grünewald erscheint hier als ein wahrer »Alchemist der Farbe«, besessen von der Steigerung der koloristischen Kraft. Neueste Methoden wie die Mikrospektrophotokolorimetrie, mit welcher die Abstrahlungsintensität von Farben im Licht gemessen werden kann, legen vielmehr nahe, dass der Maler nicht einfach Pigmente kaufte, sondern als ein ausgebildeter Experte in Sachen Mineralogie, Bergbau und Wassertechnik unmittelbaren Zugang zu diesen hatte und sie Kenntnisse intensiv und leidenschaftlich für seine Malerei nutzte. Menu schließt sich damit einer ziemlich spektakulären These an, die seit einigen Jahren von Farbexperten, Wirtschafts- und Maltechnikhistorikern und Chemikern vertreten wird, die lange Zeit innerhalb der akademischen Kunstgeschichte als Exoten angesehen wurden: »Mathias Grünewald hat sich nicht damit zufrieden gegeben, nur jene Ressourcen auszuschöpfen, die er auf spezialisierten Märkten, wie dem zu seiner Zeit sehr berühmten in Frankfurt, kaufen konnte«. Vielmehr seien die Farbexplosionen darauf zurückzuführen, dass sich Grünewald als metallurgischer Tüftler wohl selbst in das in den Vogesen gelegene Val d’argent nach Sainte-Marie-aux-Mines begeben habe (wo heute noch große Mineralienmessen alljährlich stattfinden), um sich dort mit kostbaren Mineralien versorgte. Nicht zuletzt sein Nachlass mit der genauen Aufstellung der Stoffe, die für die Herstellung seiner Palette verwendet wurden, untermauert diese These.

Im letzten Teil beschäftigt sich Sylvie Ramond mit der Rezeption und dem Nachleben des Malers. Dass sich Fanatiker der Intensität und Expressivität wie Arnulf Rainer oder Francis Bacon oder auch Expressionisten wie Max Beckmann, Otto Dix oder Ernst Heckel vor dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit Grünewald auseinandersetzten, ist auf Anhieb verständlich. Überraschender ist es da schon in diesem Kapitel vor Augen geführt zu bekommen, wie sich Picasso oder Matisse von der manierierten Formgebung bzw. Deformierung fasziniert zeigten.

Ein großes, faszinierendes Buch über einen der größten und faszinierendsten Künstler, dessen Leben und Werk viele Geheimnisse noch nicht preisgegeben hat.

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