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"Rooted" im Brainlab, München

Die Ausstellung „Rooted“ präsentiert Werke brasilianischer Künstlerinnen, die alle ein Mensch-Natur-Bezug verbindet. In ihren fünf Sektionen werden die vielseitigen metaphorischen Aspekte von „Wurzeln“ diskutiert. Die 16 zeitgenössischen Künstlerinnen knüpfen mit dieser Naturverbundenheit an eine Art „Tropischen Expressionismus“ an, den Tarsila do Amaral, Pionierin des brasilianischen Modernismus und ebenfalls in dieser Ausstellung vertreten, vor einem halben Jahrhundert geprägt hat.

Vilsmeier-linhares © Marlene Almeida, Detail Terra-Devir, 2024
Vilsmeier-linhares © Marlene Almeida, Detail Terra-Devir, 2024

Wurzeln haben die Aufgabe, Pflanzen mit Nährstoffen zu versorgen und sie im Boden zu
verankern. Verwurzelt zu sein impliziert somit sowohl Stabilität und einen Sinn für
Verankerung als auch die Möglichkeit, Zugang zu den notwendigen Mitteln für Entwicklung
und Wachstum zu haben. Doch was braucht es eigentlich, um verwurzelt zu sein? Worauf
kommt es an? Was verankert uns? Nach einem Besuch der Ausstellung „Rooted“ im Brainlab
München hallen diese Fragen lange nach. Die fünf Sektionen der Ausstellung – Herkunft,
Identität, Verbundenheit, Natur und Nachhaltigkeit – präsentieren Gemälden, Installationen und Skulpturen, in denen das Thema des Verwurzelt-Seins über die Beziehung zwischen Menschen und Natur verhandelt wird. Kuratiert von Tereza de Arruda versammelt „Rooted“ Werke brasilianischer Künstlerinnen – teils aus der Sammlung Vilsmeier-Linhares, teils eigens für die Ausstellung geschaffen. „Rooted“ versteht sich als Fortsetzung der Ausstellung „Unrooted“ (2024).

Wurzel und Identität

Eine erste Herausforderung stellt sich: Was bedeutet es, „Wurzeln zu haben“ in einer Nation,
deren Geschichte durch Kolonisation und spätere Migrationsbewegungen geprägt – und lange
Zeit nicht aufgearbeitet – wurde? Die indigene Präsenz etwa wurde lange verdrängt, angelehnt
an Debatten, die indigene Völker pauschal als „Wilde“ abtaten. Ebenso wurden afrikanische
Wurzeln systematisch marginalisiert. Wie also kann und soll eine Nation ihre Wurzeln
thematisieren? Mit dieser Problematik setzen sich die Künstlerinnen der Ausstellung
auseinander – allesamt Vertreterinnen der zeitgenössischen Kunstszene, mit Ausnahme vonTarsila do Amaral (1886–1973), die als eine der zentralen Figuren des brasilianischen
Modernismo gilt.

Amaral bietet einen passenden Einstieg in die Auseinandersetzung mit Identität in der bildenden Kunst. Die ausgestellte Radierung ihres ikonischen Werkes „Abaporu“ (1928) – wohl das bekannteste Gemälde Brasiliens – veranschaulicht diese Auseinandersetzung. In dem
gleichnamigen Gemälde, das sich im Malba-Museum befindet, steht die rätselhafte Figur mit
dem übergroßen Fuß fest auf dem Boden. Hintergrund, Kaktus und Sonne erinnern farblich an
die brasilianische Landschaft und Nationalflagge. Diese Farbdimension fehlt zwar in der
Radierung, was das Werk auf den ersten Blick im Vergleich zu anderen Exponaten vielleicht
vager oder herausfordernd erscheinen lässt. Doch mindert dies nicht seine Aussagekraft. Denn
„Abaporu“, in der indigenen Sprache Tupi-Guarani „der Menschenfresser“ bzw. „der, der isst“,
thematisiert Identität auf fundamentale Weise. Amaral konzipierte „Abaporu“ – ebenso wie „A
Negra und Antropofagia“ – unter dem Einfluss europäischer Künstler; selbst Dürers „Melencolia I“ scheint darin nachzuhallen. Zugleich ließ sie sich von ihren Kindheitserinnerungen in
Brasilien inspirieren. Diese Einflüsse „verschlang“ sie – im Sinne der Antropofagia –, um etwas
Neues zu schaffen. Der melancholische Kannibale ohne Mund wurde zur Schlüsselfigur einer
Bewegung, die lange vor post- oder dekolonialen Diskursen nach einem neuen Umgang mit
Kunst- und Kulturgeschichte suchte. Amarals Präsenz in der Ausstellung sowie die sparsamen
Linien ihrer Radierung verweisen auf frühe künstlerische Auseinandersetzungen mit nationaler
Identität.

Larissa de Souza Ibeji, 2023, Acrylfarbe, Applikationen, Bonbonpapier und Glitzer auf Leinen. Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab
Larissa de Souza Ibeji, 2023, Acrylfarbe, Applikationen, Bonbonpapier und Glitzer auf Leinen. Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab

Die Reflexion über Identität und Verwurzelung setzt sich in weiteren Arbeiten wie „Ibeji“ von Larissa de Souza (*1995). Die Prämisse hier ist, dass Wurzel im Kleinen entstehen – im Alltag,
in Gesten, in Bräuchen. Durch die Collage aus buntem Bonbonpapier wird die Bedeutung von Festen wie São Cosme e Damião sichtbar, bei dem in Brasilien Süßigkeiten als Opfergaben
verteilt werden. Auch die Stickerei am Rand des Werks verweist auf das Häusliche. Verwurzelt zu sein heißt auch, die Bedeutung scheinbar kleiner Gesten – etwa das kindliche Drachensteigen – zu erkennen. Identität im Alltag thematisiert auch Beatrice Arraes (*1998) mit ihren warmtonigen Ölgemälden, in denen Szenen des brasilianischen Lebens dargestellt sind.Werbeschilder und ockerfarbene Lichtstimmungen eines Spätnachmittags unterstreichen die Alltäglichkeit und Wärme der dargestellten Momente.

Wurzel und Verbundenheit
Eine Pflanze kann sich schwer in trockenem Boden verwurzeln. Ebenso finden Menschen dort kaum Halt, wo emotionale Verbundenheit fehlt. Die Werke von Azuhli (1995–2024) rücken
Zuneigung ins Zentrum. In leuchtenden Farben thematisiert sie körperliche Nähe und intime Szenen, oft mit Bezug zur LGBTQ-Community, wie in „O que as pessoas não te disseram sobre
mim“ (2019). Rosilene Luduvico (*1969), die auch in Deutschland wirkt, stellt in „Jair“ (2009) das Eingebettetsein in die Umwelt dar. Eine liegende Figur ist in einen kokonartigen Zustand
vor rosa, wie aus Zuckerwatte, Wolken eingebettet – eine Szene, die kompositorisch und durch die vermittelte Innigkeit an die Atmosphäre von Caspar David Friedrichs Friedrichs „Der Mönch am Meer“ erinnert, wobei sich Luduvico eher den Landschaften von Frans Post annähert.

Carmézia Emiliano, Harvesting Buriti, 2014, Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab
Carmézia Emiliano, Harvesting Buriti, 2014, Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab

Wurzel und Herkunft

Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung ist die Frage nach Herkunft. Als Vertreterin der Art
naïf verleiht Carmezia Emiliano (*1960) in ihren flächigen Darstellungen dem Alltag und der
Natur ihres Makuxi-Volkes eine Stimme – mit Szenen aus dem Amazonas, von Ernte und
Esskultur. Emiliano schließt sich den neulichen Ansätzen indigener Kunst und Künstler an,
eigene Narrativen und Perspektiven zu zeigen und dadurch Herkunft neu zu denken. Diese
Versuche zeichnen sich durch die Rolle der indigenen Künstler als Akteurinnen aus und stellen
das Erbe des Modernismo infrage, die die indigenen Einflüsse oft nur als künstlerisches
Material verstand, nicht als aktive Beiträge.

Auch die Installation „Linhagem“ von Ieda Jardim (*1969) widmet sich dem Thema der Herkunft. Das ausgestellte Werk von Jardim mischt Textil und alltäglichen Gegenständen, um das Nachdenken über Herkunft zu erwecken. Das Ergebnis lautet: Keine Existenz ist einzeln, uns
allen sind Generationen vorangegangen, die sich in unserem Blut, in unseren Gefäßen, Fleisch,
Genetik erhalten. Herkunft ist auch ein zentrales Thema bei Rosana Paulino (*1967). In „Untitled (from Musa Paradisíaca Serie)“ tritt ihr typischer Einsatz von Nähtechnik auf, der die
afrikanische Wurzel mit einbezieht. Dabei verweist sie auf koloniale und rassistische Narrative.
Durch transparente und schwarze Flächen werden Leerstellen und Widersprüche deutlich.

Rosana Paulino, Untitled (from Musa Paradisíaca series), 2019, Druck auf Stoff, Nähen und Monotypie. Sammlung Vilsmeier - Linhares, Foto: Pressemitteilung Brainlab
Rosana Paulino, Untitled (from Musa Paradisíaca series), 2019, Druck auf Stoff, Nähen und Monotypie. Sammlung Vilsmeier - Linhares, Foto: Pressemitteilung Brainlab

Wurzel und Natur

Ausgehend von der Funktion der Wurzel scheint der Boden als passives Substrat – doch genau
dieses Bild stellt die Ausstellung „Rooted“ infrage, denn es geht bei dieser Ausstellung um einen
Wechselbezug in der Beziehung Mensch-Natur. Mit ihrer Forschung um Naturpigmenten zeigt
Marlene Almeida (*1942) die Vielfalt an unorganischen Materialien, die Erde bereithält.
Besonders hervorzuheben ist die ortsspezifische Installation „Terra-Devir,“ die sich imposant in
den Raum einfügt.

Die ausgestellten Werke teilen die Grundannahme, dass wir als Menschen in der Natur
verwurzelt sind – und dass diese Verwurzelung wechselseitig formt. Auch kulturelle
Gewohnheiten schlagen Wurzeln, denn sie gewinnen erst durch ihre kollektive Praxis
Bedeutung. In diesem Sinne führt die Ausstellung jüngere Künstlerinnen mit etablierten
Positionen wie Rosana Paulino oder – als prägende Figur des brasilianischen Modernismo –
Tarsila do Amaral zusammen. Die Rückbesinnung auf die Moderne ist unerlässlich, um die
gegenwärtigen Reflexionen der zeitgenössischen brasilianischen Kunst zu verstehen. Doch
dabei gerät der Modernismo selbst kritisch in den Blick – durch neue Akteur:innen, die denexogenen Charakter der modernen Kunst hinterfragen und sich nicht länger als Objekt, sondern als Subjekt der Kunst behaupten.

Die Ausstellung ist jeden Freitag mit vorheriger Terminbuchung öffentlich zugänglich.

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