Ausstellungsbesprechungen

"War eigentlich ein schönes Schiff..."

Es ist fast auf den Tag genau siebzig Jahre her, dass die »Wilhelm Gustloff«, ein mit ungefähr 7000 Flüchtlingen beladenes Schiff, am 30. Januar 1945 vor der Küste Westpommerns unterging. Günter Grass schrieb einen als »Novelle« bezeichneten Roman über diese Katastrophe, und jetzt zeigen Künstler aus Polen, Russland und Schweden Arbeiten zum Thema. Das Günter Grass Haus in Lübeck zeigt sie bis zum 27. September 2015 und Stefan Diebitz hat die kleine Ausstellung besucht.

Die Ausstellung ist wirklich international; einerseits wegen der Künstler, andererseits auch wegen der Orte, in denen sie gezeigt wird. Im vergangenen Jahr konnte man sie in Danzig besuchen, und später wird sie nach Kaliningrad und Schweden gehen. Dabei verändert sie sich selbstverständlich auch. In Lübeck kann das Grass-Haus aus seinem Bestand Seiten aus dem Manuskript, dem handschriftlich korrigierten Typoskript und endlich dem Computerausdruck des Romans zeigen, in Danzig dagegen war die originale Schiffsglocke der »Wilhelm Gustloff« zu sehen, die sich für einen Transport nach Lübeck als viel zu schwer erwies.

Die Ausstellungen des Grass-Hauses dienen meist der Begegnung von Kunst und Literatur, und manches Mal gelang diese Begegnung auch in einer sehr spannenden Weise. Aber nicht in dieser Ausstellung, denn im Grunde handelt es sich um kaum etwas Anderes als eine pädagogisch wertvolle Präsentation von Materialien zu dem Buch von Grass.

Die meisten Ausstellungsstücke sind mehr als Dokumentation denn als Kunst zu bezeichnen. Das gilt auch für die sonst äußerst eindrucksvollen Fotos, die die beiden schwedischen Fotografen Jonas Dahm und Magnus Petersson geschaffen haben. Dahm hat neben der »Wilhelm Gustloff« noch ein zweites Flüchtlingsschiff, die »Goya«, fotografiert, die in größerer Tiefe liegt und schon deshalb nicht so leergeräumt ist wie die »Wilhelm Gustloff«, die von der russischen Marine Anfang der fünfziger Jahre geplündert wurde. Die Bilder von der »Goya«, die größtenteils grün überwucherte, vom Fotografen stark ausgeleuchtete Alltagsgegenstände wie Schuhe oder ein Badezimmer zeigen, sind zwar auch ästhetisch ansprechend, aber vor allem dokumentarisch wertvoll. Dahms Foto der »Wilhelm Gustloff« zeigt das überwachsene, von den drei Torpedotreffern zertrümmerte Schiff auf dem Grund der Ostsee in 85 Meter Tiefe.

Magnus Petersson hat Wracks mit einem Seitensichtsonar aufgenommen und die Bilder später geschickt bearbeitet, nämlich zunächst so weit vergrößert, dass noch keine Pixel zu sehen waren, diese Bilder dann analog abfotografiert und noch einmal vergrößert. Diese Fotos zeigen nun die Wracks in einer Weise, wie wir sie niemals wahrnehmen könnten: es sind wirklich unheimliche Stätten des Unglücks in ewiger Dunkelheit. Bei dieser Gelegenheit muss man daran erinnern, dass beim Untergang der »Titanic« nicht mehr 1500 Menschen starben – das ist eine Zahl, die bei den Schiffsuntergängen Ende des 2. Weltkrieges mehrfach weit übertroffen wurde. Denn die Katastrophe der »Wilhelm Gustloff« war ja nicht das einzige Unglück dieser Art, sondern auch andere Flüchtlingsschiffe wie die »Goya« oder die »Cap Arcona« sanken in einem fast unfassbar kalten Winter mit Tausenden von Opfern in die Tiefe der See.

Interessant ist eine Videoinstallation des Russen Evgeny Umansky, bei der auf dem in zwanzig kleine Rechtecke unterteilten Bildschirm in bunter, rein zufälliger Folge Fotos zu sehen sind, die der Künstler von einem Denkmal aufgenommen hat, das dem russischen Marinekapitän Alexander Marinesko gewidmet ist – also eben jenem Mann, der einige Tausend wehrlose Menschen in den Tod geschickt hat. Wie konnte man ihn noch 1990 – aus diesem Jahr stammt das Denkmal – ehren? Allerdings muss man Marinesko insofern Gerechtigkeit widerfahren lassen, als er wahrscheinlich gar nicht wissen konnte, dass es sich bei dem Schiff vor ihm um ein Flüchtlingsschiff handelte. Immerhin hatte die »Wilhelm Gustloff« seit Jahren als Ausbildungsschiff im Hafen von Danzig gelegen und war auch entsprechend bemalt. Der stete Wechsel der Fotos auf der Videoinstallation soll das Zufällige und Unberechenbare der Geschichte symbolisieren.

Zu sehen sind auch die eher konventionellen Zeichnungen des Marinemalers Adolf Boch, der sich auf dem untergehenden Schiff befand, und von Günter Grass finden sich Rötelzeichnungen. Dazu kommt der Stein mit dem Umschlagmotiv seines Buches. Endlich kann man auch den sich wie Gedärm windenden Werkplan des Romans bewundern. Ursprünglich sollte das Buch »Schiffe versenken« heißen, der zweite Arbeitstitel lautete »Nachträglich – ein Bericht«, bis der Autor sich endlich für »Im Krebsgang. Eine Novelle« entschied. Man sieht, dass man diese Gattungsbezeichnung nicht allzu ernst nehmen kann.

Die Ankündigung der Ausstellung weckte in mir die Erwartung, dass es sich um Illustrationen des Romangeschehens handelte. Wie sollte man sich diese vorstellen? Wäre das Buch von Grass wirklich eine Novelle, nicht etwa ein kurzer Roman oder eine längere Erzählung, wäre es also ein klar strukturiertes, geschlossenes und dazu erzählerisches, nicht etwa reflektierendes Prosastück, dann wäre es einfach, sich eine Illustration vorzustellen. Schließlich gibt es in den meisten richtigen Novellen Dingsymbole wie in Boccaccios berühmter »Falkennovelle«; oder die Erzählung ist um ein auffallendes, scharf umrissenes Ereignis herum komponiert wie etwa Kleists »Erdbeben von Chili«. Aber eben dies passt so gar nicht zu Günter Grass, der nur ungern strenge Formen einhält und ökonomisch erzählt. Dem Ich-Erzähler dieses Buches geht es um den »Knackpunkt meiner Existenz«, um seine Geburt auf dem in eben diesem Moment torpedierten Flüchtlingsschiff »Wilhelm Gustloff«, das am 30. Januar 1945 vor dem heute polnischen Kolberg in den Fluten der Ostsee versank. In seinem sehr locker komponierten kleinen Roman versucht Grass, das Schicksal dieses Erzählers und dessen Mutter mit dem des Schiffes und dessen Namenspatron zu verknüpfen; dazu kommt ein Mord, den sein Sohn begeht. Dieser erinnert im Internet an den Nazi Gustloff wie auch an das nach ihm benannte Schiff, und endlich wird beiläufig auch des russischen U-Boot-Kapitäns gedacht. So geht es hin und her, oft willkürlich und sprunghaft, und die Kritik fand an dem Buch allerlei auszusetzen. Trotzdem gehört es in diesem Jahr in Schleswig-Holstein zu den Abituraufgaben. Das ist ja wohl der Ritterschlag für eine literarische Arbeit, der noch durch die Ausstellung ergänzt wird.

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