Buchrezensionen

Unter freiem Himmel. Landschaft sehen, lesen, hören, Kerber Verlag 2017

Mehr als nur ein Katalog ist der Begleitband zur Ausstellung »Unter freiem Himmel« in der Kunsthalle Karlsruhe. Der ist nämlich ein echtes Lese- und Hörerlebnis. Walter Kayser hat sich in diese Lese- und Klangwelt begeben.

Die Kraft alles Bildlichen liegt darin, dass es mit einem Mal da ist, schließlich gibt es kaum ein Gemälde, das den Gesichtskreis seines Betrachters sprengt. Mit unmittelbarer, absoluter Präsenz springt ein Bild ihn förmlich an.

Ganz anders die Sprache. Einen Satz müssen wir diachron verfolgen, wenn wir ihn lesend erschließen: Sprache entfaltet sich entlang der eigenen zeitlichen Gesetze. Und während sich eine Aussage entwickelt, windet sie sich in unterschiedlichste semantische Richtungen und gibt dann oft erst (wie dieser Satz) mit dem letzten Präfix, das den Konstruktionsbogen abschließt, ihren Sinn preis.

Doch der Unterschied täuscht. Auch beim Betrachten von Bildern wandern die Augen her und hin. Sie verflüssigen das Gegebene und überführen es in Handlung, narrative Prozesse, Geschichte. Schon die Präsensform der Verben bei der Beschreibung des Sujets verwandelt das vielleicht Jahrhunderte alte Kunstwerk, welches eingekeilt in seinen Rahmen an die Wand genagelt ist, in Bewegung. Ein Satz wie »Verfolgen wir den Weg in die Bildtiefe, so begegnen wir einem Bauern mit zwei Eseln, dem aus dem Schatten des Felsbogens gerade heraustretend, ein Mann mit einer Kiepe folgt« (S.152) macht aus den auf Leinwand festgehaltenen »stills« ein »Movie«: eine bewegte und bewegende Handlung. Der Maler, die dargestellten Häuser, Bäume und Figuren – alles mag längst in Staub zerfallen sein, aber die Sprache vergegenwärtigt sie im hic et nunc. So wird in den poetischen Texten die Betrachtung zu einem Selbstverständigungsgespräch, das auch und gerade in älteren Gemälden, die doch allzu oft in sattsam bekannte Schubladen und Verständniskategorien eingeordnet werden, plötzlich wieder ganz frisch und quicklebendig.

Beim Betrachten der hier zur Diskussion stehenden Karlsruher Landschaften gehen wir »unter freiem Himmel«, ohne den Innenraum zu verlassen. Die Gemälde – meistens, aber keineswegs durchweg »erstklassig« –, so dass einige sonst ein tristes Dasein in der Versenkung eines Depots verbringen müssten, werden nach einem Konzept zum Leben erweckt, das schon vor vier Jahren bestens funktionierte.

Damals hatte die Kuratorin Kirsten Voigt eine geniale Idee. Mit dem Titel »Unter vier Augen. Porträts sehen, lesen, hören« verwandelte sie das Museum in einen Raum, in dem Bild und Sprache sich gleichberechtigt begegnen sollten. Das Besondere war die Heterogenität der Autoren und die Vielfalt ihrer persönlichen Zwiesprache. In Form von Essays, poetischen Geschichten und Gedichten, verfasst von Hans Belting, Gottfried Boehm, Wilhelm Genazino, Brigitte Kronauer, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Silke Scheuermann, Lutz Seiler, Peter Sloterdijk, Martin Walser, Juli Zeh u. a. entstand zu der Ausstellung ein Lese- und Hörbuch, das zu den gelungensten Kunstbüchern der letzten Jahre gehörte.

Dasselbe Konzept also jetzt wieder, mit denselben Verfassern wie damals – zum Teil wenigstens. Wieder ist die Bandbreite groß: 53 Landschaftsgemälde aus sieben Jahrhunderten, 53 bedeutende Schriftsteller, Publizisten, Intellektuelle, Kunst- und Naturwissenschaftler, die sich mit den ihnen vorgeschlagenen Natur- oder Seelenlandschaften auseinandersetzen und begleitende Gedichte, Geschichten und Essays verfassen. Und wieder ist das Konzept aufgegangen.

Es sind auch in diesem, erneut vom Bielefelder Kerber-Verlag edierten Katalog ganz herrliche Texte zu finden, und man könnte bilanzieren: Je ungewöhnlicher und gewagter der Zugang und die subjektive Aneignung, desto besser! Ein zweites Fazit aber lautet: Diesmal sind die Beiträge leider doch etwas konventioneller ausgefallen. Bald stellt man beim Lesen oder Hören (denn alle Texte wurden von ausgezeichneten Sprechern auf CD eingelesen, was ja oft ihre Suggestivität noch steigert) fest: Der eigentliche Gewinn dieser Ausstellung / dieses Buches / dieses Hörbuches liegt darin, dass der Reichtum der kreativen Herangehensweise, insbesondere der gewagteren poetischen Freiheiten den Genuss am Betrachten der Bilder steigert.

…absolut nichts gegen Intelligenz! Intelligenz tut gut und ist tröstlich, gerade heutzutage! Auch nichts gegen die Erträge einer akribischen wissenschaftlichen Recherche, aber einige Kommentare sind (eben nur) im trockenen Kathederton gehalten und strotzen von Gelehrsamkeit. Oder es hat sich ein Liebhaber »schlau gemacht« und weiß Biografisches oder Erhellendes vom ikonografischen Hintergrund zu berichten, er untersucht das Bild nach Lichtverhältnissen, Komposition, Farbe - und eben allen Regeln der Kunst (-geschichte).

Inspirierender ist dann schon, wenn etwa der emeritierte Berliner Literaturwissenschaftler Norbert Miller eine Prosa zustande bringt, die als wohlgebautes und abgezirkeltes Sprachkunstwerk adäquat auf Carl Blechens »Blick auf den Monte Castiglione in Capri« von 1829 antwortet. Großartig auch, wie etwa der Hamburger Professor Frank Fehrenbach den erotischen Gehalt einer »Ruhenden Quellnymphe« aus der Cranach-Nachfolge in allen semiotischen Details aufschlüsselt oder der Stuttgarter Spezialist für Landschaftsmalerei Nils Büttner alle Register seiner Deutungskunst angesichts eines Joos de Momper zu ziehen versteht. – Das eigentlich Stupende ist aber das Betreten von neuen, unakademischen Pfaden, wenn die Betrachtung selbst zum Teil der Interpretation wird, wenn die Subjektivität nicht als das vermeintlich Unwissenschaftliche ausgeschieden, sondern zum produktivem Anreiz gemacht wird.

Unabgegoltenheit und Mehrdeutigkeit werden so als Qualitätsmerkmal von alter wie neuer Kunst ins Bewusstsein gehoben. Statt mit Erkenntnissen und Tatsachen zu prahlen, entwickelt sich mancher Text zu einem tastenden Selbstgespräch mit einer Kaskade von Fragen in erlebter Rede, die immer noch auf Antwort warten. Der Schweizer Romancier Linus Reichlin beginnt seine Betrachtung eines nächtlichen Brandes aus dem 18. Jahrhundert mit der Erinnerung an einen Buschbrand in Australien: »Wäre ich nicht in Alice Springs gewesen, hätte ich dieses Gemälde nicht verstanden« (S.136). Wenn das Kunstwerk so auf den Resonanzraum der eigenen Lebensgeschichte trifft, dann beginnt es zu klingen. Wenn, psychoanalytisch gesprochen, der Prozess von Übertragung und Gegenübertragung, jene immer wieder neu angestoßene hermeneutische Zirkelbewegung des Verstehens in Gang gesetzt wird, dann wird die Interpretation reicher, nicht »unwissenschaftlicher«. Es ist ja wirklich darüber zu streiten, wie weit ein Jacob van Ruisdael allegorisch, als anspielungsreiches Arrangement von sinnigen Bibelstellen zu lesen sei oder wie weit die erbauliche und moralische Belehrung die Eigengesetzlichkeiten einer Elementensprache nur verdeckt, diese unendliche Wandelbarkeit von Wolken, Wind und Gewässer.

Zwar gibt es, wenn man genau hinschaut, durchaus eine Tradition dieser freien Schreibweisen, auf die auch in ihrem Vorwort Pia Müller-Tamm kurz verweist (Rilke wäre hier in seinen zahlreichen Dinggedichten zu nennen oder an die genialen Kunstbetrachtungen in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands zu erinnern); dennoch, welch kreatives Potenzial liegt da brach!

Die Philosophin Angelika Krebs wählt etwa folgenden Einstieg: »Wir schreiben das Jahr 2117. Vor hundert Jahren fand in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe die große Landschaftsausstellung Unter freiem Himmel statt.« Sie bricht also die Reflexion über ein Max-Slevogt-Gemälde, welches 1921 flüchtig eine Pfälzische Landschaft einfing, indem sie den Betrachterzeitpunkt noch einmal im Stil des Science-Fiction-Genres um 100 Jahre in die Zukunft verschiebt und sich mittels dieses Brechtschen Verfremdungseffekts fragen kann, was eigentlich Landschaft damals und heute und für eine kommende Generation heiße. Eingestreut in ihre scheinbar assoziativen Verknüpfungen ist dann noch ein amüsanter persönlicher Reisebericht über einen Ausflug zum verfallenden Slevogthof oberhalb des Dorfes Leinsweiler, zur Ruine Neukastel und zum mutmaßlichem Standort der Staffelei, auf die sie ein »Wanderer vom Typ kletternder Zahnarzt« verweist.

Ganz ähnlich und dennoch ganz anders Max Eilings Einleitung zu der Heliogravüre »Landscape echoes« des jungen Zeitgenossen Daniel Roth von 2007: »Mal angenommen, Caspar David Friedrich, Paul Cézanne und Daniel Roth hätten sich in einem Paralleluniversum zum gemeinschaftlichen Landschaftsmalen verabredet? Während eines Sommerurlaubs hätten sich die drei früh morgens unterhalb des Montagne Sainte Victoire nahe Aix-en-Provence getroffen und darüber gesprochen, wie das Bergmassiv künstlerisch zu bewältigen sei. […] Der wortkarge Cézanne hat Heimvorteil. Er plädiert dafür, wenngleich ›sur le motif‹, nicht das Vorgefundene wiederzugeben, sondern den Gipfel hinter dem Gipfel zu malen […]« ( S. 342). So beginnt ein Diskurs, der leichtfüßig und tiefsinnig, ebenso erhellend wie unterhaltend daherkommt.

Mit der Gliederung der anregenden Fülle hat das Buch einige editorische Probleme. Man hat sich entschlossen, die Beiträge in kunstgeschichtlicher Abfolge zu präsentieren. Das schafft Ordnung. Zugleich ist der Leser aber doch auch an den Autoren interessiert, die er im Anhang findet, – verwirrenderweise aber in der alphabethischen Reihenfolge der von ihnen besprochenen Maler. Eine dritte Auflistung gibt es dann auf dem hinteren Innenblatt des Einbandkartons (hier aber ohne Seitenangaben). Das erleichtert nicht gerade die Orientierung. Besser wäre es vielleicht gewesen, die biografischen Kurzinformationen zu den Malern und Autoren als Vorspann zu den Texten abzudrucken. Nicht ganz gelungen erscheint es auch, dass die Gemälde zunächst in einem vergrößerten Ausschnitt abgebildet sind und dann erst in toto.

Trotzdem, einer wunderbar offenen und anregenden Form der Kunstbetrachtung wird hier wieder Tür und Tor eröffnet. Das Prozessuale der Aneignung, das Aufeinandertreffen von Kunstwerk und dem je eigene Resonanzraum, den der Betrachter mitbringt, eröffnet ein vielfältiges Spiel von Aussicht und Einsicht, von Nähe und Entfernung. Mutmaßungen auf Wanderungen nach innen und außen.

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