Buchrezensionen

Aatifi. News from Afghanistan, Kerber Verlag 2015

Wie Buchstaben muten Aatifis Bilder auf den ersten Blick nun wirklich nicht an. Und doch: die Kalligrafie ist die Grundlage seiner Kunst, die – wenn man diesen Hintergrund kennt– gerne einmal wie eine Nahaufnahme eines Textes wirkt, der sein Geheimnis nicht preisgeben will. Konsequent also, wenn die schönen Bilder Aatifis nun auch in Buchform erhältlich sind. Raiko Oldenettel ist begeistert!

»Wer ist Aatifi?«, höre ich mich jetzt noch sagen, als ich vor einem Jahr vor einer der Arbeiten des afghanischen Künstlers hängen geblieben war. Sie bestand aus zwei zusammengefügten Leinwänden und wirkte trotz reichlich weißer Fläche ungewöhnlich voll. Farben, Schwünge, Spritzer und Leerstellen machten den Raum unter sich aus. Ruhte sich mein Blick auf einer Kurve aus, dann nahm die nächste Schleife Kontakt auf. Bewegung und Erzählung, ohne dabei Unruhe zu verbreiten. Dass das etwas mit Kalligrafie zu tun haben sollte, das war sicherlich nicht meine erste Vermutung. Und dennoch war die bloße Erwähnung dieser Tatsache so einleuchtend, dass ich mich von dort an den Bildern auf eine ganz andere Weise widmete. Durch einen Katalog zum Beispiel. Aber können die Bilder dort ihre Wirkung entfalten? Und wie können uns die Beiträge helfen hinter den krassen Farben und wirren Linien einen antiken Formenkanon zu entdecken? Der Kerber Verlag hat die laufende Ausstellung des Künstlers mit dem Titel »Aatifi. News from Afghanistan« im Pergamonmuseum (Museum für Islamische Kunst – Staatliche Museen zu Berlin) durch einen Katalog begleitet und lässt mich nach der Lektüre mit großen Erwartungen an die Zukunft zurück. Sowohl für den Künstler, als auch für den Verlag.

Viele Kataloge orientieren sich im Format an den Maßen der Bilder. Manche an der Masse des Texts. Aber ein Format 30 x 30 cm, woran könnte sich das orientieren? An der Farbe, möchte man meinen, wenn man die erste Seite aufschlägt und sich der Umschlag, wie bei einer luxuriösen Klappbroschur, von einem tropisch klaren Blau zu einer unbeschriebenen Doppelseite in sattem Pink umblättern lässt. Das ist ein Trick, dachte ich da noch, das soll die Fotografie auf der Schmutzseite komplimentieren. Aber der Künstler, den ich in seinem Atelier zu später Stunde traf, kann mir mehr darüber erzählen. Zunächst das Blau, das dem Himmel über Kandahar ( ‏ندهار‎ ) gleiche und dann das Pink, das an den Saft frischer Granatäpfel erinnert. Heimatliebe. »Das Format aber?«, frage ich. Aatifi nickt und bestätigt, was die Textbeiträge vermuten lassen: es orientiert sich an seiner Vorstellung von Proportionen. So und so viele Seiten Text, so und so viele Bilder im Katalog. Diese Dicke dann im Kopf multipliziert ergab ein Format, dem der Verlag 30x30 nahe kommen konnte. Millimeterzugeständnisse, höre ich dabei heraus und muss bei der Akribie dieses Mannes an den Beitrag von Stefan Weber, Direktor des Museums für Islamische Kunst in Berlin, denken.

Er klärt uns einwandfrei auf und in kürzester Zeit weiß man genug, um die Perspektive auf die Bilder zu wechseln. Wieso auch zu weit ausholen? Weber schreibt Klartext. Die arabische Schrift ist eine sehr junge, vergleicht er sie mit anderen Systemen auf der Welt, die eine viel längere Zeit zur Reifung brauchten und von denen manche sich auch in den letzten hundert Jahren in der Handschrift kaum verändert haben. Sie hat sich in der Spätantike entwickelt und wurde durch den Einfluss des Korans in alle Himmelsrichtungen vorangetragen. Die Systematisierung dieser doch recht freien Schrift wurde im Wesentlichen durch den berühmten Kalligrafen und Minister am Bagdader Hof, Ibn Muqla, im ersten Jahrtausend vorgenommen. Ibn Muqla bediente sich dabei der Rohrfeder und des quadratischen Punktes als Maßeinheiten, von denen aus sich die Höhe und Breite aller weiteren Buchstaben ableiten ließ. Die sechs durch diese Überlegungen überlieferten Schreibstile sind heute noch die Basis jeder kalligrafischen Ausbildung in Afghanistan. Auch Aatifi lernte klassische arabische Schriften, doch er orientiert sich nicht an einer geschwungenen Schreibschrift, wie etwa unserem Sütterlin vergleichbar, sondern nutzt die sogenannte Thulut, eine monumentale Schrift, die nicht nur im Koran, sondern zur Verzierung von Gebäuden verwendet wurde und heute noch verwendet wird. Mit den großen Formaten seiner Leinwände im Hinterkopf sicherlich eine nachvollziehbare Entscheidung.

Und? Kann man dann diese kalligrafischen Zeichen noch lesen? Nein. Aber darum geht es auch nicht. Die semantische Bedeutung des Wortes zu entschlüsseln kann bei dieser Arbeitsweise ohnehin nicht mehr gefordert werden. Es geht um die Proportionssysteme, schreibt Venetia Porter, Kuratorin am British Museum in London. Sie glaubt, dass Aatifi seine Schrift bewusst aufbricht, zumindest visuell, sich dabei dennoch an die Regeln der Proportionen hält, und mit Farben und Schichtungen nach europäischen Vorbildern arrangiert. Eine Brücke wird geschlagen. Zwischen der zeitlichen Distanz von tausendvierhundert Jahren arabischer Kalligrafie und der Kunst der Gegenwart, als auch sechstausendsiebenhundert Kilometern von Kandahar nach Bielefeld. Ein greifbares Stück Heimat findet man an jeder Wand seines Ateliers. In den Bildern. Der Katalog zeigt hier neben dem Design seine zweite große Stärke. Die Qualität der Reproduktionen ist erstaunlich. Der Mut, den Bildern eine leichte Schattierung zu verleihen und sie somit vom Weiß des Papiers abzuheben ist eine richtige Entscheidung – erst so ergibt sich der Raum und unsere Vorstellung ohne das Museum drumherum von Neuem. Es wird gespielt, mit den Größen, mit Farben. Mit der Art sich den Katalog zu erarbeiten. Wieder kann man Doppelseiten aufschlagen, die kalligrafischen Landschaften des weit entfernten Afghanistans auf dem Schreibtisch ausbreiten. Da nimmt man direkt andere Kataloge mit farblich ähnlich bombastischen Motiven in die Hand und fragt sich: Wieso habt ihr das nicht gemacht? Hat man Angst, das könne dem Katalog und dem Zweck der Vermittlung den Rang ablaufen? Ihn zu einem reinen Designobjekt degradieren?

Aatifi ist ein Mann, der viel lächelt, und diese Frage zurückstellt. Es gehe ihm darum, gute Arbeit abzuliefern und Menschen glücklich zu machen. Diese Lebensfreude kann man in seinen früheren Arbeiten nicht unbedingt spüren. Er kommt aus der monochromen Richtung. Viel Tusche, viel Schwarz. Woher hat sich die Farbe in die Bilder geschlichen?, dachte ich noch. Woher dieser Rausch in den letzten Jahren? Janina Strathmeier, Bielefelder Kunsthistorikerin, sieht darin die Sehnsucht nach den Farben der Heimat. Aber auch die hervorragenden Möglichkeiten des kompositorischen Vorgehens, die sich mit einer breiteren Palette ergeben. Man blättert, während man ihren Text liest, auf zwei Seiten, wo Text und Abbildungen jeweils die obere und untere Hälfte ausmachen. Eine Abfolge von Körperbewegungen zeigt Aatifi vor einem seiner Gemälde. Er bewegt ununterbrochen den Pinsel, die Hand ist zu schnell für die Linse, und tanzt förmlich den Schwung der blauen Kurve auf der Leinwand nach. Und Strathmeier? Die liest man im Wechsel. Ihr Hinweis auf die Ausgewogenheit macht nun viel mehr Sinn. Wieder zeigt sich, wie der Designer des Bandes, Frank Rothe, allein auf dieser Seite eine hervorragende Idee hat umsetzen dürfen. Kerber sei Dank.

Der Katalog kann also eine ganze Menge. Einziges Manko ist die Vergleichbarkeit. Gibt es andere wie ihn? Wohin bewegt sich die kalligrafische Kunst in den letzten Jahren und was machen Galerien und Museen daraus? Aber vielleicht ist das ein Gebiet, auf dem noch wenig passiert ist und bei dem wir am Anfang stehen. Zumindest wurden meine anfänglichen Bedenken zerstreut. Dieser Katalog macht sich nicht vor, mit den anderen mithalten zu müssen, sondern hat die Beine in die Hand genommen und läuft auf der Überholspur. Man könnte so dreist sein und sagen, er lohne sich allein wegen der Farben, doch zeigt er auch mit Textbeiträgen aus Afghanistan in der zweiten Hälfte, dass er intim sein kann. Quasi über die Schulter von Aatifi schaut, bei dem mit hoher Wahrscheinlichkeit nun weniger Leute fragen werden: »Wer ist eigentlich Aatifi?«

Abschließend ein Zitat für alle, die wissen wollen, worum es ihm geht:
»Ich habe diese ungewöhnliche Pflanze – die skripturale Kunst – wie Wildwuchs behandelt, sie aus ihrem Umfeld gelöst, ohne sie zu isolieren, sie radikal beschnitten, ohne sie zu verletzen, sie hart gekreuzt und ihr neuen Nährboden zu Füßen geworfen. Sie ist nicht eingegangen, sondern kraftvoll und prächtig aufgeblüht. Vielleicht habe ich ihr damit ein neues Leben gegeben. Mal schauen …« Aatifi, Bielefeld, im Juni 2015

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