Buchrezensionen

Al-Taie, Yvonne: Daniel Libeskind. Metaphern jüdischer Identität im Post-Shoah-Zeitalter, Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2008.

Mit ihrer Publikation „Daniel Libeskind. Metaphern jüdischer Identität im Post-Shoah-Zeitalter“ widmet sich Yvonne Al-Taie einem nicht nur kunstgeschichtlich bedeutenden, sondern zugleich transdisziplinär aussagekräftigen Themenkomplex. Doch wie geht man an ein solch vielschichtiges Werk, wie dem von Daniel Libeskind (*1946), ganz konkret heran?

Bereits sein Werdegang zeigt, dass er nicht einfach in eine Schublade gesteckt werden kann: Studierte er in Israel und New York zunächst Musik, später dann Malerei und Mathematik, so war es letzten Endes doch das Studium der Architektur, in das er sein ganzes Herzblut fließen lassen konnte – allerdings nicht ohne den Einfluss anderer Disziplinen. Und so erwarb er sich im Laufe der Jahre den Namen eines kritischen Architekten, der nicht auf Entwürfe für Gebäudekomplexe zu reduzieren ist, sondern gleichzeitig Bühnenbilder und Installationen entwirft, die neben ihrem ästhetischen Reiz eine symbolische Bedeutung besitzen.

Bereits in seinem Vorwort weist Christoph Wagner auf den interpretatorisch diffizilen Zugang zu Daniel Libeskinds Architekturen hin, die „mehr als eine hermeneutische Herausforderung“ darstellen, da sie „eine ethische Verpflichtung [tragen], der auch die Kunstwissenschaft nicht einfach ausweichen kann: Ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben kann [Adorno], ist nicht mehr die Frage, die Frage ist“, so Wagner, „wie man diese ›Gedichte‹, die Künstler, Architekten, Poeten in den unterschiedlichsten Formen und Medien ›geschrieben‹ haben, für die Gegenwart immer wieder lesbar machen kann?“

Yvonne Al-Taie sucht nun, unter Zuhilfenahme philosophischer und literarischer Denkansätze von Jacques Derrida über Walter Benjamin, Paul Celan bis hin zu James Joyces, Libeskinds Architekturkonzepten nachzuspüren und sie zu entschlüsseln – sozusagen für den Betrachter lesbar zu machen. Dabei operiert die Autorin mit der „architektonischen“ Metapher, die beim Erschließen der in Bauten (aus Stein, Holz oder Beton) eingeschmolzenen jüdischen Stoffe behilflich sein soll. Den Begriff der Metapher gebraucht sie deshalb in seiner kunsthistorischen Bedeutung, „wo er jene gestalterischen Phänomene beschreibt, die in ihrer Formgebung […] auf einen Inhalt verweisen, der jenseits des formal Dargestellten liegt, jedoch anders als beim Symbol auf keiner bereits fest verankerten Form-Bedeutung[s]-Relation basiert, sondern diese erst neu vom Künstler intendiert und vom Interpreten erschlossen werden muss.“ [Al-Taie]

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Durch den umfangreichen Forschungsbericht, der die Vielstimmigkeit wissenschaftlicher Untersuchungen zum Œuvre Libeskinds veranschaulicht und bisweilen kritisch hinterfragt sowie die Einordnung des Werkes in die Architekturgeschichte und –theorie, öffnet uns die Autorin die Pforte zum Schaffen des Architekten. Sie unterscheidet dabei zwischen drei Bereichen, die den Umgang mit Judentum und der Shoah in Libeskinds architektonischer Arbeit aufweisen. Während sie im ersten Kapitel den Fokus auf „die Stadt als raum-zeitlicher Orientierungspunkt in der Biographie ihrer Bewohner und deren Bedeutung für jüdische Bürger“ legt, zeigt sie im zweiten Teil, dass „die Geschichte als architektonischer Bezugspunkt [...] durch die Shoah einen fundamentalen Bruch erfährt“. Das abschließende Kapitel widmet sich dann dem Aspekt des Buches und der Schrift, die Yvonne Al-Taie „als Paradigma für die Betrachtung von Architektur unter besonderer Berücksichtigung der Schrift in der jüdischen Tradition“ heranzieht. Diese drei Themenblöcke sind jedoch nicht isoliert voneinander zu betrachten, da ein Werk meist mehrere Aspekte in sich vereint.

Daniel Libeskinds Projekte, wie etwa das Jüdische Museum Berlin, das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück oder auch die Masterpläne, vermitteln uns „ein Konzept von Stadt, das von einer subjektiven Stadterfahrung ausgeht, und häufig literarische Werke als Quellen einer solchen Perspektive“ [Al-Taie] zu Grunde legt. Metaphorisch lehnt der Architekt dabei Gebäude oder ganze Stadtzonen an einer subjektiven Topographie an, die die Stadt „in ein größeres geographisches Gefüge einordnet“ [Al-Taie]. Die Autorin spricht jene Deutung von Stadt an, die Libeskind formal in einer Art Linien-Matrix umgesetzt hat. Sie erklärt, dass diese Matrix das Ergebnis des Verständnisses von Stadt als einem Wohnort von Menschen sei, deren biographische Bezüge zu unterschiedlichen Orten auf Stadtplänen oder Landkarten nachvollzogen werden könne. Das bedeutet, dass Libeskind „die Stadt und das geographische Koordinatensystem auf das menschliche Leben hin“ transzendiert und folglich das urbane Gefüge zu einem Ort avanciert, „an dem Leben geschieht“, wie es Al-Taie so treffend formuliert. Da diese „unsichtbaren Linien“ auf keinem Plan zu lesen sind, muss man ihnen vorsichtig nachgehen, um sie zu entdecken und schließlich verstehen zu können. Am Beispiel des Jüdischen Museums Berlin erklärt die Autorin dem Leser – einfühlsam und logisch nachvollziehbar – das Liniennetz als Metapher einer „verschüttete[n] gemeinsame[n] Geschichte jüdischer und nicht-jüdischer Berliner Bürger […], welche durch Verfolgung und Vernichtung im Holocaust zerstört worden ist.“ Indem Daniel Libeskind die Adressen von Berliner Bürgern, wie beispielsweise Rahel Varnhagen, Paul Celan oder Walter Benjamin auf dem Stadtplan miteinander verband und so ein Liniengewebe aus Beziehungen entwarf, strukturierte er die Stadt neu und integrierte die gelebte Geschichte sozusagen in eine zukunftgerichtete Planung.

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Im zweiten Kapitel dann legt Al-Taie den Fokus auf Libeskinds Auseinandersetzung mit der Shoah, wobei sowohl dessen Geschichtsverständnis als auch die Bedeutung der Leere in seinem Denken eine eingehende Betrachtung erfahren. Auf der einen Seite nimmt der Architekt Bezug zu Walter Benjamins Erinnerungsbegriff und denkt dessen Idee einer „Stillstellung des Geschehens“, des „Heraustretens einer Epoche aus der Geschichte weiter“ [Al-Taie]. Auf der anderen Seite scheint er sich an Jean-Paul Sartres existentialistischem Konzept des Nichts anzulehnen, um zu seinem „Verständnis der Leere als Abwesenheit“ zu gelangen. Jacques Derrida beschreibt folglich zwei unterschiedliche Formen von Leere im Werk des Architekten: Die eine bilde sich „generell aus der Struktur der Diskontinuität. Die andere ist dieser sehr entschieden versiegelte Raum, den niemand erfahren oder betreten kann.“ Während die erste Leere, „jener Void, der dem Sartre’schen Konzept des Nichts ganz ähnlich ist“ [Al-Taie], als Resultat der geschichtlichen Ereignisse verstanden werden kann, begegnet uns der architektonische Raum als jene zweite Leere, die gemäß Derrida, nicht unabhängig von der Ersteren gedacht werden kann – die Leeren bedingen sich gegenseitig.

Dieses zentrale Kapitel ist in vielen (theoretischen) Passagen für den Leser sicher nicht immer einfach zu erschließen, doch gelingt es der Autorin schließlich mit Hilfe anschaulicher Beispiele Libeskinds Deutung der Shoah von der Erinnerung aus, verständlich zu machen. Denn Erinnerung soll Vergangenheit so bewahren, „dass aus ihr wegweisende Perspektiven für die Zukunft erwachsen können.“ [Al-Taie] Da die Shoah nicht mehr als eine historische Kontinuität gedacht werden kann, spricht Libeskind von einem Bruch innerhalb der Geschichte, der über das bislang von ihm beschriebene  Geschichtsdenken hinausweist: Mit Hilfe der „Idee der Leere, die für die Unwiederbringlichkeit zerstörten Lebens und zerstörter Kultur in Deutschland steht“, so Al-Taie, kann der Architekt die Vorstellung der Verschmelzung von Anfang und Ende in sein Geschichtskonzept integrieren: „Die Shoah ist sowohl Ende als auch (Neu-)Anfang der Geschichte aus jüdischer Perspektive“ und „den verschiedenen Projekten Libeskinds für Holocaust-Mahnmale und Gedenkstätten liegt stets dieses geschichtliche Denken zu Grunde. […] Die Behandlung der Shoah-Thematik“ zeichne sich in jenen Arbeiten dadurch aus – so das Fazit der Autorin –, „dass der Blick nicht rückwärtsgewandt bleibt, sondern ausgehend von der eigenen Gegenwart auf die Zukunft gerichtet ist.“

Im abschließenden Kapitel „Buch und Schrift als Symbole jüdischer Tradition in Libeskinds Architektur“ gibt uns die Autorin Einblick in Libeskinds architektonische Auseinandersetzung mit Sprache und Schrift, die sich sowohl aus einer Beschäftigung mit Vorläufern aus dem 18. und frühen 20. Jahrhundert speist als auch im Kontext des Dekonstruktivismus zu sehen ist, der nicht selten die jüdische Dimension des Schriftverständnisses involviert. In einer kurzen Zusammenfassung, die übrigens jedem der drei Hauptkapitel angehängt wurde, gelangt Yvonne Al-Taie zu dem Ergebnis, dass Libeskind Schrift im Rahmen einer religiösen (jüdischen) Mystik betrachtet: „Der Buchstabe und seine Bedeutung werden als Einheit gedacht, wodurch […] dem Wort heilige Qualität zukommt. Von dieser Voraussetzung ausgehend, kann die physische Form des Buchstabens ins Architektonische übertragen werden“ und somit „die gebaute Form zum Träger transzendenter Bedeutung erhoben“ werden.

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Die Publikation überzeugt zunächst durch die Vielzahl der Abbildungen, die – wenn auch nur in schwarz-weiß – in hervorragender Druckqualität wiedergegeben sind. Gerade bei dreidimensionalen Werken ist es maßgeblich, sie aus unterschiedlichen Perspektiven einzufangen, um der Vielschichtigkeit Rechnung tragen zu können. Eines Lobes wert sind des Weiteren der klar strukturierte, wissenschaftlich fundierte Textkorpus mit den ausführlichen Werkanalysen sowie das sprachlich hohe Niveau der Autorin. Denn mit dieser Sprache, die sich nicht in wissenschaftlich hochgeschraubten Formulierungen verliert, gelingt es Yvonne Al-Taie, komplizierte Sachverhalte pointiert zu erfassen und dem Leser verständlich zu vermitteln.

Fazit: Yvonne Al-Taie leistet mit ihrer Monographie „Daniel Libeskind. Metaphern jüdischer Identität im Post-Shoah-Zeitalter“ zweifellos einen fundamental wichtigen Beitrag zur Libeskind-Forschung. Ob in Händen von Studenten, Wissenschaftlern oder einem an Architektur der Gegenwart interessierten Publikum, diese Publikation ist der Ariadnefaden, der den Leser wohl organisiert durch das dicht verzweigte Werklabyrinth des international agierenden Architekten leitet. Daher kann sich der Leser auf eine spannende, tiefgründige und informative, vor allem aber bereichernde Lektüre freuen. Da Libeskinds architektonische Arbeiten in ihrer Erscheinungsform meist verschlüsselt und infolgedessen schwer zugänglich sind, bedarf es einiger Mühe, jene Metaphern lesbar zu machen – und genau diese Aufgabe hat die Autorin wunderbar gelöst. Denn ist der Code erst einmal geknackt, begegnen uns Inhalte, die poetisch anmuten, die von einer intensiven Beschäftigung Libeskinds mit geisteswissenschaftlichen Traditionen zeugen und den Betrachter nicht selten zum intensiven Nachdenken animieren. Aus diesem Grund kann das Werk, das dem Preis-Leistungs-Verhältnis gemäß geldbörsenfreundlich ist, uneingeschränkt empfohlen werden!

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