Nachdem das Wuppertaler Von der Heydt-Museum im Jahr 2006 den Wegbereitern des französischen Impressionismus, der sogenannten Schule von Barbizon, eine große Retrospektive gewidmet hatte, gefolgt von Auguste Renoir (2008), Claude Monet (2009/10) und dem Post-Impressionisten Pierre Bonnard (2010/11), kann nun in den Räumlichkeiten am Turmhof ein weiterer wichtiger Vertreter impressionistischer Malerei besichtigt werden – Alfred Sisley. Rainer K. Wick ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen.
Obwohl er zum inneren Kreis der Impressionisten gehört und in kaum einer bedeutenden Impressionismus-Sammlung fehlt, ist er zugleich doch einer der großen Unbekannten dieser künstlerischen Bewegung. Sein Werk ist bis heute in weitaus geringerem Maße erforscht als die Kunst von Manet, Monet, Renoir oder Pissarro, und über sein Leben ist trotz der in den 1990er Jahren in englischer Sprache erschienenen kritischen Biografie von Richard Shone nur relativ wenig bekannt.
1839 als Sohn eines erfolgreichen englischen Geschäftsmanns in Paris geboren und als junger Mann von den Eltern finanziell unterstützt, konnte Sisley in den Sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Kunststudium aufnehmen und danach ganz unbeschwert seiner eigentlichen Passion, der Freilichtmalerei, frönen. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 brachte für Sisleys Vater den geschäftlichen Ruin und für den Sohn Alfred das Ende seines finanziell sorglosen Daseins. Fortan musste er angesichts der Unverkäuflichkeit seiner Bilder sein Leben in großer Armut fristen, die „Freude am Malen“, wie ein Zeitgenosse feststellte, verließ ihn dennoch nie.
Seit den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts fand sie in subtil gemalten, lichten, farblich meisterhaften Landschaftsdarstellungen aus dem Pariser Umland ihren Niederschlag, die von einem lyrischen Grundton durchzogen sind. Der Bogen spannt sich in der Wuppertaler Ausstellung von den frühen, noch recht tonigen Bildern, die Sisley im Wald von Fontainebleau unter dem Einfluss der Künstler von Barbizon und vor allem Corots schuf, bis hin zu Arbeiten, die bereits den heraufziehenden Jugendstil erahnen lassen, so etwa die karge »Winterlandschaft« (1880-85, National Gallery of Scotland, Edinburgh) mit ihrer Flächenbetonung und ihren klaren grafischen Akzenten oder »Sonnenuntergang bei Moret« (1892, Sammlung Würth, Künzelsau) mit der Silhouette sich im Wasser spiegelnder Pappeln.
Hinreißend ist die geradezu physisch spürbare atmosphärische Frische vor allem der Flusslandschaften mit ihrer Dominanz reiner Blautöne, die den Himmel und das Gewässer bestimmen. Als herausragendes Beispiel sei nur das Gemälde »Die Brücke von Villeneuve-La-Garenne« (1872) aus der „heroischen“ Phase des sich entfaltenden Impressionismus erwähnt, das aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art entliehen werden konnte. Charakteristisch für zahlreiche Landschaftsbilder Sisleys ist der auffallend tief platzierte Horizont, überspannt von einem großen, mehr oder minder bewölkten Himmel, dessen ungemein lebendige malerische Behandlung als unmittelbarer Nachhall der Gemälde seines großen englischen Landsmanns John Constable anmutet. Sowohl die Wolkenhimmel als auch die Wasseroberflächen suggerieren regelmäßig den Eindruck von Bewegung – ganz im Sinne des bekannten Diktums von Claude Monet: »La nature ne s’arrête pas«, die Natur steht nie still. Insofern hat Gerhard Finckh, der Direktor des Wuppertaler Museums, zu Recht darauf hingewiesen, dass Sisley die Bewegung im Bild, zu „seinem“ Thema gemacht habe.
Dies gilt selbstverständlich nicht nur für spezifische Naturphänomene wie Wasser und Wolken, sondern ganz allgemein für das vibrierende Licht, das Sisley – wie andere impressionistische Maler auch – mit Hilfe fleck- und kommaartig aufgetragener Pinselstriche in Farbmaterie zu verwandeln suchte.
Sisley hat in verschiedenen Gemälden des Jahres 1876 das Thema Hochwasser durchvariiert, was sich für einen Impressionisten dank der Tatsache, dass Himmel und Erde buchstäblich ineinander verschwimmen, als ein ideales Thema herausstellte. Zwar zeigt Wuppertal die etwas brave Fassung »Überschwemmung in Marly« aus dem Bostoner Museum of Fine Arts, doch fehlen bedauerlicherweise die beiden »klassischen«, an malerischer Delikatesse kaum zu überbietenden Überschwemmungsbilder aus Port-Marly – einmal bei praller Sonne, einmal bei stark bewölktem Himmel – , die sich im Besitz des Pariser Musée d’Orsay befinden, oder auch ein anderes Bild aus dieser Serie, das im Musée des Beaux-Arts in Rouen beheimatet ist.
Zauberhaft sind die fein nuancierten Schneelandschaften mit ihren differenzierten silbrig-farbigen Graus, etwa »Schnee in Louveciennes« (1876) aus dem Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen, »Louveciennes im Winter« (1876) aus der Stuttgarter Staatsgalerie oder »Schnee in Verneux-Nadon« (1880) aus dem Pariser Musée d’Orsay.
Ähnlich obsessiv, wie Monet die Kathedrale von Rouen zu den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, bei den unterschiedlichsten Lichtverhältnissen sowie bei allen nur erdenklichen Witterungsverhältnissen „porträtiert“ hat, hat auch Sisley die gotische Kirche Notre-Dame von Moret-sur-Loing immer wieder gemalt – am Morgen bei Regenwetter, im abendlichen Sonnenlicht, am Nachmittag, bei Frost. Das Wuppertaler Museum zeigt allein sechs Gemälde (von vierzehn) mit diesem Motiv, die deutlich machen, dass es dem Künstler nicht primär um die Architektur selbst zu tun war, sondern eher um die malerische Wiedergabe der Licht-, Schatten- und Farbphänomene, wie sie sich auf den Mauern dieses Bauwerks im steten Wechsel beobachten ließen. Während Monet in seiner Kathedral-Serie die Formauflösung radikal zugunsten reiner Farbeindrücke vorantrieb, mochte Sisley offenbar nicht so weit gehen, die tektonische Struktur des Gebäudes mit ihren Baugliedern (vor allem den horizontalen, für die Gotik eher untypischen Gesimsen) zu vernachlässigen. Insofern präsentiert sich Sisley im direkten Vergleich mit dem langjährigen Künstlerfreund Claude Monet doch als der wesentlich weniger progressive Maler.
In Moret-sur-Loing, mit seinem Fluss und Kanal ein überaus idyllischer Ort in der Nähe von Fontainebleau, hatte sich Sisley zu Anfang der Achtziger Jahre niedergelassen.Wie zuvor Louveciennes, Marly oder Billancourt bot ihm Moret nun in unerschöpflicher Fülle jene Motive, die ihn berühmt gemacht haben, die zugleich aber auch der Grund dafür sind, warum er nicht jene Beachtung gefunden hat wie Monet, Renoir und andere prominente Meister des französischen Impressionismus. Der Sisley-Biograf Richard Shone nennt drei Gründe, warum dieser Künstler neben anderen impressionistischen „Hauptdarstellern“ eher eine „Nebenrolle“ gespielt habe: erstens die schwankende Qualität seiner Arbeiten (was auch in der Wuppertaler Ausstellung erfahrbar ist), zweitens die Tatsache, dass Sisley als Person nur schwer greifbar ist, und drittens, dass er sich auf ein einziges Sujet beschränkt hat, mit anderen Worten, dass er „ausschließlich Landschaftsmaler“ war, dessen Kompositionen, so der Katalog, „unspektakulär und häufig nüchtern in ihrer sparsamen, geradezu minimalistischen Komposition“ waren. Gerade das aber ist es, was sie aus heutiger Sicht so modern erscheinen lässt. Und damit ist auch die Frage „Warum Sisley?“, die Gerhard Finckh in dem schönen und informativen Katalog diskutiert, um diese große und großartige erste Retrospektive des Malers in Deutschland zu rechtfertigen, zumindest zum Teil beantwortet.