Ausstellungsbesprechungen

Alice im Wunderland der Kunst, Hamburger Kunsthalle, bis 30. September 2012

Seit Generationen fasziniert die seltsame Geschichte der kleinen Alice Kinder wie Erwachsene. Auch Künstler ließen sich von diesem Stoff inspirieren und haben in der Hamburger Kunsthalle ein ganz eigenes Wunderland geschaffen. Folgen Sie Rowena Fuß durch den Kaninchenbau!

Es war einmal ein kleines Mädchen, das einschlief, als die Schwester ihr etwas vorlas. Sie träumte von einer eigenartigen Welt, in der Tiere sprechen können und verrückte Teepartys feiern, man ständig schrumpfen oder wachsen muss und für den Klau eines Törtchens einen Kopf kürzer gemacht wird. Noch dazu war diesem Traumland mit der etablierten "Erwachsenenlogik" nicht beizukommen.

Gerade diese Denk- und Sprachspiele sind es, die den Reiz des Kinderbuchklassikers »Alice im Wunderland« ausmachen. Das breite Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten und die vielfältigen Bezüge der Carrollschen Erzählung zur Geistesgeschichte, Logik und Philosophie bilden die ideale Vorrausetzung für eine weitere künstlerische Bearbeitung. Und so eröffnet die Bandbreite an präsentierten Gemälden, Skulpturen, Grafiken, Fotografien, Filmen und Rauminstallationen dem Besucher ganz undogmatisch die unterschiedlichsten Zugangsmöglichkeiten zum Alice-Stoff. Jeder kann sich in der Titelheldin wieder erkennen. So viel schon vorab: Es ist eine höchst unterhaltsame Weltenreise für die ganze Familie!

Lewis Carroll alias Charles Lutwidge Dodgson, ein Mathematikprofessor, Schriftsteller, Fotograf und Kunstsammler, erfand die Geschichte während einer Bootsfahrt 1862 mit der kleinen Alice Liddell, dem realen Vorbild für die literarische Version. Und so beginnt die Ausstellung in einem fleischrosa Raum mit Porträtfotografien von eben dieser Alice.

Ihren Porträts stehen Gemälde der Präraffaeliten gegenüber. Sie wirken wie Andachtsbilder, in der die Kindheit verehrt, mystifiziert und idealisiert wird. Etwa in »Erwachen« (1865). John Everett Millais benutzte seine zweite Tochter Mary als Modell für das Bild eines jungen aus dem Schlaf geschreckten Mädchens. Vielleicht hat sie der Vogel im Käfig rechts über ihr mit seinem Gesang aufgeschreckt. Vielleicht auch ein seltsamer Traum. Man weiß es nicht. Millais hat mit äußerster Präzision ihren Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung sowie die zerknitterte Decke und deren Quasten festgehalten. Beginnend mit dem dunkelbraunen Hintergrund, der vom Messington des Bettgestells abgelöst wird und schließlich in die unterschiedlichen Weißnuancen des Bettzeugs übergeht, zeugen die Farbverläufe von einem kathartischen Moment: Der Anspannung aufgrund einer seltsamen Begegnung folgt die Erleichterung des Mädchens, ihr entflohen zu sein.

Dieser Wechsel zwischen den Realitätsebenen kennzeichnet weite Bereiche der Schau. Millais’ Bild scheint die Sektion »Alice im Theater« vorwegzunehmen. Seit der ersten öffentlichen Inszenierung 1876 in London wurde ihre Geschichte in zahlreichen Bühnenstücken und Filmen adaptiert. In der zeitgenössischen Kunst griff John Isaacs das Motiv eines Alice-gleichen zu einer geheimnisvollen Reise aufbrechenden Mädchens vor dem Theatervorhang auf. Ihr Übergang zwischen Bühne und Backstage erinnert an Alices Wandeln zwischen den Welten.

Im angrenzenden Raum kann man dies anhand einiger Stummfilme verfolgen — insbesondere in einer Interpretation des Stoffs von 1923. Diese arbeitet mit der Montage von Zeichentrick- und Realfilm. Mittels Überblendung wird ein reales Mädchen in ein gezeichnetes Wunderland kopiert. Dort verpasst sie u.a. einem Rudel Löwen drei Mal eine kräftige Abreibung, bevor sie in eine Schlucht springt und aus ihrem Schlummer erwacht.

In Gedanken noch bei den Wunschträumen eines Kindes geht es nun in die blaue Sektion »Alice als Symbolgestalt für die Surrealisten«. Besonders der deutsche Surrealist Max Ernst befasste sich mit der Geschichte von Carroll. In seinem düsteren Gemälde »Alice im Jahr 1941« spiegelt sie das künstlerische Exil während des 2. Weltkriegs.

An eine Art innere Emigration erinnert ein Zeichentrickfilm von Salvador Dali und Walt Disney mit dem Titel »Destino (Schicksal)«, der 1946 begonnen, aber erst 2003 vollendet wurde. Er zeigt eine wüstenähnliche Einöde mit verschiedenen Elementen aus Dalis Gemälden. Inmitten dieser Landschaft tänzelt eine Ballerina, die sich einige Male verwandelt: Ihr Kopf wird mal zu einer Pusteblume, später zu einem Basketball. Dies geschieht parallel zur Wandlung ihres Geliebten von einer Kronos-Brunnenstatue zu einem All-American-Sportsboy. So mischen sich alte und neue Welt, Mythos und Moderne.

Mit den »Metamorphosen von Sprache, Raum und Körper« geht es im anschließenden dunkelgrauen Raum weiter. Gezeigt wird eine filmische Inszenierung von Gary Hill: Ein Dialog zwischen einem Mädchen im Alice-Kostüm und ihrem Vater. Stockend tragen sie sinnfrei zusammengesetzte, rückwärts aufgenommene und dann vorwärts abgespielte Textfetzen aus »Alice hinter den Spiegeln« (die Fortsetzung der ersten Erzählung) und Texten zu Wahrnehmungstheorien von Gregory Bateson vor. Man fühlt sich an die Nonsensrätsel des Kinderbuchs erinnert, beispielsweise, was ein Rabe und ein Schreibtisch gemeinsam hätten. Undenkbar, hierfür eine Lösung zu finden.

Carroll ging es bei diesen Rätseln vermutlich mehr um die geistige Offenheit, Dinge in neuer Beziehung zueinander denken zu können. Eine Forderung, die auch die Surrealisten immer wieder stellten. Wie auch immer. Künstler schöpfen aus unzusammenhängenden Gedanken, Worten, Dingen und Lebewesen so manches Mal Inspiration für ein konkretes Werk.

Mit diesem Stichwort im Hinterkopf stellt man sich schließlich vor »White Alice (After Lewis Carroll)« (1989) von Tim Rollins und K.O.S. Zu sehen ist eine große Leinwand, auf die Textseiten aus der Geschichte geklebt wurden. Darüber befestigten die Künstler weiße DIN A4-Seiten, so dass nur ein schmaler Textrahmen übrig bleibt. Also: Versenken Sie sich in ihr eigenes Wunderland!

PS: Zur Fortsetzung der Geschichte geht es eine Etage höher. Dort taucht Susanne Hesselberg gleich rechts vom Eingang in den Spiegel ein. Machen wir es genauso. Im „Spiegelhaus“ gibt es zahlreiche filmische Adaptionen des Alice-Themas zu sehen. Makaber ist eine Videoarbeit von Samantha Sweeting, die einen toten Hasen im Gras zeigt, der von zwei Händen zum Laufen gebracht wird.

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