Buchrezensionen

Angelika Weißbach (Hrsg.): Wassily Kandinsky – Unterricht am Bauhaus. Vorträge, Seminare, Übungen 1923-1933, Gebr. Mann Verlag 2015

Endlich, so möchte man sagen, liegt eine Buchpublikation vor, die Wassily Kandinskys Unterricht am Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin detailliert dokumentiert. Anknüpfend an seine Besprechung des vom Bauhaus-Archiv Berlin herausgegebenen Katalogbuches »Wassily Kandinsky. Lehrer am Bauhaus« im Jahr 2014 hat Rainer K. Wick das nun erschienene zweibändige Quellenwerk zur Lehrtätigkeit Kandinskys am Bauhaus unter die Lupe genommen.

Dass Kandinskys Unterricht am Bauhaus von eminentem Einfluss nicht nur auf die Schüler dieser bedeutendsten Schule für Gestaltung der Zwischenkriegszeit in Deutschland gewesen ist, sondern weit darüber hinaus, ist allgemein bekannt. Maßgeblich hat dazu der 1926 veröffentlichte Band 9 der Bauhaus-Bücher, »Punkt und Linie zu Fläche«, beigetragen, der nach dem Zweiten Weltkrieg in einer typografisch veränderten, von Max Bill besorgten Ausgabe in zahlreichen Auflagen ein breites Publikum erreichte und inzwischen sogar in seiner Originalversion als pdf verfügbar ist. Bei »Punkt und Linie zu Fläche« handelt es sich um ein Kondensat von Teilen der Lehre Kandinskys, das allerdings kaum einen vollständigen Eindruck vom Unterricht des Künstlers und langjährigen stellvertretenden Bauhaus-Direktors zu vermitteln vermag. Kandinsky war elf Jahre, von 1922 bis 1933, Lehrer am Bauhaus, und um dem Facettenreichtum seines Unterrichts gerecht zu werden, waren im Jahr 1978 Unterrichtsaufzeichnungen des Künstlers unter dem Titel »Cours du Bauhaus« in französischer Sprache publiziert worden (Biblióthèque Médiations, Paris). Eingeleitet von Philippe Sers und ins Französische übersetzt von den ehemaligen Bauhaus-Schülern Suzanne und Jean Leppien, folgte diese Edition aber weder dem zeitlichen Kontinuum, noch war sie thematisch geordnet. In einem Brief an den Verfasser der vorliegenden Besprechung vom 14.11.1980 teilte Jean Leppien zum Editionsprinzip folgendes mit: »Ich habe die Reihenfolge der Manuskript-Blätter so belassen, wie sie (vermutlich von Kandinsky selbst) numeriert waren. Es gibt im Manuskript keine zeitliche oder thematische Folge, um so mehr als Kandinsky zweifellos niemals an eine Veröffentlichung seiner Vorlesungsnotizen gedacht hat. Es wurden weder Auslassungen noch Ergänzungen vorgenommen, und vor allem haben wir vermieden, selbst holperige oder unvollständige Formulierungen oder Sätze in eine leichter lesbare Sprache zu bringen, die eine Verfälschung dargestellt hätte.« Und Suzanne Leppien bemerkt in Nina Kandinskys Buch »Kandinsky und ich« (1976): »Die Vorlesungsmanuskripte, die ich mit meinem Mann Jean Leppien kürzlich ins Französische übersetzt habe, zeigen, daß Kandinsky nach ganz bestimmten Methoden und Regeln seinen Unterricht gestaltete. [...] Was Kandinsky in diesen Vorlesungsheften, die die Jahre 1926 bis 1931 umfassen, notierte, ist oft sehr unklar, mit vielen Abkürzungen durchsetzt und keineswegs so korrekt geführt wie etwa sein Hauskatalog.«

Diese kurzen Zeilen mögen die schwierige Ausgangslage andeuten, der sich die Autorin des kürzlich erschienenen, monumentalen zweibändigen Werkes »Wassily Kandinsky – Unterricht am Bauhaus. Vorträge, Seminare, Übungen 1923-1933« gegenübersah. Auf der Grundlage umfangreicher Materialien, die sich im Getty Research Institute in Los Angeles und in der Bibliothèque Kandinsky im Centre Pompidou in Paris befinden, ist es der Kunsthistorikerin Angelika Weißbach gelungen, aus einem »Patchwork« aus oft losen Blättern, in dem »Kandinskys Ordnung nicht mehr erkennbar war«, ein geordnetes und übersichtliches Ganzes entstehen zu lassen, das als schlüssige (Teil-)Rekonstruktion des Unterrichts von Kandinsky am Bauhaus gelten kann. Dass es einige Lücken und Fehlstellen gibt, wird nicht verschwiegen, doch kann davon die Rede sein, dass mit dieser Edition erstmals eine grundlegende Dokumentation der Grund- und Hauptlehre Kandinskys vorliegt, die auch der zeitlichen Schichtung Rechnung trägt, also Modifikationen, Umstellungen und Erweiterungen ablesbar werden lässt. Der besondere Wert der Publikation liegt darin, dass das Originalmaterial Seite für Seite großformatig und in Farbe faksimiliert wurde, also authentisch dargeboten wird, und wo nötig zusätzlich transkribiert wurde. Dass damit der zukünftigen Beschäftigung mit Kandinsky und dem Bauhaus ein großer Dienst erwiesen wurde, ja, dass die Fundamente dafür erneut tiefer gelegt wurden, ist unmittelbar evident. Angelika Weißbach verzichtet auf eigene Deutungen und lässt das Material nach Möglichkeit für sich sprechen. Nur dort, wo es unbedingt erforderlich ist, gibt sie entsprechende sachdienliche Hinweise.

Der erste, 540 Seiten umfassende Band beginnt mit Texten und Vorträgen Kandinskys, die sich inhaltlich auf seinen Unterricht am Bauhaus beziehen. Es folgen maschinen- und handschriftliche Aufzeichnungen zur Grundlehre mit den Abteilungen »Gestaltungslehre Farbe« und »Abstrakte Formelemente«, die zeigen, dass der Künstler dieses Material mehrfach benutzt hat, nicht ohne es immer wieder abzuändern und zu ergänzen. In der Hauptlehre führte Kandinsky »Kompositionsübungen« sowie ein Seminar »Konstruktion – Gestaltung – Komposition« durch. Das alles wird exakt dokumentiert, und Kandinskys Aufgabenstellungen vermitteln eine Ahnung davon, wie der Unterricht konkret aussah. In dem erwähnten Seminar »Konstruktion – Gestaltung – Komposition« operierte der Künstler zur Veranschaulichung seiner Ausführungen regelmäßig mit einem umfangreichen Korpus von Abbildungen, die im zweiten Band abgedruckt sind. Den Schluss des ersten Bandes bilden einige Notate zu Kandinskys »Freier Malklasse« – nach Max Bill einer »Art Meisteratelier für freie Malerei«. Angelika Weißbach zählt die ab 1928 existierenden »Freien Malklassen« von Kandinsky und Klee »zum offiziellen Lehrangebot« des Bauhauses. Tatsächlich fristeten sie als fakultative, nur von wenigen Studierenden in Anspruch genommene Veranstaltungen aber ein Nischendasein, da der zweite Bauhaus-Direktor Hannes Meyer eher an gesellschaftlich relevantem Entwerfen und Bauen interessiert war als am innovativen Potential der freien Kunst, was sich auch im Curriculum niederschlug. Friedhelm Kröll hat darin einen der Hauptindikatoren der Desintegrationstendenzen in der späteren Bauhaus-Zeit gesehen.

Wie schon angedeutet, finden sich im zweiten Band, mit 176 Seiten wesentlich schmaler als der erste, Lehrmaterialien, die Kandinsky in seinem Unterricht eingesetzt hat. Neben Anschauungsmitteln zur Farben- und Formenlehre sind insbesondere die »Bilder-Atlanten«, die der Künstler meist aus zeitgenössischen Zeitschriften zusammengestellt hat, hervorzuheben. Es handelt sich um Bildersammlungen u.a. aus den Bereichen »Kunst«, »Bau«, »Technik«, »Mensch« und »Natur«. Hier drängt sich spontan eine Parallele zu Aby Warburgs berühmten Bilderatlas »Mnemosyne« auf, auch wenn Kandinskys Materialsammlung kleiner war und sich hinsichtlich Inhalt und Zielsetzung deutlich von jener Warburgs unterschied. Dokumentiert werden ferner jene Bücher, aus denen Kandinsky nachweislich Abbildungen in seinem Unterricht gezeigt hat, u.a. aus seinem eigenen Programmwerk »Über das Geistige in der Kunst« von 1912, aus dem Orbis Pictus-Band »Alt-Russische Kunst« und aus »Internationale Architektur«, dem ersten Band aus der Schriftenreihe des Bauhauses. Den Schluss des zweiten Bandes markieren 24 von Studierenden ausgefüllte Fragebögen zu den Beziehungen zwischen den Grundfarben und Grundformen, mit denen Kandinsky als Leiter der Werkstatt für Wandmalerei in Weimar den empirischen »Beweis« erbringen wollte, dass das Quadrat rot, der Kreis blau und das Dreieck gelb sei. Gefolgt wird dieses Material von einigen Schülerarbeiten aus den Kursen »Abstrakte Formelemente« und »Analytisches Zeichnen«, deren Erhaltungszustand zum Teil allerdings desaströs ist, da sie im Keller der Wohnung Kandinskys in Neuilly-sur Seine, wo er von 1933 bis zu seinem Tod im Jahr 1944 lebte, durch Wasser schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Nachdem mit der Ausstellung »Kandinsky – Lehrer am Bauhaus« im Bauhaus-Archiv Berlin im Jahr 2014 und dem von Magdalena Droste aus diesem Anlass herausgegebenen Katalogbuch ein entscheidender Beitrag zur Erforschung dieser bedeutenden Facette der Pädagogik am Bauhaus geleistet wurde, hat Angelika Weißbach mit dem Werk »Wassily Kandinsky – Unterricht am Bauhaus«, herausgegeben im Auftrag der Société Kandinsky in Paris und erschienen im Berliner Gebr. Mann Verlag, das maßgebliche Referenzwerk zum Thema vorgelegt. Angesichts dieser bemerkenswerten editorischen Leistung ist der Preis von € 129,- auf jeden Fall als angemessen, ja fast als moderat zu bezeichnen.

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