Ausstellungsbesprechungen

Anna Ocken-Puffer: Prozess und Struktur. Zur Genese von Landschaft

Aus der Eröffnungsrede von Günter Baumann

(...) Anna Ocken-Puffers Bilder lassen sich verorten zwischen Feldforschung und Erinnerungsarbeit, das heißt, dass wir immer aufs neue darauf gefasst sein müssen, dass ein konkreter Naturausschnitt sich in gegenstandslosen Farbflächen auflöst, und dass andrerseits abstrakte Farbfelder Landschaftsassoziationen hervorrufen können. Obwohl die Künstlerin auf persönliche Wahrnehmungen zurückgreift, sind ihre Arbeiten von vornherein vom realen Vorbild losgelöst und weit davon entfernt, bewusste topografische Abbilder oder auch nur Widerspiegelungen zu sein. Der Reiz dieser Malerei liegt im Brückenschlag zwischen der abstrakten Expression und einer sinnlichen Konstruktion. Die Gradwanderung gelingt jedoch nur deshalb, weil Ocken-Puffer unter der Prämisse arbeitet, dass Kunst und Natur zwei grundverschiedenen Ordnungen gleichwohl in Abgrenzung und Angrenzung folgen.

(...) Ich will im Folgenden versuchen, die Entwicklung be-greifbar zu machen, wie sie sich schon im Ausstellungstitel andeutet: Prozess und Struktur heißen die Wegmarken im Werk von Frau Ocken-Puffer. Hinter den Begriffen verbergen sich die Zustandsformen Werden und Sein, also ein Gegensatzpaar, das die Malerin ganz bewusst in ein Verhältnis zueinander bringt. Allerdings meine ich, dass die Struktur im früheren Werk das größere Gewicht hatte, während heute der prozesshafte Gedanke dominiert. Da es dabei allenfalls um eine Nuancenverschiebung geht, bedarf es einiger Hinweise über die Wechselwirkung von Natur und Kunst. Ocken-Puffer braucht die reale Natur, um sich von ihr zu lösen. In ihrer frühen Arbeitsphase versichert sie sich sozusagen des materiellen Willens des Steins, indem sie sich zeichnerisch seiner Struktur nähert. Natürlich geht es schon hier gar nicht darum, eine realistische Studie zu schaffen. Vielmehr verdichten sich Schraffuren in tiefschwarze Kräftefelder oder sie kräuseln sich leicht um die porenhaften Öffnungen der imitierten schrundigen Oberfläche des Steins. Es ist verblüffend, wie nah und fern sich Naturbild und Abbild in diesem Stadium sind. Deutlich spricht aus diesen Arbeiten die zeichnerische Schoofs-Schule, die schon im Übertrag der Linie über das Gehirn rein künstlerische, entschieden durchrhythmisierte Strukturen schafft. Die Linie ertastet sich regelrecht ihren Gegenstand, und sie nimmt sich die Freiheit heraus, ihn sogleich auch wieder zu sabotieren. Im Ergebnis entsteht ein Linienspiel zwischen suchender Skizze und selbständiger, selbstbewusster Zeichnung. Noch entschiedener als im abwägenden Strich des Bleistifts tritt die Linie in den Kaltnadelradierungen auf. Eine Klippe oder ein Gebirgszug werden hier zu seismographischen Schwingungen.

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Im nächsten Schritt setzt Anna Ocken-Puffer das frei gewordene Liniengeflecht in farbige Flächen um. Zuweilen ist sogar der Schraffurstil noch erkennbar – nur hat die Schraffur eine ganz andere Qualität, wenn sie mit dem Pinsel anstatt mit dem Bleistift aufgetragen wird: Die nunmehr breite Pinsellinie muss sich automatisch als Fläche präsentieren, zumal im lasierenden Auftrag. Die Ausgangslage ist nun nicht mehr der Stein beziehungsweise das Wasser als See oder Fluss, sondern die Farbe, sprich: die abstrakte Fläche, die in Verbindung mit dem Bildtitel zum Thema, zur Natur und konkret zur Landschaft führt. Die Künstlerin macht keinen Hehl daraus, dass die Kunst nur eine Fiktion von Natur darstellen kann, weshalb sie schon gleich auf eine tiefenräumliche Illusion verzichtet. Andrerseits spielt sie mit den Wahrnehmungsgewohnheiten. Psychologisch gesehen, werden wir einem blauen Grund das Element Wasser zuordnen, zumal wenn der Bildtitel darauf Bezug nimmt. Schwieriger wird dies nun jedoch bei der Nennung von Gesteinsformationen, die sich erstaunlicherweise unserer Vorstellungskraft entziehen, wenn wir nicht ein wissenschaftlich-nüchternes Bilddokument vor uns liegen haben. Wie schon gesagt: Ocken-Puffer nennt ihre Arbeiten nicht ›Stein‹ oder ›Berg‹, sondern »Verwitterung«, »Schichtung« – sie zielt auf das Wesenhafte oder auf die Raumbezüge und sabotiert damit bewusst unseren Alltagsblickwinkel.

Wenn sich die Malerin allerdings denkbar weit in die Abstraktion hineinwagt, sieht sie das nicht als Freibrief für inhaltliche oder formale Beliebigkeit. Insbesondere die früheren Arbeiten lassen sich vom Motiv her benennen, selbst wenn der Reiz eben von der Struktur herrührt: Erinnerung wird hier vielfach gebrochen wie eben auch das Gestein, das sich dahinter auftut. Ich nenne an dieser Stelle zum einen die Arbeiten, die in Schottland entstanden, allen voran das sich in langen Malphasen entwickelte Triptychon, bestehend aus den querformatigen Einzelbildern »Hochland«, »Rannoch Moor« und »Loch Lomond« – mitunter die landschaftlich schönsten Winkel Europas. Die Motive liegen nicht unmittelbar beieinander, können aber in der Darstellung von Anna Ocken-Puffer über die kompositionelle Ordnung zum Panorama verbunden werden.

Die Fiktion, in der sich noch nicht einmal jener wunderbare See Loch Lomond nordwestlich von Glasgow konkret zu erkennen gibt, genügt sich eher in der faszinierenden Landschaftsstruktur als im Abbildcharakter, wie sie auch in einem anderen Bild markant die Bildoberfläche bestimmt: die Karstlandschaft des Gottesackerplateaus am Rand des Kleinwalsertals nahe des Hohen Ifens. Von Schottland abgesehen, werden Sie diese Landschaften allerdings auf den Bildtiteln nicht wiederfinden. Die charakteristische Verwitterungsform, wie sie Regen oder Schneeschmelze im Karst hinterlassen, sind freilich schon touristisch attraktiv – Ocken-Puffer jedoch hat damit nichts im Sinn, wenn es um eine Darstellung dieses konkreten Erlebnisses geht.

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Sie hinterfragt das Motiv nach den Aufwerfungen aus der Unterkreidezeit, vor rund 120 Millionen Jahren, als sich Steinwände bis hin zu Klettergraten aus Schrattenkalk nach oben schoben, während im Gesteinsinneren Höhlen entstanden, die dem Blick von außen verborgen bleiben.

(...) Anna Ocken-Puffer beschäftigt sich seit geraumer Zeit intensiv mit der Geomorphologie. War ihr Werk zunächst getragen von der Faszination für die Gesteinsstrukturen, eröffnete sie sich nun die teilweise verborgene Welt der Prozesse im Erdinneren. Die konkret benannte Landschaft trat noch deutlicher in den Hintergrund, die Genese von Landschaft – wie der Untertitel der Ausstellung heißt – gewann an Bedeutung. Wir müssen nun nicht bienenfleißig nachschlagen, wie der Basalt sich über die Jahrmillionen verhält, wie der intakte Stein zur Erdoberfläche hin zersetzt, wie sich die Gesteine in einem Vulkanschlot mischen und so weiter. Anna Ocken-Puffer geht zwar den Dingen auf den Grund, aber letztlich deshalb, um erstens der Faszination eine intellektuell-vernünftige Basis zu geben, die fernab irgendeines emotionalen Überwältigtseins den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann; und zweitens deshalb, um die wirksamen Kräfte und Prozesse malerisch umzusetzen, die der Mensch in der Kürze seines Daseins gar nicht wahrnehmen kann. Immerhin: Ganze Berge, ja Kontinente haben sich aus dem Wasser erhoben, ihre tief im Inneren der Erde sich befindenden Platten verharren nicht in sich. Allein in den Katastrophen, die sich aus der innerirdischen Bewegung entwickeln, also im Schrecken können wir gemeinhin spüren, welche Dynamik hier zugange ist, während wir auf der Bergwanderung oder im Steinbruch ein Bild der Gleichmut, Stille und zeitlosen Größe wahrzunehmen glauben, und am Strand, selbst zwischen Klippen gern das erhabene Naturschauspiel zum Idyll stilisieren.

Anna Ocken-Puffer macht diese Zusammenführung von gefühlt zeitloser Struktur und mit menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbarem Prozess sichtbar. In vertikalen Schnitten vermittelt sie eindrücklich Verdichtungen oder Kristallisationsvorgänge in der Erdkruste, und zugleich setzt sie in der Horizontalen beziehungsweise in einer Art Draufsicht Horizonte, die simultan Räume erkennbar werden lassen, ohne die Fläche zu verraten – wie gesagt: Es ist und bleibt Malerei auf der Leinwand. Das wird nicht zuletzt darin sichtbar, dass sie dem Gestein in einer beachtlich realen Palette – von grandiosen Umbratönen bis zu schillernden Farbimpressionen – begegnet, aber den am oberen Bildrand angedeuteten Himmel in ganz phantastischer Farbgebung hält, ein elementar wichtiger, rein malerischer Garant notwendiger oder angestrebter Balance.
 

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(...) Neben den Zeichnungen, Grafiken, Aquarellen und den Gemälden schafft die Künstlerin auch dreidimensionale Objekte, die – es mag widersprüchlich klingen – weiter vom Naturbild entfernt sind und zugleich dem Thema, Struktur und Prozess, am nächsten stehen: und das, obwohl sie aus Draht gemacht sind. Auch hier zeigt sich, dass Kunst nur dann eine sinnvolle Aussage über die Natur machen kann, wenn sie den Abbildcharakter nicht allzu sehr in den Vordergrund stellt. Die verzinkten Eisendrähte sind auf den ersten Blick wiederum abstrakte Geflechte, sodass die Titel wie »Bruch«, auch hier, zunächst irritieren. Aber abstrahieren wir selbst unser Bild von der Landschaft zur geologischen Struktur, konkretisiert sich die Drahtparade zur kristallinen Gesteinsform, das sich windende Eisengeflecht öffnet sich zur topographischen, ja fast wissenschaftlich reflektierten und mathematisch kalkulierten Zeichnung einer Flusslandschaft oder eines Hochplateaus. Mit Stein als Darstellungsmittel würde das gar nicht funktionieren, weshalb die recht junge Gattung einer ausgesprochenen Landschaftsplastik – unabhängig von der Geschichte der Land Art – bevorzugt Gusstechniken wie die Bronze oder eben die Eisendrahtzeichnung verwendet. Wie filigran gerade sie gearbeitet sind, merken Sie spätestens dann, wenn Sie versuchen, diese Arbeiten zu fotografieren. (...)

 

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