Als Laboratorium eines Landschaftsgartens stellt das Gartenreich Dessau-Wörlitz ein Kleinod dar und insbesondere der Wörlitzer Park fasziniert jedes Jahr Besucher aus aller Welt. Der ist aber mehr als nur eine hübsche Ansammlung aus Büschen und Bäumen, sondern beruft sich auf philosophische und literarische Vorbilder. In Ihrem Buch trägt Anna Zika diese zusammen und schuf einen informativen Reisebegleiter, findet Walter Kayser.
Was wäre, wenn Goethe heute, sagen wir über Leipzig kommend, wo er mit einem Seufzer in der Brust und etwas feuchten Augen der »kleinen Heiligen« Kätchen Schönkopf gedacht hätte, an der Autobahnausfahrt Vockerode die A9 verlassen würde? Und wenn er dann etwas östlich Richtung Wörlitz führe? Oder vielleicht käme er ja auch als Radwanderer auf dem Elbedamm vorbei und machte einen staunenden Abstecher, um das alte Gaswerk zu besichtigen.
Kaum auszumalen, wie begeistert er heute wäre! Denn berühmt geworden ist, wie enthusiastisch Goethe schon bei seinem Besuch in Wörlitz an seine Freundin Charlotte von Stein Mitte Mai 1778 schrieb: »Mich hat’s gestern Abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysischen Felder; in der sachtesten Mannigfaltigkeit fließt eins in das andre; keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen auf einen einzigen Punkt; man streicht herum ohne zu fragen, wo man ausgegangen ist und hinkommt.« Was würde er heute wohl angesichts des Wörlitzer Parks sagen, den er doch damals nur in einem wenig vollendeten Stadium gesehen haben kann? Gerade erst geheimer Legationsrat geworden, war er noch damit beschäftigt, die nähere und weitere Umgebung seiner neuen Heimat zu erkunden.
Anna Zika hat in diesem kleinen Bändchen, das in jede Sakko- oder Handtasche passt, die Ingredienzien zusammengetragen, die das Gartenfieber im Allgemeinen und den Wörlitzer Park als wegweisenden Prototyp eines »englischen« Landschaftsgarten der Frühaufklärung im Besonderen zustande brachten. Da ist zunächst einmal die internationale Bewegung, die wir in ganz Europa mit der Lichtmetapher verknüpfen: Was den Deutschen die Aufklärung im philosophisch-praktischem Sinn einer Bildungsbewegung war, ist den Franzosen die scharfsinnige Kritik und politische Theoriebildung, welche im »siècle des lumières« die aufziehende Revolution munitioniert. In England war das »Age of Enlightenment«, in dem die Whigs, die Akademien und »debating societies« den Ton angaben, eine schleichende Partizipation an der Macht durch Reformer.
Ihrem Traum von einer freien Gesellschaft, aber auch ihrer Resignation gaben sie in einem ganz neuen Gartentypus Ausdruck. Der vorgeführten Zurichtung und Domestikation des geregelten Gartens setzten sie einen neuen, sich öffnenden Garten gegen den absolutistischen Geist entgegen. Statt Zirkelspiele und vollendeter Künstlichkeit ging es um Gedankenspaziergänge, überraschende Mannigfaltigkeit und Mitbestimmung. Das »Natürliche« als Kampfbegriff. Zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des »Gartenreichs« gehörten die Schriften britischer Philosophen ebenso wie die deutsche Dichtung des Sentimentalismus. Schon in Joseph Addisons 1712 erschienenem Essay »The Pleasure of the Imagination« wird deutlich, dass die Empfindung und die Lust im Mittelpunkt stehen. Der Garten hat demnach für plötzliche Konfrontationen zu sorgen, die den wandelnden Betrachter alle paar Schritte wie in einer Gemäldegalerie mit einem Bild des Erhabenen und Überraschenden konfrontieren sollen.
»Geist und Gefühl« hat Zika diesen »literarischen Begleiter durch den Wörlitzer Park« genannt. Damit umreißt sie knapp und exakt, dass das Jahrhundert der Vernunft nicht nur »rational « war. Immer standen auch Sensualismus, Fantasie und das Schöne, die Kräfte also, welche zwischen Verstand und reiner Sinnlichkeit anzusiedeln sind, im Mittelpunkt einer umfassenden Reformbewegung. Englische Gärten wie die von Wörlitz und Dessau waren auch Orte der Ruhe, der Erbauung, der einsamen Meditation und, wenn nicht der Weltflucht, so doch der Gegenwelt. Die Verfasserin geht den vielfältigen Anregungen nach, die hierbei zusammen-flossen: der Literatur der Empfindsamkeit, der sentimentalischen Vorliebe für Totenstätten zum Beispiel, welche mit dem spezifisch aufklärerischem Interesse an der Vergegenwärtigung des Vergangenen einhergeht. In den »elysischen Gefilden« von Wörlitz steht hierfür vor allem der Nachbau von Rousseaus Toteninsel von Ermenonville (Oise), oder das »Skaldengrab« oder alles »Ruinöse«, vergegenwärtigt es doch die Hinfälligkeit alles Menschengemachten im Verhältnis zur »ewig jungen« Natur.
Die Sprache des Gartenreiches besteht aus vielen Idiomen, die zeitgleich und historisch wenig scharf voneinander geschieden werden. Da ist ein sehr vermitteltes Verständnis von Antike, das durch Palladios Vitruv-Rezeption und wiederum durch englischen Palladianismus mehrfach gebrochen wurde. Mindestens ebenso synkretistisch ist der Sinn dessen, wozu man den Begriff des »Gotischen« verwendete. Das berühmte »gotische Haus«, das 1773 begonnen und bis 1813 umgebaut wurde, vereinigt in sich ebenfalls literarische Bezüge wie unterschiedliche Reisereminiszenzen. Je nachdem, von welcher Seite man sich nähert, treten an seinen Fassaden englische » Tudor«-Elemente, neogotische Umbildungen oder venezianische Anklänge an die Kirche Maria dell’Orto hervor.
Ab 1764 hatte der Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau damit begonnen, das umzusetzen, was er auf den zahlreichen Stationen seiner Kavalierstouren und nach seiner Demission aus dem preußischen Militärdienst in England, Frankreich, Italien und Holland kennen gelernt hatte. Ihm schwebte von Anfang an etwas Umfassendes und Exemplarisches vor. Die Gestaltung mit Sträuchern und Baumgruppen in sorgfältig ausgesuchten Grünabstufungen und Silhouetten ist das Eine; auch auf die Sichtenfächer und Achsenlegungen kam es sicherlich an. Noch entscheidender aber war: Das kleine Fürstentum sollte kulturell und ökonomisch mustergültig zeigen, wozu eine »aufgeklärte Herrschaft« in der Lage ist. Insofern standen gerade Menschen wie der Fürst Goethe sicherlich vor Augen, als er in seinem »Wilhelm Meisters Lehrjahren« die Utopie eines sich mit dem Bürgertum verbrüdernden Reformadels entwarf. Denn die reformerischen Träume von Fürst Franz erstreckten sich auf alle möglichen Lebensbereiche: auf das das soziale Leben, die Bildung, die Gesundheitsvorsorge wie auf die Ökonomie und die ästhetische Schulung seiner Untertanen. Damit lässt er auch das Konzept des Gartens als einem »begehbaren Landschaftsgemälde von höherer Vollkommenheit«, wie sie dem Theoretiker C.C.L. Hirschfeld vorschwebte, hinter sich. Eine zur (wenngleich dreidimensionalen) Kulisse degradierte und ästhetisierte Natur wird überwunden, indem den Menschen deren Nutzen in Obst- und Maulbeeranlagen vorgeführt wird.
Die malerische Anlage um den Wörlitzer See mit ihren architektonischen Blickfängen, mit ihrer Einbeziehung der Elbauen und dann wiederum den Partien, welche die »wilde Natur« imitierten, wurde zu einem wichtigen Vorbild für Gartengestaltungen des späten 18. Jahrhunderts. Anna Zika, die dieses Büchlein schon vor Jahren in einer ersten Auflage bei der Weimarer VDG veröffentlicht hatte, schreibt dicht, eher knapp, ohne sich auf akademische Haarspaltereien einzulassen, ganz auf das Wesentliche beschränkt. Die großteils von Bettina Preiß beigesteuerten Fotografien sind professionell gemacht und die Abbildungsqualität gut. Insofern ist das Büchlein nicht nur für den Landschaftsgarten von Wörlitz, sondern für das gesamte Thema dieser »Gärten der Freiheit« repräsentativ und sehr informativ.