Buchrezensionen

Anne-Marie Bonnet: Albrecht Dürer. Die Erfindung des Aktes, Schirmer/Mosel 2014

Es ist eine starke These, die Anne-Marie Bonnet bereits im Titel ihres Buches vorträgt: Albrecht Dürer, der in der deutschen Kunst bereits als der Entdecker der Landschaft gilt und dazu als erster unternehmerisch tätiger Künstler, ist auch der Erfinder des Aktbildes! Und diese These belegt sie mit einer überzeugenden Argumentation, findet Rezensent Stefan Diebitz.

Wie kann man ernsthaft behaupten, Albrecht Dürer habe den Akt erfunden, wo es doch schon zuvor Abbildungen nackter Menschen gab? Ihre Argumentation verdeutlicht Bonnet am Beispiel einer Federzeichnung von 1504, die Adam und Eva im Augenblick des Sündenfalls zeigt. Selbstverständlich gab es auch vor Dürer Nacktheit in der Kunst, aber der Autorin kommt es auf den Unterschied zwischen der natürlichen Blöße und der künstlerisch gestalteten Nacktheit an, die den Formwillen des Künstlers zur Erscheinung bringt. Allein eine derart geformte und gearbeitete Nacktheit kann als Akt angesehen werden. An einer anderen Stelle unterscheidet sie in derselben Weise zwischen Nackt- und Aktstudien; die einen geben wieder, was der Künstler wirklich gesehen hat, und sind eine Art Protokoll; die Aktstudien dagegen formen, ja idealisieren die Nacktheit und sind Kunst.

Auf kaum einem Bild dieses Bandes, der insgesamt 74 Zeichnungen, Kupfer- und Holzstiche sowie drei Gemälde vorstellt und interpretiert, findet sich so etwas wie eine erotische Darstellung, wie wir sie aus den Arbeiten von Dürers Mitarbeiter und Kollegen Hans Baldung Grien kennen. Vielmehr sind eigentlich fast sämtliche Akte vollkommen unerotisch, und nur wenige der nackten Frauen werden als besonders schön dargestellt. Dass sie keine lasziven Posen einnehmen, versteht sich wohl von selbst. Es handelt sich um ganz normale Frauen, und einige von ihnen sind auch ein wenig korpulent.

Bei den Männern, von denen manche muskulös sind, liegt der Fokus eindeutig auf der realistischen Darstellung ihres Leibes. Natürlich sind viele von ihnen dem biblischen Kontext entnommen, wenn es nicht gleich Christus selbst ist. Daneben gibt es auch noch die Musterblätter, auf denen Dürer in der Manier von Leonardos vitruvianischem Menschen die Idealmaße eines Menschen darzustellen versuchte.

Wie Dürer zu seinen Modellen gekommen ist, hat die Forschung noch nicht herausgefunden und wird sie wohl auch nicht mehr herausfinden. Auf jeden Fall scheint die Vorstellung ziemlich unhistorisch, dass irgendeine bürgerliche Frau ihm nackt Modell hätte stehen können. Etwas rätselhaft ist etwa die älteste seiner Studien, eine Federzeichnung von 1493, die eine splitternackte, den Betrachter entspannt anschauende »Badefrau« zeigt – allein um den Kopf hat sie sich eine Art Turban mit einem Handtuch geschlungen, der ihre sonstige Nacktheit eigentlich nur noch betont. Schon was eine Badefrau gewesen sein soll, weiß man nicht, weil dieser Beruf nicht in den schriftlichen Quellen auftaucht.

Wenn Dürer also keine Modelle zur Verfügung standen, ist dieses Blatt dann bloß die Ausgeburt seiner Phantasie? Danach sieht diese sehr lebendige Zeichnung eigentlich nicht aus. Die Frau hält den Kopf schief und macht im Übrigen den Eindruck, als würde sie etwas erklären, und hat auch die Hände erhoben, als gestikulierte sie. Bonnet bezeichnet das Blatt als das »einnehmende Protokoll einer unwahrscheinlichen Begegnung«. Bei der Vorstellung dieses Blattes spielt sie eine ihrer großen Stärken aus: wie auch sonst im Buch stellt die Autorin Fragen und geht nicht einfach über die zahlreichen Probleme hinweg.

Man muss natürlich immer bedenken, dass zahlreiche der vorgestellten Blätter eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren – für sein berühmtes Selbstbildnis, das den nackten Albrecht Dürer als einen Mann in seinen Vierzigern zeigt, gilt dies ganz besonders. Trotz dieses sensationellen Blattes mit seinem ungeschönten Selbstporträt bezeichnet Bonnet Albrecht Dürer als ausgesprochen schamhaft.

Das einzige lebende Aktmodell, nach dem der große Meister je arbeitete, war also höchstwahrscheinlich niemand anderes als er selbst. Sonst ging er von Detailstudien aus, von Zeichnungen einzelner Körperteile, die das Buch auch vorstellt – aber natürlich stellt sich hier auch hier die Frage nach seinen Modellen. Bei dem Blatt, das seine Arm- und Händestudien zeigt, mag das kein Problem gewesen sein, aber wie kam er zu dem Privileg, ein »weibliches Gesäß« abzeichnen zu dürfen? Und: Wie gelangte er ins Frauenbad? Das ist wohl die einzige Zeichnung in diesem Band, die erotisch wirkt.

Dürers Arbeitsweise in den Ganzkörperakten wird von Bonnet als »ein synthetisches Kompositverfahren« dargestellt, »in dem er amalgamierte, was er in der Kunst und in der Natur beobachtete«, und diese Einschätzung legt es nahe, dass er seine nackten Menschen niemals nach der Natur zeichnen durfte. Wahrscheinlich arbeitete er also ohne Modell.

Dürers Aktstudien und Aktbilder dienten nicht zuletzt der Erforschung des Menschen, wie sie kurz zuvor in Italien von Humanisten, aber auch von Künstlern begonnen worden war, und seine Arbeitsweise macht deutlich, dass der Künstler Albrecht Dürer, so wichtig ihm Zahlen und ihre Verhältnisse sonst auch sein mochten, sich nicht in ein Korsett schnüren ließ. Auch er vermaß den Menschen, so wie es Leonardo da Vinci in seinem heute schon ikonenhaften Idealbild des »vitruvianischen Menschen« vorgemacht hatte – Leonardo hatte sich von der Proportionslehre des antiken Architekten Vitruv anregen lassen –, aber Dürer wusste sich von dem nackten Zahlenschema zu lösen.

»Das Maß-Halten«, fasst Bonnet seine Haltung zusammen, »war sowohl ein gestalterisches als auch ein ethisches Anliegen: In allem galt es, die Gesetzmäßigkeiten göttlicher Schöpfung und Lehre zu befolgen.« Sie zeigt, dass Dürer seine Vorzeichnungen immer wieder korrigierte, weil er auf eine natürliche Proportionierung und Bewegung, nicht etwa auf ein kaltes, abstraktes Ideal abzielte. Ihm ging es, wie sie formuliert, »darum, ein sozusagen relatives, dem jeweiligen Typus angemessenes Maß zu finden. Mit seinen Proportionsstudien, gesammelt im sogenannten Dresdner Skizzenbuch, sollte er die Anthropometrie begründen.«

Künstlerisch am beachtlichsten sind vielleicht seine Studien nackter, sich bewegender Männer, denn durch die Bewegung kam ja noch eine andere Schwierigkeit ins Spiel – zumal er sich höchst anspruchsvolle Sujets aussuchte, denen selbst sein Genie noch nicht ganz gewachsen war. So zeigt eine Federzeichnung von 1525, »Nackter Mann mit Pferd« überschrieben, einen steif und ungelenk neben dem Tier herlaufenden Mann.

Das Buch stellt dank des relativ kurzen, aber sehr konzis und überzeugend argumentierenden Essays von Bonnet – »Dürers nackete Bilder« umfasst nicht mehr als 45 Seiten – und der schönen Abbildungen ein schieres Vergnügen dar. Wer die routinierte Hochglanzaktfotografie in Illustrierten nicht mehr ertragen zu können glaubt, wer etwas anderes sehen möchte als splitterdürre Idealkörper, der sollte sich einmal hier anschauen, wie sich das künstlerische Interesse am nackten Menschen am Anfang der Aktmalerei artikulierte.

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