Buchrezensionen

Annette Schaffer: El Greco. Die Erfindung des Laokoon, Schwabe Verlag 2013

Der verzweifelte Kampf des Priesters Laokoon und seiner Söhne mit den Schlangen ist das große Thema des 16. Jahrhunderts, nachdem die antike Marmorgruppe 1506 wiederentdeckt und im Vatikan aufgestellt worden war. Unzählige Künstler ließen sich von der Kopie des bereits von Plinius beschriebenen Werkes inspirieren, El Greco aber schuf weitab in Spanien seinen ganz eigenen Laokoon. Anette Schaffer promovierte über das Ölbild mit einer Monografie, die Stefan Diebitz überzeugt hat.

Es sind sämtliche mit dem Bild verbundenen Aspekte, die von Schaffer mit beeindruckender Gelehrsamkeit durchdekliniert werden, aber das Gemälde bietet so viele Schwierigkeiten und ist dazu so eindrucksvoll, emotional so ansprechend und dazu so rätselhaft, dass die Lektüre trotzdem an keiner Stelle langweilig wird. Rätselhaft ist das Bild schon deshalb, weil das Sujet von El Greco ganz anders dargestellt wird als von allen anderen Künstlern seiner Zeit vor ihm. Wer etwa sind die beiden nackten Figuren auf der rechten Seite, die in einer ganz unbeteiligten Haltung auf das Geschehen schauen? Warum ist das Geschehen vor Toledo angesiedelt und nicht vor den Toren Trojas, wie es die Erzählung gebietet? Gibt es Vorbilder für die Haltungen, die der Priester und seine beiden Söhne einnehmen? Die Deutung, zu der Schaffer am Ende ihres Buches gelangt, indem sie die Antworten auf diese und andere Fragen zusammenführt, ist überraschend genug – aber auch überzeugend dargestellt.

Die Autorin beginnt mit der Stellung El Grecos zur Gegenreformation. Allzu oft nämlich und eigentlich ganz selbstverständlich wird dem Künstler eine Rolle in der gegenreformatorischen Kunst zugewiesen, die in überhaupt keiner Weise belegt ist, sondern allein durch seine Zeit, die Ära Philipps II., nahegelegt wird. Aber bereits einige seiner Frühwerke lassen sich gegen diese Vereinnahmung anführen. Anhand eines frühen Gemäldes, der »Einkleidung Christi«, zeigt Schaffer, dass der Künstler weit von einem dogmatischen Verständnis der Kunst entfernt war und es sich erlaubte, »das Heilsgeschehen mit poetischer Freiheit nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu strukturieren.« Das ganze Buch ist ein einziger Beleg für die Originalität der Kunst El Grecos, der sich ja auch sonst als selbstbewusster und eigenständiger Künstler gab.

Wie man leicht sehen kann, nahm sich der Künstler am Ende seines Schaffens seine Freiheiten auch gegenüber dem Laokoon-Thema – die Darstellung der Leiden des Priesters und seiner beiden Söhne weicht nur zu deutlich ab von der berühmten Figurengruppe. Auffällig ist besonders der Bruch mit der Darstellung des Schmerzes (»exemplum doloris«), denn bei El Grecos Figuren lassen sich nicht jene starken Gefühle wie Angst, Schmerz und Verzweiflung ausmachen, von denen die Künstler und Theoretiker des 16. Jahrhunderts sich angesichts der antiken Skulptur berührt fühlten. Schaffer vergleicht die Haltungen des Laokoon und seiner Söhne mit denen zahlreicher vergleichbarer Figuren aus der Kunst des 16. Jahrhunderts, um die Eigenart der Bilderfindung El Grecos deutlich zu machen. »El Greco verzichtete auf die Schilderung von Einzelereignissen. Die Figuren verdichten sich bei ihm zu einer Konfiguration, die einen Bewegungsvorgang anschaulich macht.« Ihm kam es auf das ganze Bild an, nicht auf das Detail, und vieles bleibt sogar ganz unklar, vor allem auch bei der Raumgestaltung, ohne dass deshalb dem Bild etwas verlorenginge.

Besonders interessant muss natürlich Laokoon schon wegen seiner liegenden Position mit den angezogenen Beinen sein, und Schaffer zeigt nicht allein viele Beispiele für ähnliche oder auch unterschiedliche Haltungen, sondern kann es darüber hinaus wahrscheinlich machen, dass der Maler kleine Tonfigürchen besaß, mit deren Hilfe er derartige Haltungen aus verschiedenen Blickwinkeln studieren konnte. Er knüpfte damit an Michelangelo an, der das Tonmodell eines Flussgottes besaß, das bis heute erhalten ist und im 16. Jahrhundert in Kopien verbreitet war. Man wusste damals, wie Michelangelo arbeitete.

Der einzige nicht ganz überzeugende Punkt der Argumentation Schaffers betrifft die beiden nackten Figuren rechts im Bild. Wer sind sie? Darauf kann Schaffer keine befriedigende Antwort geben, wenngleich sie auch diese Frage auf vielfältige Weise angeht. So werden entsprechende Figurenkonstellationen in anderen Bildern der Zeit angesprochen, und sie schlägt auch eine Deutung der Gestik eines der beiden Jünglinge vor, auf dessen linke Hand wir von hinten schauen. Ausgehend von einem Porträt eines Geistlichen, auf dem sich dieser Handgestus ebenfalls befindet, deutet sie ihn als Hinweis auf »seine reflexive Haltung« – das wäre angesichts des dramatischen Geschehens mehr als nur eigentümlich. Auch spielt sie den Gedanken durch, dass die beiden Figuren die Rückschau des Aeneas symbolisieren, der die Vorgänge erst später begriff. Auf jeden Fall bestimmen die beiden Seitenfiguren die Atmosphäre des Bildes: Es ist der Kontrast zwischen dem Leiden des Laokoon und seiner Söhne und dem gleichgültigen Blick auf sie.

Alle diese sehr subtilen und gelehrten Untersuchungen Schaffers – wiederholt greift sie auf die Literatur der Zeit oder auch auf Kommentare und Notizen in der Bibliothek des Künstlers zurück – können auf den Clou ihrer Interpretation nur vorbereiten. Sie nähert sich ihrer These, wenn sie die Darstellung Toledos im Hintergrund mit vergleichbaren Darstellungen aus der Hand El Grecos, aber auch anderer Künstler untersucht. Der Kampf des Laokoon ist ja Teil der Eroberung von Troja und gehört eben deshalb in die Geschichte der Gründung Roms durch Aeneas, dessen Onkel Laokoon war. Der Priester warnte Troja vor dem trojanischen Pferd, gegen das er einen Speer warf (man kann das hölzerne Pferd auch auf El Grecos Bild zwischen Laokoon und der Silhouette Toledos sehen) und wurde bald darauf von den Schlangen angegriffen und getötet. Sein Tod galt den Trojanern zunächst als Strafe für seine unberechtigte Warnung, war aber tatsächlich, wie Aeneas erst viel später in der Rückschau begreifen sollte, eine zusätzliche Warnung der Götter vor dem üblen Trick der Griechen.

Die Autorin kann auf eine ganze Anzahl von geschichtlichen Darstellungen verweisen, in denen nicht etwa Troja, sondern Toledo als die Stadt dargestellt wird, aus der die Gründer Roms stammten – Toledo nimmt also, wie es ja das Bild selbst auch nahelegt, die Stelle Trojas ein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der sehr belesene und besonders auch an allem Historischen interessierte Künstler um diese Theorien wusste und sich eben deshalb des Themas annahm. Gerade erst hatte Philipp II. seine Residenz nach Madrid verlegt, so dass die ehrwürdige Stadt ihren Rang eingebüßt hatte, und so ist die Lehre des Bildes relativ einfach: »Toledo muss zwar seinen Status als geistige Heimat der spanischen Kaiser und Könige für immer einbüßen – darin liegt, wie die Konjunkturgeschichte der Stadt zeigt, auch sein folgenschwerer Verlust. Doch wird die Erinnerung an eine bedeutende Vergangenheit seinen Ruf in die Zukunft tragen.«

Fazit: Es ist natürlich ein echter Verlust bei der spektakulären Farbigkeit vieler Gemälde des großen Meisters, dass sie nur in Schwarzweiß abgedruckt sind. Lediglich das Laokoon-Bild ist farbig. Alles in allem ist es Anette Schaffer gelungen, das Bild El Grecos in das von ihr im Vorwort angesprochene komplexe Bezugssystem zu stellen und überzeugend zu interpretieren. Einzig und allein für die beiden nackten, merkwürdig unbeteiligt auf das dramatische Geschehen schauenden Figuren kann sie keine wirkliche Antwort anbieten.

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