Buchrezensionen

Arasse, Daniel: Anselm Kiefer, Schirmer/Mosel Verlag, München 2007.

Je mehr man sich mit seinem [Anselm Kiefers] Werk vertraut macht und je besser man sich in ihm auskennt, desto mehr stellt sich das Gefühl ein, es mit einer Art von Labyrinth zu tun zu haben, das fortschreitend an Umfang und Vielschichtigkeit gewinnt und dessen Einheit und Gesamtzusammenhang nur der Unsicherheit vergleichbar ist, mit welcher der Interpret, der sich ihm stellten will, es durchläuft.“

Mit diesen Worten verweist der französische Kunsthistoriker Daniel Arasse bereits zu Anfang seiner – und dies sei vorweggenommen – beeindruckenden Monographie auf den fraglos nicht einfachen Zugang zum Werk Anselm Kiefers. In der Annäherung an das umfangreiche, mit literarischen, theologischen und philosophischen Inhalten angereicherte und von gedanklichen Verflechtungsprozessen geprägte Oeuvre des Künstlers kristallisiert sich für den Autor heraus, dass „[das] Anwachsen von Kiefers Werk und dessen sich jetzt über mehr als dreißig Jahre ausdehnende Morphogenese […] einer vitalen Notwenigkeit [entsprechen]. Von den ersten bis zu den letzten Werken spielt diese existenzielle Dimension eine grundlegende Rolle im künstlerischen Werdegang ihres Autors.“ Arasse weiß, dass er das Gesamtwerk Anselm Kiefers aufgrund seiner Komplexität nicht darlegen kann, aber ihm ist ohnehin nicht an einer lückenlosen Aufreihung, sondern vielmehr am Aufspüren von künstlerischen Entwicklungslinien gelegen, in denen sich Kontinuität und Wandel artikulieren.

Daniel Arasse geleitet den Leser nicht auf lineare Weise durch das Labyrinth des Kieferschen Schaffens, sondern wendet sich zunächst der Vergangenheit zu: Dem Jahr 1980, als Kiefers Arbeit auf der Biennale von Venedig internationale Aufmerksamkeit zuteil wurde und gleichzeitig einen nationalen Skandal heraufbeschwor. Der Künstler äußerte sich in diesem Zusammenhang mit den Worten: „Ich identifiziere mich weder mit Nero noch mit Hitler. Aber ich muß ein kleines Stück mitgehen, um den Wahnsinn zu verstehen.“ Das Aufeinanderprallen der beiden absolut gegensätzlichen Reaktionen wurde für den Autor zum Ausgangspunkt, der es ihm erlaubte, die Werke der vorangegangenen Dekade zu beleuchten und danach Wege einzuschlagen, die Kiefer vor und nach jener Zeit beschritten hat. Auf diesen Seitenpfaden können Entwicklungen, etwa eines Motivs oder eines bestimmten Materials, nachvollzogen werden. Wenngleich die Vorgehensweise Arasses den Beginn der Lektüre nicht einfach gestaltet, da zahlreiche Werktitel, kunsthistorischer Kontext und wissenschaftliche Diskurse einfließen, ist es umso lohnenswerter und bereichernder, weiter in den Text einzudringen und sich gemeinsam mit dem Autor durch das verwirrende Wegegeflecht zu kämpfen. Zunächst also spürt Daniel Arasse der „Gedächtnisarbeit“ beziehungsweise der „Trauerarbeit“ nach, der Trauer um die Kultur als solche.  

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In dem darauf folgenden Kapitel gelangen wir dann an eine Kreuzung im Werklabyrinth: Die Bücher, die in den sechziger und siebziger Jahren entstanden sind. Sie besitzen einen zentralen Stellenwert im Schaffen Anselm Kiefers und sind verbunden mit anderen Werkbereichen, wie Installationen und Performances, Bildern, Skulpturen oder Drucken und bilden zugleich einen Schmelztiegel für die Fertigstellung früherer Arbeiten beziehungsweise für zukünftige Werke. Die Bücher, so Arasse, „sind das intime Labyrinth Kiefers inmitten des großen Labyrinths, das sein Gesamtwerk konstituiert.“  

Das Kapitel „Gedächtniskunst“ zeichnet die Sonderstellung Anselm Kiefers innerhalb der kollektiven Erinnerungsarbeit nach, die in der Zeit von 1960 bis 1980 die deutsche Kultur und Kunst geprägt hat. Dem Künstler ging es dabei weniger um die Gedächtnisarbeit, als vielmehr um die Arbeit am Gedächtnis. Als 1945 Geborener verfügt Kiefer nicht über persönliche Erinnerungen an den Nationalsozialismus, so dass er sich ein „Gedächtnistheater“ konstruiert, „dessen er sich bedient, um die ‚Erinnerungen’ an eine überlieferte deutsche Vergangenheit zu verinnerlichen und zu strukturieren, die er nur indirekt gekannt hat“, wie Arasse es formuliert. Auf diese Weise entwickelt Anselm Kiefer mit Hilfe der ars memoriae ein Gedächtnis der deutschen Geschichte und eignet sich jene nicht erlebte Vergangenheit an. 

Als ein „fragiler Ariadnefaden“, eine Art direkter Weg im Labyrinth des Werkes, begegnet dem Leser das Motiv der Palette, das in den unterschiedlichsten Techniken, wie Aquarell, Acryl, Öl, und den unterschiedlichsten Materialien, wie Blei oder gebranntem Ton formuliert ist. Die Palette präsentiert sich als ein reflexives Sinnbild der künstlerischen Tätigkeit, dessen sich Kiefer bedient, „um bestimmte grundlegende Inhalte zu visualisieren und zu problematisieren, mit denen ihn, den zeitgenössischen deutschen Künstler, die Tradition seiner Kunst konfrontiert.“ [Arasse]  

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Mit dem Kapitel „Trauer“ gelangt Arasse wieder zu einer Weggabelung in dem viel verzweigten Labyrinth, denn hier knüpft die Trauer um die Kultur an die Fragestellung an, wie man noch ein deutscher Künstler sein kann, „wenn doch die Komponenten einer deutschen künstlerischen und ‚kulturellen Identität’ unwiderrufbar kompromittiert sind“ [Arasse]. Über Adorno, dem das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz als barbarisch galt, über die Lyrik Celans, gelangt Daniel Arasse wieder zu Anselm Kiefer, für den die Trauer um die Kultur nicht zu trennen ist „von einer Trauer um eine ‚klassische’ Praxis der Malerei, welche die seiner ersten zehn Jahre war.“ [Arasse]  

Mit dem wieder aufgeflammten Interesse für Bücher in den späten achtziger Jahren werden die deutschen oder germanischen durch die breit gefächerten Themen, wie ägyptische Mythologie, Altes Testament, die Explosion des Atomreaktors von Tschernobyl sowie „Die Frauen der Revolution“ ersetzt. Neben der Monumentalisierung ist es vor allem die Verwendung von Blei, die ein Novum in diesem Werkbereich darstellt. Der ausschlaggebende Wandel bei der Bücherthematik vollzieht sich jedoch in deren Aussagegehalt: „Das Buch, Gefäß der persönlichsten Ausarbeitung in seinem [Anselm Kiefers] Schaffen, stellt sich ihm auf einem mythischen Register auch als Verwahrer einer Offenbarung mit unendlicher Entzifferung dar, und dieses Merkmal reicht aus, die zentrale Bedeutung zu bekräftigen, die jetzt das Judentum in seinem Schaffen angenommen hat.“ [Arasse] Und das jüdische Denken von der Zeit der Geschichte hilft dem Künstler schließlich, sich bei seiner Arbeit von dem Gewicht der eigenen Historizität zu befreien.  

Der Faden, der die verschiedenen Themenbereiche miteinander verknüpft, ist Kiefers Interesse für Mythen über die Schöpfung der Welt und das zuvor herrschende Ordnungsprinzip, sowie die Wandlungen, denen dieses Prinzip unterworfen ist, wenn es sich in den Wirren des Werdens befindet. Jene Art mythischer Erzählungen, die den Künstler faszinieren und anziehen, begegnen ihm sowohl in den jüdisch-christlichen, den ägyptischen als auch den orientalischen Kulturen. Die Mythen bilden also den Kern seiner Poetik, da sie ihre Wirksamkeit bewahren, die Welt aufs neue „bezaubert“ haben und es ermöglichen, so Daniel Arasse, „in ihnen noch, immer noch, das gegenwärtige Agieren uralter Kräfte wahrzunehmen.“ 

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Und auch mit dem Kapitel „Blei“ verdichten sich die Werkzusammenhänge und es können vom Leser allmählich logische Verknüpfungen im Werk Kiefers erkannt werden. Als der Künstler Ende der siebziger Jahre erstmals in diesem Material arbeitete, war es für ihn Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Geistigen in der Kunst. Doch gleichzeitig schwang das Gefühl mit, dass diese Kunst historisch dazu nicht mehr fähig ist. Mitte der achtziger Jahre dann wandelt sich die „Melancholie des Bleis“: Statt Projektionsfläche der Situation des deutschen Künstlers zu sein, bringt sie nun „allgemein die geistigen Bedingungen des Künstlers und darüber hinaus den Widerspruch zwischen der Suche nach einem Ideal und der Tragödie der Geschichte“ [Arasse] zum Ausdruck. Welch hohen Stellenwert das Blei für Anselm Kiefer besitzt, zeigt sein lakonischer Ausspruch 1990: „Das Blei wirkt mehr als alle anderen Metalle auf mich.“  

Am Ende seiner Arbeit führt Daniel Arasse den Leser noch einmal ins Zentrum des Labyrinths, indem er die Frage nach Anselm Kiefers Stil aufwirft. Über Roland Barthes Differenzierung von „Schreibweise“ und „Stil“ nähert er sich dieser Frage an und gelangt zu dem Ergebnis, dass „der Drang nach einem Werk in den ‚mythischen Tiefen’ des Künstlers, im Begehren nach dieser Osmose zwischen Individuum und Kosmos, zwischen dem Körper des Künstlers und dem seines Werks, in diesem Verschlungenwerden, in dieser Verwandlung des einen in das andere“ entsteht und genau an diesen Schnittstellen artikuliert sich Anselm Kiefers Stil.  

Daniel Arasse leistet mit seiner Monographie zweifellos einen fundamental wichtigen Beitrag zur Kiefer-Forschung. Ob in Händen von Studenten, Wissenschaftlern oder einem fachfremden, aber interessierten Publikum, diese Publikation ist der Ariadnefaden, der den Leser nicht nur aus dem Labyrinth, sondern vor allem wohl organisiert durch das Labyrinth führt.  

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Neben einer pointierten Sprache, die nicht nur dem Autor Daniel Arasse, sondern auch dem Übersetzer Reinold Werner geschuldet ist, einem wohl strukturierten, wissenschaftlich fundierten Text mit kurzen Werkanalysen, weiß dieses opulente Buch besonders durch die Vielzahl an Farbabbildungen zu überzeugen, die in hervorragender Druckqualität wiedergegeben sind. Gerade bei den in die Dreidimensionalität sich verlagernden Malereien, den skulpturalen Arbeiten und Installationen ist es überaus wichtig, sie aus dem richtigen Blickwinkel aufzunehmen, so dass der Betrachter dem Werkcharakter besser nachzuspüren vermag. Zudem suchen die zahlreichen Detailansichten zum besseren Verständnis beizutragen – beispielsweise der Beschaffenheit des Arbeitsmaterials –, um so der Vielschichtigkeit der Arbeiten Kiefers Rechnung tragen zu können.  

Fazit: Bei Daniel Arasse „Anselm Kiefer“ kann sich der Leser auf eine spannende und tiefgründige sowie eine informative und bereichernde Lektüre freuen. Er wird an ein Werk herangeführt, das in ferner Nähe und in naher Ferne liegt, das in einem Moment greifbar scheint und im nächsten sich verflüchtigt. Es ist die Annäherung an Arbeiten, die in ihrer materiellen Erscheinungsform oft profan anmuten, in ihren Inhalten aber poetisch, tiefgründig sind und nachdenklich stimmen. Anselm Kiefer sagte 1987 einmal über seine Bilder: „Ich kann nur meine Gefühle, meine Gedanken und meine Absichten wiedergeben. Ich gebe sie so genau wie möglich wieder, und danach […] entscheiden Sie darüber, was die Bilder sind und wer ich bin.“

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