Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Voré – Installation »Wegstrecke L robg«, Kulturverein Zehntscheuer e.V., Rottenburg am Neckar, bis 16. Januar 2011

Der Künstler voré lässt sich, gewollt oder ungewollt, auf die Phänomene der Erinnerung und des Gedächtnisses ein. Ein zentrales Anliegen ist für ihn dabei der Mythos. Lesen Sie hier einen Auszug aus der Eröffnungsrede von Günter Baumann.

(…) Voré beschreibt eine »Wegstrecke« – so der Titel –, die dem ersten Augenschein nach einer Baustelle oder einer Ausgrabungsstätte ähnelt. Der spröde Charme dieser Arbeit wird von dem kryptischen Titelzusatz noch verstärkt: »L robg«, was sich allerdings dem Rätselfan zumindest teilweise rasch erschließt, denn »robg« steht für »Rottenburg«. Derartig verschlüsselte Bezeichnungen finden sich im übrigen auch auf der ausliegenden Liste, die auf die Entstehungszeit und den ersten Bestimmungsort der einzelnen Fragmente verweisen, allesamt Teile eines immer wieder neu definierten Ganzen. Freilich bleibt uns hier vieles im dunklen, aber die Einzelbefunde werden zu nur noch erinnerbaren, archivalisch fassbaren Etappen auf dem Weg zu einer anderen Seinsstufe. Zum frühabendlichen Zeitpunkt des 5. Dezember 2010 ist Vorés Kunstwerk ein realer Teil der Stadt: Rottenburg. Solche nüchternen Zuordnungen stellt Voré, der auch bescheiden hinter seinem Pseudonym zurücktritt, über das Persönliche, Individuelle. Schwieriger ist schon das »L« im Titel, auf das man sich erst einen Reim machen kann, wenn man Vorés Lieblingsmetapher, das Labyrinth, kennt. Labyrinth? werden Sie sich angesichts dieser in der Mitte abknickenden beziehungsweise gebrochenen linearen Wegstrecke fragen – zu recht. Erlauben Sie mir deshalb, etwas auszuholen.

Wenn wir »Labyrinth« hören, haben wir meist einen barocken Irrgarten zur lustbaren Ergötzung des gehobenen Adels vor Augen oder – schlimmer noch – ein zeitgeistiges Maislabyrinth für jedermann. Was wir dabei nur ahnen, hat der Romancier José Saramago in seiner »Reise des Elefanten« ausgesprochen, wo es heißt, »die exakteste, die zutreffendste Darstellung der menschlichen Seele (sei) das Labyrinth«. Da andere archaische Deutungen das Labyrinth im Zusammenhang mit dem Lebensweg, dem Weg zu Gott und ähnlichem sehen, liegt die Vermutung nahe, dass die Metapher des Labyrinths älter ist als die begehbare und sinnlich erfahrbare Heckenarchitektur der Neuzeit. Damit wird die Gestalt eines Ur-Labyrinths frei, auch frei für lineare Teilaspekte einerseits und für drei- und mehrdimensionale Vernetzungen. Die fragwürdige Aussicht, verloren zu gehen – und das steckt in der Bedeutung der Metapher – , muss nicht äußerlich vorführbar sein. In Zeiten virtueller Realitäten ist es sogar aussichtslos, labyrinthische Strukturen auch nur von außen einzusehen.

Vorés Wegstrecke ist keineswegs eindimensional. Der Weg, der uns zunächst auffällt, ist unwegsam, kaum wirklich begehbar. Wenn wir ihn sinnbildlich auffassen, trifft keine sprachliche Umschreibung besser zu als Franz Kafkas Aphorismus: »Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern«. Raffiniert führt Voré seine so genannte Wegstrecke – zunächst im Widerspruch dazu – fast hoffnungsfroh durch den Raum, sichtlich gefährdet eher von außen, durch die Raumpfeiler, die ein reales Hindernis darstellen. Die Objekte, die auf dem Weg liegen und auf den ersten Blick an Bauschutt denken lassen, erweisen sich als Relikte der Geschichte: Teile von Tempelsäulen, Fragmente von Plastiken, Grabungszeichnungen. Es sind Erinnerungsmetaphern. »Das Gehirn braucht man, um hinaus in die Welt zu ziehen; die Erinnerung braucht man, um wieder nach Hause zu finden«. Ich kann mich – welch passendes Missgeschick – nicht erinnern, wer dies geschrieben hat, vielleicht der große Poet labyrinthischer Grenzwelten, Jorge Luis Borges. Wichtig ist der Gedanke insofern, als Voré mit seinen antiken Reminiszenzen an diesen menschlichen, ja Menschheitstraum des Heimkehrens gemahnt. So gesehen, sind wir Betrachter noch auf der richtigen Spur, aber der Weg führt nicht geradeaus, wird jäh unterbrochen, um überhaupt weiterführen zu können. Sie sehen, wie wichtig der Ausstellungsraum hier stellvertretend für unsere Welt aufzufassen ist. Wir sind keine Zaungäste, sondern Teilnehmer an dieser Wegführung. Der Bildhauer nimmt uns darüber hinaus mit auf eine Exkursion in Sachen plastischer Gestaltung. Er legt keine Spolien aus, das heißt, authentische antike Fragmente und Ruinenstücke, sondern eigens bearbeitete Skulpturen, die – ähnlich wie Max Peter Nähers Gemälde – gleichsam abstrakte Gebilde sind als auch assoziierbaren Fragmentcharakter haben. Neben diesen Skulpturen verwendet Voré gegossene Plastiken, Metallplatten, Baugerüste, Bleistift- und Kugelschreiberzeichnungen. Er mischt also nicht nur vorgegebene und bearbeitete Materialien, sondern führt uns auch den technischen Unterschied innerhalb der Bildhauerei vor: Skulptural sind Plastiken da, wo der Künstler mit Hammer und Meißel, Flex oder Bohrer herangeht, die eigentliche Plastik ist das gegossene Artefakt. Wir haben es also nicht nur mit einem rein konzeptuellen Werk zu tun und schon gar nicht mit einer Ansammlung von Fundstücken – Voré legt ein ästhetisches Gesamtkunstwerk vor, das Einblicke in die klassische Bildhauerei gewährt (wie übrigens auch Näher ein klassisches Medium, die Malerei, thematisiert). Bewusst verweist Voré auch durch die Wahl des Steins auf sein Selbstverständnis als Bildhauer, denn der durchgängig verwendete, fast hautfarbene, blassgelbe Baumberger Sandstein aus dem Münsterländischen dürfte weniger in antiken Tempelanlagen als in neuzeitlichen Architekturen und Denkmälern zu finden sein. Absolut modern sind auch die markanten Meißel- und Zahneisen-»Gravuren« im Stein, die Voré wie Sichtmarken auf der Haut der Skulptur hinterlässt.

(…) Im Internet hat Voré bereits vor der Installierung seiner Arbeit einen Plan veröffentlicht, der hier zwar leicht variiert worden ist, aber ein deutliches Zeichen dafür, dass er nichts dem Zufall überlässt. Schreiten Sie gelegentlich die Wegstrecke ab, und Sie werden sehen, wie sich die wie achtlos abgelegten Skulpturen, die hier Körpertorsi, dort Gliedmaßen – zuweilen sogar in phallischen Formen – evozieren, an gezeichneten Linien orientieren, wie sich die kieselgroßen Steinabfälle in den Detailskizzen widerspiegeln. Der Weg, der sich so unwegsam zeigt, wird unterbrochen, ich habe darauf hingewiesen, doch er wird von Stahlplatten neu ausgerichtet, als wären hier Gelenkstellen angebracht. Der steinige Weg, der über Papier und Stahlböcke entlangführt, erfüllt seine Funktion als Erinnerungsspur. Dennoch ist der Verlauf ohne Happy End. Nicht nur, weil er nur ein Bruchstück einer Strecke darstellt, die keine freien Zu- oder Ausgänge aufweist. Zwei Überquerungen sind es, die ein pessimistisches Licht auf das Werk werfen: einmal die Eisenrelikte, die wie Fundamente einer einstigen Brücke am einen Ende das Bild der Zerstörung unterstreichen: Die Querverbindung ist verschwunden, hier ist kein Weg mehr. Auf der anderen Seite verläuft ein Provisorium über den steinigen Pfad: ein Eisenträger, der am einen Ende von einem Steinbrocken versperrt ist und am anderen ins Leere führt. Die Verschraubungen sind obendrein eher fahrlässig angebracht. Sicherheit ist nirgends.

(…) Was uns hier eingangs als beliebige Reihung von Steinen, Gestänge und Eisen begegnete, beruht auf einem klaren Plan – als ginge es um eine Rekonstruktion, deren Anordnung verinnerlicht werden kann, um später zum Gegenstand des Wiedererinnerns zu werden. Vorés künstlerische Welt liegt in Trümmern, sie birgt hoffnungsvolle Zeichen, entlarvt aber den Lebensweg letztlich als vergebliche Mühe und bringt beiläufig einen Menschheitsmythos ins Spiel, mit dem ich zum Ende meiner Ausführungen komme: Der Stein, der den Stahlträger empfindlich zerquetscht, könnte als Stein des Sisyphos durchgehen, der verdammt war, diesen unermüdlich einen Berg hochzurollen, bevor er, der Stein, wieder hinunterrollte. Wie wir selbst mit der Wegstrecke umgehen, bleibt jedem Einzelnen überlassen. (…)

Zeitgleich werden im Kulturverein Bilder des Malers Max Peter Näher gezeigt.

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