Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnugsrede: Voré - Stückwerk Mensch, Zeichnung, Skulptur, Installation. Galerie am Kocher, Künzelsau, bis 2. Dezember 2012

Unter dem Titel »Stückwerk Mensch - Zeichnung, Skulptur, Installation« stellt die Galerie am Kocher seit dem 21. Oktober die Werke Vorés aus. In seiner Eröffnungsrede entspinnt Günter Baumann das philosophische Gedankennetz um die Arbeiten des Künstlers.

Es ist eine hohe Kunst, im Bewusstsein nicht erreichbarer Vollkommenheit einen Zustand größtmöglicher Vollendung zu schaffen, was nur wenigen Künstlern gelingt (…). Ich freue mich, dass wir alle regelrecht und stilvoll über den roten Teppich in eine erste Installation geraten. So unmittelbar steht man selten in medias res, in der Kunst. Wie der Titel schon andeutet, geht es hier um eine Frage der Teile und des Ganzen. Das mag im ersten Augenblick klar unterschieden sein, birgt aber einige semantische Grauzonen (…). »Stückwerk« heißt soviel wie Fragment, Bruchstück, erinnert an Unfertiges oder an Ruiniertes. Es ist zuweilen offen, ob dieser Zustand von einem abgebrochenen Werkprozess herrührt oder von einem bewusst unfertig belassenen Kunstwerk.

Der »Mensch« im Ausstellungstitel lässt vermuten, dass das besagte Stückwerk auf ihn zu beziehen wäre – das erweitert den Aspekt über das Kunstwerk hinaus auch auf das Leben, zielt auf den Menschen als Mängelwesen. Aber ist das so einfach zu behaupten? Der Mensch zeigt mehr als genug Schwächen, die sich kurioserweise dann zeigen, wenn wir eine Reife erreicht haben, die den Blick aufs Ganze erst ermöglicht. Und was sieht der Mensch? Stückwerk. Dabei denkt er aber die potentielle Totalität meist schon mit – über das eine kann man nicht reden ohne das andere zu berücksichtigen. Voré macht diese Frage nach dem Zusammenhang sichtbar: Der moderne Mensch wirkt zerrissen, gebrochen in seiner Zeit. Wir sind umgeben von Stückwerken, von Baustellen, von Entstehungs- und Wandlungsprozessen, die allesamt die Vermutung nahelegen, das Ganze sei gerade noch die Sehnsucht nach einem Wunschbild. Was ist nun in unserer Wahrnehmung real: das Ganze oder das Teil? Es bliebe auch noch zu fragen, ob das Ganze mehr oder weniger ist als die Summe seiner Teile. Wir können uns im Werk Vorés vielerlei Geschichten ausdenken, sei es, dass wir uns diese Ausstellung als Ruinenfeld denken oder als Baustellensituation, wir können uns auch einzelne Objekte oder Papierarbeiten herauspicken und entdecken ganz andere Geschichten, als Textfragmente, wenn man so will – und frei nach Johann Wolfgang Goethe: Bruchstücke einer großen Konfession.

Der Lehrmeister unserer modernen Ästhetik heißt Friedrich Nietzsche, der sich damit wider Willen zum Vollender der Romantik machte, deren Ideal das Fragment war – sichtbar in ihren unvollendeten Romanen oder in der sogenannten Ruinenromantik. Findet man hier wie dort einen Hang zu aphoristischer Kürze, zu Sentenzen und Zitaten, die jegliche Systematik scheinbar leugnen, zeigt sich das Werk von Voré als deren Übertragung ins Bildhafte: In abstrakten und anspielungsreichen Details artikulieren sich Gedankenbilder; rätselhafte Chiffren ersetzen gängige Bildmuster. »Mein Ehrgeiz ist«, schrieb Nietzsche, »in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem Buche sagt – was jeder andere in einem Buche nicht sagt«.

Auf Vorés Kunst übertragen, heißt das, zwei Handvoll verstreute Gliedmaßen wecken Assoziationen etwa an die Antike, wofür andere Bildhauer ganze Figurengruppen konzipieren. Ein Trümmerfeld drückt genauso viel oder mehr aus als ein ganzer Tempel. Dass dabei keine Willkür herrscht, wo das Fragment über das System triumphiert, wusste auch Nietzsche: »Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken gibt (oder geben muss)?« Was steht es nun also mit dem Detail und der Totalen? Wir kennen das Phänomen, dass ein Teil für das Ganze stehen kann – der Fachbegriff dafür ist pars pro toto –, hier wird das nur gedachte Ganze gar nicht angezweifelt. Zum anderen erweist sich das Ganze als überflüssig, viel wichtiger ist der Rest, der Ab-Fall oder das Ver-Fallene, die Spur, die Ruine. Desweiteren – und das trifft auf die Moderne seit dem 20. Jahrhundert zu – stehen Fragmente mehr und mehr für sich allein. Paradoxerweise erkennt man umso deutlicher, je umfassender die neuen Medien uns ein weltweites Netz zu Füßen legen, dass unser Wissen so bruchstückhaft ist wie unser ganzes Tun. Jedes Welt-Bild setzt sich partiell zusammen, fertig wird es nie – und eigentlich war es das auch nie (nur wussten wir es da noch nicht, außer der gute alte Sokrates: »Ich weiß, dass ich nichts weiß« heißt ja auch, dass ich mir kein richtiges Bild von der Welt machen kann).

(…) Voré geht seine Kunst als Humanist, ich behaupte sogar: als Philosoph, an, wenn man darunter einen Menschen versteht, der seiner Spezies und deren Wissen auf der Spur ist. In Abwandlung eines Aphorismus von Robert Musil, dem Autor vom »Mann ohne Eigenschaften«, könnte man sagen: »Die Facetten des Lebens zu dokumentieren, sollte nur einer, der die großen Zusammenhänge vor sich sieht.« – Musil erwog, seine Aphorismen unter dem bezeichnenden Titel »Unvollendbares« herauszubringen. Was auf den Romancier zutrifft, passt auch auf Voré als Künstler. Was er ausstellt, ist der Zwischenstand eines Prozesses, der wichtiger ist als das Ergebnis, der Prozess ist das Werk, Stückwerk. Und sein Anliegen ist nicht der schöne Schein, es ist in erster Linie der Mensch und sein offen gelegtes Inneres, sind seine existenziell relevanten Gedankengänge. Na dann gute Nacht, wird der eine oder andere denken, hier tun sich ja dann Abgründe auf oder anders gesagt: Irrgänge.

Aber keine Sorge: Voré bedient sich in seinem Schaffen gern der Metapher des Labyrinths. Der Mensch mag gefangen sein im Irrgarten seiner Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die sich bei Voré in Skizzen, Zeichnungen, Entwürfen, Plastiken und letztlich in Installationen niederschlagen, die den je vorgefundenen Raum nutzen. Wir alle sind Teil dieses labyrinthischen Seins. Aber zugleich führt uns Voré durch das unwegsame Gelände der Fiktion: Egal, ob wir hier als Betrachter eines Werkstattberichts, einer archäologischen Grabungssituation oder einer ungesicherten Baustelle fungieren, sind wir Zeugen eines Augenblicks, wo Fragment und Totalität eins werden, wo figuratives Stückwerk und das unüberschaubare Materiallager des ganzen menschlichen Daseins aufeinander treffen. Hier entsteht kein Bild der Destruktion, was man im ersten Moment vielleicht vermuten könnte, sondern ein Bild der Dekonstruktion, der schonungslosen Offenlegung. Zugegeben: es offenbaren sich zerstörerische Kräfte, worauf die fragmentierte, ungestalte Substanz verweist, doch zugleich erkennen wir in den Skizzen und im Entwurfscharakter insgesamt Elemente des Aufbaus, der Gestaltung.

Voré steht in einer großen Tradition: die Vergänglichkeitsmetaphorik des Barock ist ihm genauso vertraut wie die Entgrenzungslust der Romantik. Wenn ich also einen kulturgeschichtlichen Hintergrund entwerfe, ist das kein Selbstzweck, sondern zollt dem künstlerischen Anspruch Vorés Respekt, der bei vollem Bewusstsein des Unvollendbaren ein ästhetisches System anbietet, das auf das fragile Gesamtbild des menschlichen Wesens zielt. Voré erweist sich (…) als Nachfahre der Romantik, als deren Protagonisten sich einer sprichwörtlich gewordenen Ironie bedienten, die auch in Vorés Werk vorhanden ist. Nicht ohne Witz macht er den antiken Mythos zum Steinbruch respektive zur Baustelle, das macht ihm auf seine Weise nicht so schnell einer nach.

Lassen wir Voré selbst zu Wort kommen. »Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen menschlicher Existenz und Befindlichkeit findet ihren Spiegel in Skulpturen mit fein geschliffenen Formteilen, mit Splitterungen und rauhen Brüchen (…), an denen der Entstehungsprozess ablesbar bleibt«, und die genauso wie die zweidimensionalen, malerisch-zeichnerischen und reliefartigen Arbeiten die »Ambivalenz von Arbeit mit Spuren von Zerstörung« dokumentieren. Das Werk Vorés ist klassisch, als es gleichzeitig vergangen, erinnert und gegenwärtig ist. Und es ist in fast dadaistischem Sinne antiklassisch, als es den schönen Schein in Frage stellt, um einer Schönheit des Fragments und des verletzen Seins Platz zu machen. Wir leben in einem kulturellen Umfeld der Torsi und des Non finito: Die Venus von Milo ist so gegenwärtig wie die unvollendete h-moll-Sinfonie von Schubert, die kriegszerstörte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin wie der neuerdings ruinierte Bahnhof in Stuttgart, ein Meteoriteneinschlag wie ein vom Tsunami zerrissenes Kernkraftwerk. Alles eine Art von Fragmentierung. Das »fractum« steht in einem brüchigen Bezug zu einem Ganzen, von dem es sich abgespaltet hat. Der Künstler-Dichter Christoph Meckel schrieb in den 1970ern, als Voré zu seinem ganz eigenen Stil fand: »Wer in der Kunst etwas macht, wird immer wieder das Unmögliche wollen. Er kann nicht weniger als die totale Mitteilung wollen, und wird am Ende seiner Arbeit erkennen, dass er wieder nur eine Grenze erreicht, ein Bruchstück gemacht hat.«

(…) Der Körper ist eine Baustelle. Bei dem Gedanken zuckt man möglicherweise zurück. Merkwürdig genug: Längst sind wir im Facebook- und i-Phone-Zeitalter daran gewöhnt, den Menschen als gläserne Gefällt-mir-Zugabe zu akzeptieren, mehr oder weniger widerwillig, und kaum einer regt sich noch auf, wenn der Mensch als gehäutete und entseelte Muskel-, Sehnen- und Witzkreatur zur Schau gestellt beziehungsweise entstellt und lächerlich gemacht wird – das Ganze nennt man dann groteskerweise »Körperwelten«. Wie sinnlich, wie zart machen sich da plötzlich die Körperwelten im Werk von Voré aus. Ein Trümmerwerk wohlgemerkt, aber in aller Würde und in aller tiefgehenden, geheimnisvollen Schönheit. Voré unterscheidet klar zwischen Realität und Fiktion, das heißt, er spielt souverän mit ihren Überschneidungen. Das zeichnet alle gute Kunst aus, ist aber nicht mehr generell gültig und für jedermann erkennbar, sodass der Zugang heutzutage durchaus erschwert wird. Das ist kein Drama, aber es muss mehr denn je betont werden, um den Genuss zu erklären, die diese Arbeiten bereiten können.

Zu sehen sind in den Installationen unserer Schau Sandsteinfragmente, Stahlpaletten, Gerüstrohre samt Schellen und Handwerksgerät, Bau- beziehungsweise Steinschutt, Bleistift-, Kohle- und Pastellzeichnungen sowie Zeitungsausrisse, Computergrafiken und sogar Bildhinweise auf frühere Performances. Die insgeheim wohldurchdachte Komposition, die all das wie beliebig ausgebreitet erscheinen lässt, vermittelt den Eindruck, als würd hier gerade gearbeitet. Das passt nicht zur stillen Einfalt und edlen Größe klassisch ponderierter Ausgewogenheit. Der Künstler hat Arbeitsspuren hinterlassen, präsentiert ein Bild in situ, eben als Baustelle, die sich allerdings kaum von einer Grabungsstelle unterscheidet.

Hinreißend finde ich den Umgang dort oben auf der Empore, der sich mit Blick auf die Installation zum Baugerüst wandelt. Faszinierend, diese Spuren: Der Stein ist nicht nur gesprengt, zersägt, gemeißelt, geschmirgelt oder geschliffen, es werden auch Bohrlöcher aus dem Steinbruch, Bruchstellen und Bearbeitungsspuren des Meißels und des Zahneisens erkennbar. Planzeichnungen zitieren die dargestellten Objekte, schaffen lineare Verdichtungen, »Strichbündel«, so kommentiert Voré, »ertasten einen Körper im strukturierten Bildraum, Lineaturen sezieren und rekonstruieren figürliche Fragmente«. Das ist auf jeden Fall eine künstlerische Ebene, die formal Realsituationen imitiert: Der Reiz der Zeichnung insgesamt ist seine Freiheit, denn in der Natur gibt es keine Linien. Kunstvoll, da an antike Ausgrabungsstücke erinnernd, sind auch die Objekte aus Baumberger Sandstein.

Im Pars-pro-toto-Verfahren zeigt Voré neben frei geformten und unbearbeiteten Steinen modellierte Gliedmaßen, Körperrundungen – einerseits artifiziell drapiert, andererseits in einer Realanmutung gesteigert, die durch die hautfarbene Oberfläche des Münsterländischen Sandsteins entsteht. Real sind auch die ausgelegten Werkzeuge des Bildhauers, aber gerade sie verweisen das Spiel mit der Realität ins Künstlerisch zurück. Dasselbe Phänomen bewirken die Bildtitel: Die Kürzel stehen für Entstehungszeiten und -orte, selten auch Inhalte (wie das A für Antigone, die allerdings auch zuweilen Ariadne den Platz räumen muss) sowie für Techniken. Sie sind also Insiderdaten, die vom Betrachter kaum entschlüsselt werden können, für den die kryptischen Zeichen an Depotsignaturen erinnern, wie man sie sich wiederum real im Kontext der Archäologie vorstellen kann. Nicht zuletzt die Computergrafiken nehmen das Wechselspiel auf: Gegenüber den klassischen Zeichentechniken zitieren oder parodieren sie eine nüchterne Arbeitstechnik, wie sie alltäglicher nicht sein kann.

Das bringt mich noch zu den hochsensiblen Arbeiten auf Papier. Mehr als andere Künstler reizt Voré das Verfahren der Mischtechnik aus. Hier noch einmal die Worte des Künstlers selbst: »Die Ausdrucksmöglichkeiten zahlreicher Materialien und Darstellungsmittel werden untersucht (…). Ordinärer Wabenkarton bleibt mit Schnitten und rauhen Strukturflächen nah am Stein. Bleistift, Kohle, Tusche, Farbpigmente und Acryl beschreiben die Motive mit ihren sensiblen bis kraftvoll dominanten Möglichkeiten, und Büttenpapiere aus eigener Herstellung reagieren malerisch auf dem Holzgrund und sind differenzierte flächige Masse gegen die zeichnerischen Anteile.«

Auch als Zeichner ist Voré ganz Bildhauer, die sinnlich-haptische Erscheinung ist ihm wichtig: Holz, Karton, Gaze, Zellstoff sprechen für sich. So gesehen können wir nicht einmal freiweg behaupten, es gehe um abstrakte Kompositionen. Vielmehr handelt es sich um Begleitwerke im großen Plan: Seien es nun Illustrationen, Entwürfe, bildhafte Kommentare zur Skulptur. Doch genauso wie die Plastiken innerhalb oder außerhalb der installativen Gruppen auch als Solitäre fungieren, sind auch die Blätter eigenständig zu sehen. Das bezeugen altägyptische Anspielungen im zeichnerischen Werk, die in unserer Ausstellungen nur am Rande aufscheinen, aber einen wichtigen Impuls für Vorés Weltbild geben.

Die Anglistin, Ägyptologin und Gedächtnisforscherin Aleida Assmann hat sich vor Jahren besorgt darüber geäußert, dass mit der gegenwärtigen Digitalisierung beziehungsweise »Informatisierung« von materiellen Artefakten »weit mehr als nur eine geheimnisvolle Aura« verloren gehen könnte. Mit ihr, so Assmann, verschwänden »Realität, Geschichte und Gedächtnis«. In seiner memorialen Arbeit rekurriert Voré genau darauf: Er überzeichnet eine derartige Informatisierung in seinen Installationen durch die Fiktion einer exakt kalkulierten Anordnung von temporär beziehungsreichen Versatzstücken. So bleiben dank der Kunst sowohl die geheimnisvolle Aura wie auch die Koordinaten von Realität, Geschichte und Gedächtnis bewahrt (…).

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