Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Luzia Simons – Florale Welten, geheimnisvolle Gärten, Galerie Schlichtenmaier Stuttgart, bis 10. September 2016

Barock anmutende üppige Blumenarrangements, von Tulpen und Chrysanthemen über Früchte bis hin zu Unkraut, dafür ist Luzia Simons bekannt und beliebt. Vanitas? Aber sicher! Günter Baumann hat sie damit restlos überzeugt. Kein Wunder also, dass er die Eröffnungsrede zu ihrer aktuellen Schau lieferte – und in ein wunderbares Werk einführte.

»Du sihst, wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden. / Was dieser heute baut, reist jener morgen ein: / Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiesen seyn / / Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden. // Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden. / Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein / / Nichts ist, das ewig sey, kein Ertz, kein Marmorstein. / Itzt lacht das Glück vns an, bald donnern die Beschwerden. // Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn. / Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn? / Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten // Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub vnd Wind; / Als eine Wiesen-Blum, die man nicht wider find’t. / Noch wil was ewig ist kein einig Mensch betrachten!«

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz herzlich zur Ausstellung »Luzia Simons – Florale Welten, geheimnisvolle Gärten«. (…) »Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden«, dichtete einst, im 17. Jahrhundert Andreas Gryphius, der 1637, als das Sonett entsteht, das Elend des 30jähriegen Krieges erlebt, der kurz darauf fast Schiffbruch erleidet auf dem Weg nach Holland, was auf stürmischer See nicht selten war in dieser Zeit. »Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten // Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub vnd Wind;, Als eine Wiesen-Blum, die man nicht wider find’t«.

Die Opulenz der Geste, das Lob der Schönheit, die einen Augenblick jedoch nur währt, kulminierend in der Wiesenblume, deren Aufblühen nicht um die Akzeptanz des Verwelkens zu haben ist – das ist die Sprache des barocken Geistes. ›Eitelkeit‹ heißt im 17. Jahrhundert so viel wie ›Nichtigkeit, Vergeblichkeit, Vergänglichkeit‹ – das deutsche Wort für ›Vanitas‹. Durch Luthers Bibelübersetzung kam der Begriff auf, in seiner Übersetzung des Alten Testaments hat er ihn platziert. »Vanitas Mundi«, die Vergänglichkeit der Welt, heißt ein anderes Gedicht, eine Ode von Gryphius, welche konkret die Tulpen auf den Plan ruft. »Was ist die Welt«, liest man da, »Die mich bißher mit ihrer Pracht bethöret?«, und weiter hinten heißt es: »Der Tulipan Wird weil er gläntzt, von Jungfern abgeschnitten; Schau Menschen an!, Sie haben Schmach, umb daß sie schön, erlitten. Vnd (wenn sie nicht entsetzt ein schneller Tod;) Ach ! Angst und Noth«. Noch Goethe wird von der »Tulpen eitler Pracht« sprechen. In den Niederlanden erreichte die Tulpe eine Sonderstellung unter den Pflanzen, die wir uns heute kaum mehr vorstellen können – so war sie auch in den Künsten allgegenwärtig. Einer der einflussreichsten Amsterdamer Bürgermeister im sogenannten Goldenen Zeitalter hieß ausgerechnet Nikolaes Tulp, was den Nationaldichter Joost van den Vondel zu einem Wortspiel verleitete: »Aldus leeft TULP in’t velt wan kunst en schilderye, / Wiens gunst de bloem herschept, als zy haer verf vergeet.« – So lebt TULP in der Welt der Kunst und Malerei, / Dessen Gunst die Blume erschafft, wenn sie längst ihre Farbe vergessen hat…

Was hat das mit Luzia Simons und Brasilien zu tun? Salomonisch will ich im Moment nur sagen: Alles und nichts. Dass die Tulpen eine Rolle spielen, ist unübersehbar. Abgesehen von der Chrysanthemen-Reihe dominieren sie die Szenerie der Ausstellung deutlich: übergroß und vital kommen sie förmlich über uns, auf den einen mag dies bedrohlich, auf den anderen magisch wirken. Und mit ein paar Seh-Erfahrungen sind wir auch schnell im Thema, verorten das Motiv bei den Alten Meistern der niederländischen Malerei – auch wenn wir natürlich ebenso rasch erkennen, dass die Bilder nicht gemalt sind. Nur bei der Vermutung, es könnte sich um Fotografien handeln, stockt der Blick: Die flächendeckende Brillanz in der Tiefenschärfe sowie die Arrangements der Blumen lassen uns instinktiv oder bewusst spüren, dass dies keine Fotos sind. Der Clou ist, dass Luzia Simons Scannogramme erstellt. In dieser künstlerischen Technik ist sie eine Pionierin, doch dazu komme ich noch. Zunächst geht es mir darum, die zeitlich-kulturellen und gesellschaftlich-politischen Hintergründe zu beleuchten. Sie sehen selbst, dass hier nicht einfach Blumen gezeigt werden. Luzia Simons verortet das Blumenstillleben zwar im 17. Jahrhundert, um es jedoch über die digitale Technik für unsre Gegenwart tauglich zu machen im Hinblick auf interkulturelle Identität, Migration und globale Vernetzungen.

Wenn es allein ums Lob floraler Schönheit ginge, hätte Luzia Simons auch die Königin unter den Blumen, die Rose, nehmen können. Die Tulpe bietet ihr gegenüber jedoch eine viel größere Artenvielfalt mit Hunderten von verschiedenen Typen. Ob glatte oder zerzauste Blütenoberflächen, gelb-orange oder violette Farbigkeit – jedes Bild ist eine neue Begegnung vor dem Faszinosum der speziellen Tulpenpracht. Nun kommt man nicht umhin, bei dieser Blume an die Niederlande zu denken. Das ist gewollt. Von hier aus entfaltet sich eine ganze Kultur- und Wirtschaftsgeschichte: Die Tulpe ist, das ist hier wesentlich, ganz und gar kein holländisches Pflänzchen. Vielmehr kam sie von Persien über die Türkei nach Europa, wo sich insbesondere in den Niederlanden ein Boom entspann, der seinesgleichen sucht: um 1630 gab es dort 800 namentlich unterschiedene Tulpensorten. Der Name stammt her vom türkischen ›tülband‹ für das Turbanband, dann auch für den Turban selbst; seit 1550 ist der Begriff »Tulipan« verbreitet – das vorhin zitierte Gryphius-Gedicht verwendet ihn. Die Begeisterung für die Tulpe führte in Holland zur ersten Spekulationsblase der Wirtschaftgeschichte. Wie im Bilderbuch des Frühkapitalismus im 17. Jahrhundert wurde die Tulpenzwiebel mit steigenden Preisen gehandelt, mit allen Höhen und Tiefen.

Diese zweifellos wunderschöne Blume mit den unzähligen Ausformungen ließ die Börse in Amsterdam jubilieren – war die Tulpe doch dem Goldkurs vergleichbar und wurde auch nach der Goldschmiedeeinheit bemessen –, bis der Aktienwert gnadenlos abstürzte. Da der Kunstmarkt auch zuweilen seltsame Blüten treibt, will ich ein paar Zahlen nennen, die deutlich machen, warum die Tulpenmanie bis heute als Symbol für riskante, irrationale Finanzentwicklungen steht. Wie wir täglich erfahren, bietet unsre Zeit auch ihre Kapriolen. Der Händler- und Sammlerkreis war damals entzückt über die Exotik und Exklusivität der Pflanze, die gleichsam den anspruchsvollen wie den dekorativen Sinn befriedigte. Spekulanten trieben den Preis hoch: 30 Gulden für eine einzige Blume wurde die Regel, bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 150 Gulden, im Tauschhandel musste man für eine Tulpenzwiebel vier Ochsen, acht Schweine oder ein Dutzend Schafe in die Waagschale setzen. Selten stieg ein Preis für eine Tulpenzwiebel sogar auf 30.000 Gulden, dreimal mehr, als man für ein ganzes Haus an einer der Hauptgrachten in Amsterdam zahlen musste. Das geschah in einer Zeit, die der Vergänglichkeit huldigte, die jene barock überbordende Schicksalhaftigkeit am schärfsten formulierte, wie ich mit meinem Gryphius-Gedicht eingangs andeutete. Vanitas vanitatum vanitas, es ist alles eitel, so gab man sich in großer Geste dem Schicksal – ich könnte auch sagen: Gott – in die Hand.

Luzia Simons erneuert die Tradition der Vanitasdarstellung in starken Bildern. Betrachten wir die Blumenbilder von Luzia Simons genauer, entdecken wir neben all der kraftstrotzenden Pracht der Blüten genügend Spuren für deren Verfall. Welke Strukturen hier, Beschnitt dort, einzelne gefallende Blütenblätter und gestreuter Pollen da: Zeichen des Werdens und Vergehens sind überall zu beobachten. Doch ist diese Kehrseite des Blühens hier Bestandteil des Lebens, wohl überstrahlt von einer fast bedrückenden Schönheit. Sie ist wie ihre zerstörerische Schattenseite Teil eines alle Grenzen sprengenden Denkens. Es ist spannend zu beobachten, wie sich die Gesellschaft im 17. Jahrhundert globalisierte, oder sich zumindest anschickte, global gedacht zu werden. Unsere Zeit ist dem 17. Jahrhundert näher, als uns gemeinhin bewusst ist. Die Tulpe, so wäre die Botschaft, steht in der Kunst damals und im Werk von Luzia Simons für Kulturaustausch, konkret zwischen Vorderasien bzw. Orient und Europa, im allgemeinen für den Kulturaustausch schlechthin. Im Jahr 2015 setzte eine Gruppe syrischer Flüchtlinge im Amsterdamer Vondelpark 35.000 Tulpenzwiebeln um das Standbild des Dichters herum. Nebenbei sei angemerkt, dass Joost van den Vondel – der Goethe unter den niederländischen Literaten – in Köln geboren wurde, streng genommen ein Ausländer im eigenen Land.

Sie (…) merken selbst, dass das anekdotische Flair zunächst gar nicht relevant ist beim Betrachten der Bilder, deren unmittelbare, absolut verblüffende Wirkung außer Frage steht. Luzia Simons bezieht aber ganz bewusst die Geschichte der Tulpe als Grundlage ihrer Arbeit mit ein – kein Wunder, verquickt die Künstlerin und studierte Historikerin doch ihre eigene Vita mit dem Transfer-Gedanken des 17. Jahrhunderts. Geboren in Brasilien, kam Luzia Simons in den 1970er und dann wieder in den 1980er Jahren zum Studieren nach Paris und zog 1986 nach Stuttgart, 2008 weiter nach Berlin, wo sie heute lebt und arbeitet. Besser heißt es: Sie arbeitet fast weltweit, insbesondere in ihren angestammten Wirkungsorten – ich nenne hier nur die zur Zeit gezeigten Monumentalwerke in den Archive Nationales in Paris, von denen Sie zwei kleinere, noch immer recht stattliche Versionen beim Eingang der Galerie bewundern können. Wenn Luzia Simons die Tulpen zum Schwerpunkt ihrer Arbeit macht, wenn sie diese in einer Weise arrangiert, dass sich Überschneidungen, Annäherungen, Distanzierungen, Stielbrüche – hier mit »ie« geschrieben –, ja gewaltsame Eingriffe ergeben, dazu die ästhetischen Bezüge zur Vergänglichkeit aufgegriffen werden, dann verquickt sie diese Konstellationen mit den eigenen und darüber hinaus mit den gegenwärtigen, globalen Migrationsbewegungen. Dass dies nicht abwegig ist, zeigt sich in früheren Arbeiten Luzia Simons’ über die Transferproblematik, über Identität und Seinsverlust.

Die kulturhistorische Distanz, die Mitteilung »durch die Blume«, ermöglicht eine offenere Auseinandersetzung ohne Anklage oder Wehklagen. Kultureller Austausch heißt möglicherweise Verlust, aber auch Bereicherung, die Erkenntnis, jedem Vergehen folge ein neues Werden, ein Neubeginn: denn jedem Anfang wohnt – um Hermann Hesse zu bemühen – »ein Zauber inne«. Die Tulpe verlor, so kann man pathetisch sagen, im 17. Jahrhundert die Unschuld ihrer natürlichen Ursprünglichkeit. Bereits damals fiel allein diese Blume aus der Kategorie der reinen ›Naturalia‹ heraus und wurde von manchen Autoren den sogenannten ›Artificialia‹ zugesprochen, das heißt, sie wurden wie Kunstwerke behandelt. Die Welt, die Luzia Simons uns vorstellt, ist überwältigend schön. Aber sie ist alles andere als dekorativ, denn es verlangt nach einer außergewöhnlichen Fähigkeit, diese Schönheit bis in ihre Hinfälligkeit weiterzudenken und sie zugleich mit der europäischen, ja globalen Kulturgeschichte zu verknüpfen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, macht das Werk von Luzia Simons einzigartig. Ich würde ihre Blumen-›Porträts‹ aufgrund der existenziellen Präsenz ohne Zögern neben die der Fotografin Marie-Jo Lafontaine und die der Malerin Georgia O’Keefe stellen – Letztere zählt immerhin zu den teuersten Künstlerinnen der Gegenwart. Die Online-Redaktion von ›art – Das Kunstmagazin‹, Deutschlands Vorzeige-Kunstzeitschrift, verwies letzthin auf die Künstlerin und wird ihr im Septemberheft einen Beitrag widmen.

Ich könnte noch weiterschwärmen und das vielfältige und doch so einheitliche Schaffen der Künstlerin en détail ausbreiten. Stattdessen gebe ich nur ein paar Wege vor, denen Sie beim Rundgang folgen mögen. Die Speicherung bzw. Lagerung – so wäre der Titel aus der Serie »Stockage« zu übersetzen – bezieht sich auf das Sammeln und den Umgang, den Handel mit bestimmten Pflanzen, die als Botschafter im »Transfer durch die verschiedenen Kulturen«, so Simons, fungieren. Wir werden sehen, dass dies bei der technischen Ausführung auch den Datentransfer enthält. Die Chrysantheme, der Luzia Simons eine weitere, hinreißend schöne Reihe widmet, nahm im 17. Jahrhundert einen anderen Weg, den über Ostasien nach Europa. Avancierte diese vielblättrige und vielfältig in Erscheinung tretende Blume in Japan zur kaiserlichen Nationalpflanze, die für Langlebigkeit und ewige Liebe, Bescheidenheit, Würde und Mut stand, entwickelte sie in Europa eine eigene transzendente Symbolik, die aus der reifen Tugendhaftigkeit ein Vanitas-Image verlieh, das in Verbindung mit der Liebe über den Tod hinaus gebracht wurde.

Andere Assoziationen wecken die Bilder aus der Serie der »Blacklist«. In der filigranen Anordnung der Details vor neutralem Hintergrund muten sie an wie eine Hommage an die Insektenforscherin und Zeichnerin Maria Sibylla Merian, die – wiederum im 17. Jahrhundert – von Frankfurt am Main nach Amsterdam übersiedelte: auch eine Wanderin zwischen den Welten. Hier kommt noch ein spielerisches und metamorphotisches Moment im Werk hinzu: Luzia Simons kombiniert pflanzliche Materialien so, dass insektenhafte Wesen entstehen, in surrealer Überzeichnung. Wirklichkeit und Fiktion rücken nahe aufeinander zu. Auch das ist eine Referenz an das Barock und an unsere Gegenwart. An dieser Stelle kann ich nur noch andeuten, dass sich das Werk nicht an der Blumendarstellung erschöpft – die teilweise aquarellierten Zeichnungen mit dem Reihentitel »Unkraut« sowie die installativen Arbeiten zeigen, dass sie die Flora auch im räumlichen Bezug verankert: Garten und Park werden hier auf mal poetische Weise, mal spielerisch vorgestellt. Finden sich in den großformatigen Zeichnungen Grundrisse fiktiver Parks hinterlegt, kann die blühend rote Installation mit floral-ornamentalen Strukturen nur einen kleinen Eindruck vermitteln, wie sich das Werk gedanklich vom Innen- zum Außenraum erweitern ließe. Die Ausstellung kann hier leider nur Momente eines nahezu unerschöpflichen Œuvres aufzeigen.

Zurück zu den »Stockage«-Bildern. Wie ist das Ganze nun gemacht? Die barocke Malerei ist die Urahnin, die Fotografie ist allenfalls über die Seitenlinie des Fotogramms eine Verwandte. Luzia Simons verwendet hier eine ganz andere Technik. Vorbereitet von den Bildern der Camera Obscura, die in den 1990er Jahren entstanden, die sich nur ästhetisch an der Fotografie orientieren, ging sie früh andere Wege. Übrigens sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, dass die Camera Obscura lange vor der Erfindung der Fotografie eingesetzt wurde. Unter anderem verwandte Jan Vermeer sie nachweislich – um in der Zeit des niederländischen Goldenen Zeitalters zu bleiben. Unabhängig von der inhaltlichen Verfremdung ermöglicht diese Technik eine quasifotografische, sprich vorlagentreue Widergabe. Zeitgenössische Künstler wie eben auch Luzia Simons experimentierten erneut damit, um eine Parallel-Realität zur tatsächlichen Fotografie zu erschaffen.

Die teils monumentalen Blumenbilder haben mit der Fotografie dagegen nichts zu tun, sie sind gescannt. So lapidar das klingt, so entschieden und konsequent fügt sich diese Technik in die Ästhetik und in das kulturhistorische Verständnis der Künstlerin ein. Um das gleich klarzustellen: Luzia Simons legt nicht einfach Blumen auf den Scanner – sie arrangiert penibel und langwierig jede Blüte, jeden Stiel, arbeitet von unten nach oben unter Berücksichtigung, dass die Blütenpollen auf die Glasplatte fallen und später auf dem ausgedruckten Bild im Raum zu schweben scheinen. Das betrifft auch zahlreiche Blütenblätter, die während des Scan-Vorgangs abfallen. Während die Blumeninstallation über einen Zeitraum von etwa einer Stunde zeilenweise optisch abgetastet wird, entwickelt sich eine solche Hitze, dass der Welkungsprozess beschleunigt wird. Anders als bei der Fotografie wird kein Fokus auf Details gelegt, die – vergleichbar der menschlichen Wahrnehmung – außerhalb des Fokus liegende Bereiche unscharf werden lässt, gewissermaßen ausblendet. Vielmehr ist das Bild flächendeckend tiefenscharf. Anders als die Fotografie sehen wir kein bildlogisches Arrangement, das entsteht, wenn wir Blumen wie Models in eine Vase stellen. Vielmehr baut Luzia Simons ihre Bilder so zusammen, dass dem Mit-, Gegen- und Übereinander eine größere dramaturgische Rolle zukommt. Nichts ist kompositorisch dem Zufall überlassen, auch wenn die natürliche Lebensdauer und die Wandelbarkeit der Protagonistinnen begrenzt und unter der hohen Temperatur unwägbar ist. Abgesehen davon ist der Bildaufbau eher der Hinterglasmalerei vergleichbar, die hier überrascht und den Eindruck irrationaler Gestaltung nahelegt: Durch den dunklen Hintergrund wähnt man die Blumen im freien Fall oder gehalten in einem energetischen Feld. Schöner Schein und reales Sein, Kunst und Natur fallen in eins und treffen sich in einem virtuellen, zeitlosen Raum, wo sich Vergangenheit und Vergänglichkeit, Gegenwart und Gegenwärtigkeit in der Schwebe halten. Wem die gescannten Blumen von Luzia Simons aus heutiger Warte zu nahe an den Vorlagen sind, dem sei ein Blick auf jüngere, pastellartig leichte Bilder empfohlen, die ans Rokokohafte rühren: Tatsächlich malt sie hier unmittelbar auf die Glasplatte, auf der die Blumen drapiert werden. Dass der überbordenden Blüte und vitalen Vegetation die morbide Seite der Vergänglichkeit zur Seite gestellt ist, ist ein Tribut an die Wirklichkeit und das Leben – und zugleich ein Reflex auf die Vanitas-Vorstellung, die insbesondere im 17. Jahrhundert das Denken prägte. Luzia Simons, die hierfür den Begriff »Digitales Barock« verwendet, ermöglicht der Phantasie Räume, in denen der Betrachter grenzenlos und zeitvergessen schauen und walten kann – im Hier und Jetzt.

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