Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Martin Bruno Schmid – Das erhabene Gefühl durch Wände gehen zu können. Bohrstücke, Böblinger Kunstverein, bis 26. Juni 2014

Martin Bruno Schmids Kunst ist besonders flüchtig und besonders beeindruckend in ihrer Flüchtigkeit. Er zeigt Bohrlöcher und Bohrstaub. Damit stellt er das Nichts in den Mittelpunkt seines Schaffens und thematisiert zugleich einen elementaren Bestandteil des Kunstbetriebs: Das Anbringen der Kunstwerke in den Galerien, jedes Mal neu, immer wieder anders. Günter Baumann hat sich näher mit dieser Kunst des Nichts auseinandergesetzt.

Martin Bruno Schmid ist zu sehen. Ich sage das so lapidar, weil es in seinem Werk schon mal passieren kann, dass von seinem Tun zuweilen nur Bohrstaub übrig bleibt, salopp gesagt: nichts, wenn wir es von der herkömmlichen Ertragserwartung her sehen. Aber so einfach können wir es uns nicht machen, immerhin hat es auch das Nichts zu zwei philosophischen Weltanschauungen gebracht, die gegensätzlicher nicht sein können – auf der einen Seite das Lebens- beziehungsweise das Fernziel des Buddhismus, das die Freiheit von allen Lasten des Lebens propagiert, zum anderen die pessimistischste aller Philosophien, der zufolge am Ende alles für die Katz gewesen sein soll. So geistert der Begriff des Nichts zwischen Nirwana und Nihilismus umher. Und das Interessante daran, auch im Hinblick auf die Kunst von Martin Bruno Schmid, ist, dass an diesem Begriff auch das Leben an sich dranhängt, ohne das eben auch nichts enden kann. Sprichwörtlich kennen wir auch die Alternative zwischen Alles oder Nichts, die beide Möglichkeiten bereit halten muss. Und nicht ohne Grund dachten nicht wenige Denker über das Zusammenspiel von Sein und Nichts nach. Also so einfach ist das nicht mit einer Kunst, die ihre Lebendigkeit aus dem Bohrloch oder der Bohrung heraus bezieht. Ich erwähnte den Aufbau: Die Kunst von Schmid heißt voller Körper- und Geisteseinsatz…

Auf einem langen Spiegeltisch häuft sich eine lange, hochgratverdächtige Bahn Bohrstaub. Die technischen Angaben machen daraus kein Geheimnis. Für mich ist gerade diese Anordnung so faszinierend, die in ihrer Einfachheit minimalistische Züge trägt, und zugleich eine Komplexität ahnen lässt, die der konzeptionellen Kunst eigen ist. Wo sichtlich so wenig derart viel Eindruck macht, kann man sich existenzielle Fragen anschaulich machen, die das menschliche Denken von jeher geprägt haben. Warum – so lautet die berühmte metaphysische Frage, die der Aufklärungs-Philosoph Leibniz stellte – ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Denker-Zunft hat diesen Fragesatz vielfach umgewandelt. Schelling schreibt: Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas? Heidegger formuliert den Leibniz-Satz geringfügig um: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Das Sein ist dabei abstrakt, kann aber auch – wie es Hannah Arendt tut – personalisiert werden: Warum ist überhaupt jemand und nicht niemand? Es geht bei allen um die letzten W-Fragen. Und muss man immer eine Antwort finden? Schopenhauer wischt alles vom Tisch und meint: Lieber nichts als etwas. Nietzsche sah das wohl nicht anders. So steht der moderne Mensch nun da, forscht dem Dasein physikalisch und kosmologisch hinterher. Aber wissen wir deshalb mehr? Ein gläubiger Mensch hat noch eine Ahnung, wo alles herkommt und wohin alles geht. Doch eine Seinsgewissheit kann man heute nicht mehr daraus ableiten.

Martin Bruno Schmid bohrt Löcher. Zu denen komme ich gleich noch zurück. Zunächst mal stellen wir fest: Es verschwindet etwas – wer denkt schon an den Bohrstaub, der eher unseren Missmut hervorruft, macht er doch nicht Halt vor Kleidung oder Teppich. Flüchtig und wenig geschätzt, sind die Bewahrungsaussichten des pulverigen Zeugs minimal: was der Wind nicht erledigt, fällt dem Staubsauger anheim. Was bleibt ist das Loch, also nichts. Schmid sammelt den Staub als das, was zuvor noch Teil einer Wand war und regelrecht vernichtet wurde. Den nichtigen Abfall inszeniert, ja zelebriert Martin Bruno Schmid aufs Neue, streut ihn auf eine Spiegelfläche, auf geordneten Spuren. Ist der Spiegel zufällig gewählt? Kann sein, aber selbst dann drängt sich die eine oder andere Bedeutung auf, ob wir oder der Künstler es wollen oder nicht. Automatisch stellt sich der Spiegel als Objekt der Selbst-Bespiegelung, der Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild dar. Die präzise Wiedergabe im Spiegel steht für klaren Verstand, die Metapher des Seelenspiegels ist fast schon ein Gemeinplatz. Der Buddhismus kennt den Spiegel als eine der elementaren Kostbarkeiten auf dem Weg zur Erleuchtung. Spiegel heißt auch schlicht Widerspiegeln: der Bohrstaub wird somit so etwas wie die Kehrseite des Loches. (Das wäre sogar wörtlich zu nehmen.) Die gespiegelte Fläche lässt aber den Staub als unwirklicher erscheinen als das Loch in der Wand – das Nichts ist Realität, das Etwas allenfalls eine scheinbare Gegenwelt, die die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu erkennen. Der Zen-Buddhismus kennt den weisen Spruch, demzufolge etwa Fahrradspeichen in der Nabe aufeinandertreffen, dort, wo die mittige Leere das Rad ausmacht, oder ein Tonkrug erst in seiner Hohlform zum Gefäß wird.

Können wir so weit gehen, die Bedeutung einer Wand erst durch die Löcher zu definieren? Ich erinnere an den Titel, den Martin Bruno Schmid der Ausstellung gegeben hat: DAS ERHABENE GEFÜHL, DURCH WÄNDE GEHEN ZU KÖNNEN. Das imaginäre Abbild der Bohrung auf dem Spiegel – anders lässt sie sich ja nicht wirklich darstellen – ist zugleich ein Sinnbild der Entmaterialisierung: sei es in der Leerstelle der Wand beziehungsweise Rigipsplatte, sei es in jener pudrig-substanzarmen Gestalt. Das formal zu Nichts verwandelte Etwas macht das im Titel genannte Gefühl aus, durch Wände gehen zu können. Erhebend nennt es der Künstler – in diesem Wort schwingt Genugtuung mit, ein wenig auch die Anspielung auf die Schwebeseligkeit nach Koksgenuss (natürlich nur theoretisch), aber auch und vor allem das Bewusstsein von Macht über Widerstände hinweg. Martin Bruno Schmid macht sich damit zum Grenzgänger – eine Rolle, die die Künstlerzunft oft innehat, im günstigsten Fall. Schmid ist hierin besonders radikal, geht er doch auch über alle formalen und inhaltlichen Grenzen hinweg. Gattungsbezeichnungen gehen hier ins Leere, am ehesten handelt es sich um Skulpturen, aber in ihrer Nähe zur Zeichnung sind wir schnell irritiert. Sind es Arbeiten in der Fläche? Sind es Reliefs? Und die Installation? Ist sie ein Materialobjekt oder vielmehr eine antimaterielle Arbeit? Martin Bruno Schmid steht in einer interessanten Tradition: Verbindungen kann man zu den konzentrierten Blütenbildern Wolfgang Laibs ziehen, aber auch eine Linie zu den Concetti Spaciale von Lucio Fontana oder zu den geschliffenen Wandstücken von Karin Sander bieten sich an – da über die assoziativen Verknüpfungen allerdings keine Beziehung zu den genannten Kollegen besteht und sich auch keine Abhängigkeit herleiten lässt, geben diese Namen nur den gedanklichen Raum wieder, den Schmid mit seiner Kunst betritt. Einen Vergleich braucht er nicht zu scheuen.

So, nun habe ich genügend Transzendenz verbreitet und kehre in die profane Welt zurück. Wie heißt es doch bei Ludwig Wittgenstein: Ersparen wir uns doch den transzendentalen Quatsch, wenn alles so klar ist wie ein Kinnhaken. Wo so viel Bohrstaub ist, kann das Bohrloch nicht weit sein. Was Martin Bruno Schmid ursprünglich dazu bewogen hat, den Akt des Bohrens zum Thema zu machen, ist wohl in der Tat sehr weltlich. Jeder Ausstellungsmacher kennt das: Nach der Ausstellung bleibt das Unbehagen einer malträtierten Wand: Löcher, Bleistiftzeichen, Farbspuren. Zuweilen gibt allein ein solch schaler Anblick zu denken: Ist es das, was von einer Ausstellung übrigbleibt? Martin Bruno Schmid nimmt das Motiv der angegriffenen Wand auf, macht sie zum Gegenstand, sei es direkt an den Museumswänden oder auf Rigipsplatten oder auf dem Papier. Wenn man die hier ausliegende Karte mit der langen Spiegelplastik umdreht, liest man in der Anmerkung: »ausgebohrt aus Wänden der Lewis Glucksman Gallery in Kork, Irland«. Nebenbei bemerkt, der Bohrstaub auf diesem Spiegel stammt aus dem Großauftrag für ein Schweizer Unternehmen, deren zu installierende Rigipsdecken er angebohrt hat – eine Heidenarbeit. Doch zurück zur Ausstellungswand beziehungsweise zur Wand auf der Wand, die sich (auch das nebenbei) im Spiegel vervielfältigt. Es mag destruktiv zugehen im Schaffen von Martin Bruno Schmid, doch zugleich bauen sich sinnliche Ebenen auf, die ganz Neues hervorbringen. Die unfreiwillig in ein temporär-rezeptives Kunstwerk verwandelte Museumswand mag als Inspirationsquelle dahingestellt sein. Denken wir uns diesen an sich wertlosen Zustand weiter, wie es Schmid tut, entstehen ästhetische Objekte. Bewusst vermeidet er jegliches Ornament, überlässt es dem Zufall und dem Bohrer, welche Strukturen hervorbringen, die an informelle Malerei erinnern. Wer die aufgerissene Oberfläche genau betrachtet, wird Farben wahrnehmen, die die unbehandelte Fläche so nicht aufwies. Abgesehen davon schafft sich der Bohrgrund – ich verwende den Begriff parallel zum Malgrund – regelrecht Raum. Unschwer ist zu erkennen, dass Schmid den Raum nicht nur physisch, sondern unmittelbar psychisch wahrnimmt und gestaltet. Staub zu Staub. Die religiöse Anspielung hat hier Allgemeingültigkeit. Die Wände, die uns Schutz geben, mit denen wir unseren persönlichen Raum zieren können, sind am Ende das, was wir auf dem Spiegeltisch sehen: Staub, selbst flüchtig, letztlich schutzbedürftig.

Dazu kommt das Papier. Da es sich im Gegensatz zur Wand um ein vorab schon fragiles Material handelt, verstärkt sich der Eindruck des sinnlich-ästhetischen Aktes. Akribisch durchlöchert Martin Bruno Schmid zum Teil riesige Formate mit dem Bleistift. Das ist natürlich ein Reflex auf die Wandbohrungen. Wenn er jedoch danach auf dem Papier zeichnet, legt sich dieses in eine filigran reliefierte Form, die auf dem Bildträger nur an wenigen Stellen fixiert wird, in einem gefühlten Schwebezustand. Alle Graustufen von Weiß bis Schwarz sind vorstellbar – je nach Entfernung des Betrachtens sehen wir eine im Grau changierende Fläche oder ein sich auflösendes Gewebe. Dazu kommen aluminiumbedampfte Blätter, welche die Wertigkeitsfrage durch ihren Silberglanz neu aufwerfen. Zu den Papierarbeiten gehören auch die bearbeiteten Zeitschriften, bevorzugt Hochglanz-Modeblätter, deren Titel wir uns nur zu gut und nur zu bunt vorstellen können: Gentlemen’s Quarterly, Vogue usw. Apropos: Zufällig las ich vorgestern in der Zeitung unter dem Titel: »Ronaldo – Nackt auf dem Vogue-Cover« eine Meldung, wonach der Fußballer neben seiner bekleideten Freundin mit Waschbrettbauch für die Zeitschrift posierte, mehr war aber wohl auch nicht zu sehen. Schmid schmirgelt Titelblätter solcher Publikationen ab, bis entweder ein weißes Deckblatt übrigbleibt oder ein abstraktes Bild mit sparsamsten Strukturen. Auf die zufällige Meldung bezogen, erkennt man das Spiel mit der Phantasie, die Kunst des Verhüllens und die der Entblößung, des eingebildeten Hinzufügens und des Wegnehmens, von Schein und Sein. Facepeeling nennt Martin Bruno Schmid seine Zeitschriftenobjekte, die übrigens auf dem Rückenstreifen ihre Herkunft nicht verleugnen, auch wenn dessen Farbigkeit nur einen Akzent setzen gegenüber der schonungslosen Eliminierung der Vorlage. In diesen » Peelings« schwingen gesellschaftskritische Töne mit: Die künstliche Welt von Vogue und Co. schleift er bis auf Farbspuren ab, um so seine künstlerische Welt triumphal dagegen zu stellen. Eine Welt übrigens, deren Bewohner höchst real mit der natürlichen Alterung, gegen physische und seelische Wunden zu kämpfen haben, die gegen jeden schönen Schein irgendwann der Auflösung anheimfallen. Lustvoll erinnert uns der Künstler daran, dass die Welt vergänglich ist. Mit einfachsten Mitteln vermag er dabei auch die Schönheit und die sinnlichen Reize zu vermitteln, die diese Welt bei aller destruktiver Energie bietet – denn selbst die hat einen konstruktiven Sinn. (…)

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