Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Max Peter Näher – Malerei, Kulturverein Zehntscheuer e.V., bis 16. Januar 2011

Der Künstler Max Peter Näher lässt sich, gewollt oder ungewollt, auf die Phänomene der Erinnerung und des Gedächtnisses ein. Dabei macht er die Erinnerungskultur nicht explizit zum Beweggrund, es ist vielmehr der Betrachter, den über Nähers Malerei regelrecht die Erinnerung einholt. Lesen Sie hier einen Auszug aus der Eröffnungsrede von Günter Baumann.

(…) Hinter mir sehen Sie fünf kleinformatige Gemälde von Max Peter Näher, deren heftiger Pinselstrich an die gestische Malerei des Informel erinnert, wäre da nicht eine kompositionelle Spur, die den Betrachter wachsam machen sollte: Die zwei unteren, farblich eindeutig dominierenden Drittel dieser Bilder geben quasi den Abstraktionsgrad vor, der im oberen Drittel in eine Gegenständlichkeit übergeht, die zunächst irritiert. Wie ein ruhender Pol sehen wir eine Figur, deren sichtbarer Oberkörper zumindest ahnen lässt, dass es eine stehende Person ist. (…) der Titel dieses Quintetts aus dem Jahr 2010 heißt (…) »Variationen Raum/Figur« und ein Hinweis verrät uns, dass es sich um übermalte Drucke handelt. Und in der Tat, die fokussierte Figur ist offenbar immer ein und dieselbe. Ob es sich um einen Hochdruck, sprich: einen Holz- oder Linolschnitt, handelt oder einen Massendruck, etwa einen Siebdruck, ließe sich vielleicht klären, wenn wir ein Blatt aus der Serie aus dem Rahmen lösen würden. Doch das ist nicht entscheidend. Machen Sie sich das Vergnügen und bringen Sie sich das Bild in eine gewisse Ordnung: Es ist nämlich nicht nur die Person im oberen Drittel, sondern auch der Raum hinter ihr – ich vermute mal ein Innenraum mit einer seitlichen Wand zur Linken, im Hintergrund ein Fenster sowie Einrichtungsgegenstände, dazu scheint der Fußboden mit perspektivisch angedeuteten Dielen vorhanden zu sein. Aber was ist schon sicher in unsrer Wahrnehmung. Vorne links taucht ein Rasternetz auf, das mehr oder weniger deutlich auf allen Blättern zu erkennen ist. Hat es noch mit dem Raum zu tun? Wie weit geht nun die Übermalung? Denn woher können wir wissen, dass der untergründige Druck die ganze Fläche bedeckt? Was gewinnen wir überhaupt, wenn wir wissen, dass eine realistische Szene dargestellt ist, die übermalt wurde? Denn plötzlich drängt sich auf einem der Blätter das kopfstehende Bildnis eines Hundes mitten ins Bild – formvollendet mit dem Lizenzvermerk »Foto Reuters«. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Zeitschrift, deren Realitätsgrad natürlich höher ist als das künstlich erzeugte Bildnis des oder der Redenden. Immer mehr – gemalte – Köpfe erscheinen bei längerer Betrachtung, die wie erinnerte gesichtslose Doppelgänger realer Menschen ins Bild finden. Näher deutet die Illusion einer gegenständlichen Malerei an, um zugleich unmissverständlich darzulegen, dass wir nur Farbe auf einer Fläche als gegeben hinnehmen dürfen. Die prozessuale Idee besteht darin, dass er nicht das eine oder das andere malt, sondern beides: Wir sehen, wo wir es sehen wollen, ein figuratives Bild, mithin ein Raumbild; aber wir können das Bild auch als flächige Farbkomposition betrachten, die sich nach oben hin beruhigt und an einer exponierten Stelle zu einem menschenähnlichen Subjekt verdichtet. Nicht ohne Grund ist Näher zur Zeit auch in einer Ausstellung in Bad Saulgau vertreten, die »Gegenständliche Kunst heute« zeigt – mit seiner Extremposition nach beiden Seiten tritt er dort neben allerhand Realisten an, lässt sich aber ein Türchen zum abstrakten Expressionismus offen.

Der Maler hat den Weg in seinem jüngeren Werk so beschrieben, dass die früheren Arbeiten vom Gegenstand zur peinture drängen, und die späteren sich, von der schieren Malerei ausgehend, zu gegenstandsbezogenen Assoziationen bekennen. Nehmen Sie etwa ein Gemälde wie »Figuren« von 1999, das zum einen das Motiv Raum/Figur wieder aufgreift: diesmal mit einem vergleichsweise klar definierten Raum und einem klar erkennbaren Personal; doch während die Nebenfiguren ohnehin unscheinbare Existenzen sind, ist die Hauptfigur im weißen Hemd drauf und dran, sich zu entmaterialisieren – sozusagen ein triumphaler Abgang in Konkurrenz zur helllichten Fläche, die ihm zur Seite steht. Man ist fast versucht, in dem Gestus der ihm verbliebenen linken Hand ein saloppes Statement herauszulesen wie »Ich bin dann mal weg!«. Dagegen ist es schwer, in einem anderen Werk mit dem sprechenden Titel »Summer in the city« aus dem Jahr 2010 etwas Szenisches zu erkennen: Die Farbe, die sich ungestüm aneinander reibt, in einem regelrechten Aufruhr sich befindet, will Form werden, der Anflug einer Assoziationskette entsteht dadurch, dass Farbe scheinbar von den Rändern abgezogen wird, um sie im Mittelfeld einzubringen. »Summer in the city« hieß ein Nummer-Eins-Hit der Popband The Lovin‘ Spoonful Mitte der 1960er Jahre, zahlreiche Coverversionen folgten und folgen bis heute – am besten wohl Joe Cockers 1993 eingespielte Interpretation des Songs, zu dem es auch ein temporeiches, aber schwarzweißes Video mit rasch wechselnden Bildsequenzen gibt. Oder steckt hinter dem leuchtkräftigen Bild ein Stimmungsstück, das einfach unter dem sommerlichen Slogan von abertausenden Schrebergarten-Partys vage, halb vergessene Gedankenbilder im Bild versammelt.

Auf die Gefahr hin, dass ich hier über die Intention des Künstlers hinweggehe, will ich Ihnen doch meine Assoziation vor »Marlene«, der kopflosen Dame auf dem Gemälde von 2001 nicht vorenthalten. In aufreizender Gebärde sitzt sie auf dem Schoß eines nicht minder kopflosen Herren, den linken Arm um seine Schultern gelegt. Näher, der gerne Anregungen von Fotos, aus Filmen oder Illustrierten malerisch umsetzt, kommt es auf die Pose an. Wäre es ein Foto, würden wir sagen: Nun ja, das Motiv ist etwas verrutscht, es sei denn dem Urheber wäre es auf den Mann im Vordergrund angekommen, der als stiller Beobachter ins Zentrum des Geschehens schaut, das möglicherweise im nächsten Augenblick deutlich ins Private, wenn nicht gar Intime abgleitet. Das erhöht auf jeden Fall die erotische Spannung, irritiert uns als Betrachter, die wir – ich denke an die Herren in der Runde – in der Rolle des Voyeurs in spe geraten könnten. Oder denkt sich der Künstler in seinen Protagonisten hinein, der sich statt Aug in Aug mit der Angebeteten in Gedanken bereits innerhalb ihres leicht geöffneten Rocks befindet? Ich will an diesem katholischen Ort die erotische Thematik nicht vertiefen – es gäbe noch vieles zu entdecken. Einen Schwenk noch: Vielleicht darf man hier ein laufendes Filmbild assoziieren, das bei aller malerischen Freiheit das Folgebild bereits ins erste Bild einblendet: Dann gehörte der unten auftauchende Kopf dem Liebhabertypen selbst, der in der fingierten Filmsequenz vielleicht im Begriff ist, den Kopf seiner Muse zuzuwenden, die dann jedoch nach wie vor nur vom Hals abwärts präsent bliebe. In diesem Fall könnte man noch Sigmund Freud bemühen. Wie auch immer: Die Devise der Näherschen Malerei heißt nicht: What you see is what you get, sondern eher: What you see is part of a progress. Oder anders formuliert: Was wir zu sehen glauben, ist am Ende nur: Malerei.

(…) Gerhard Richter sagte einmal: »Ich misstraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln und das unvollkommen ist... Ich kann über die Wirklichkeit nichts Deutlicheres sagen als mein Verhältnis zur Wirklichkeit, und das hat dann was zu tun mit Unschärfe, Unsicherheit, Flüchtigkeit, Teilweisigkeit oder was immer.« (…) Kunst ist nie bloß ein Abbild der Realität, sondern ein Experimentierfeld für Intention und Assoziation seitens des Künstlers wie des Betrachters, wobei das Kunstwerk sich durchaus im Prozess des Schaffens und des Betrachtens verselbständigt, denn (…) unser aller Gedanken sind frei. (…)

Zeitgleich wird im Kulturverein eine Installation von Vorè gezeigt.

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