Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Pierre Fischer – Folia, Galerie im Kornhaus, Schwäbisch Gmünd, bis 11. August 2013

Pierre Fischer verwebt in seinen Arbeiten Spuren aus Gesellschaft, Politik und Geschichte. Diese wirken dadurch oft mehrdeutig und fordern den Betrachter zu einem genaueren Hinschauen auf. Mehr darüber verrät Ihnen Elke Allgaier in ihrer Eröffnungsrede.

(…) Für Pierre Fischer ist die menschliche Figur ein Hauptthema. Ihre Kraft entfaltet sie mittels intensiver Farben sowie einem Spiel von innerer und äußerer Perspektive. In Öl, Acryl, Lack gemalt werfen Fischers Bilder Fragen nach der Empfindung und Wahrnehmung auf. Somit lädt die Ausstellung im Gmünder Kunstverein dazu ein, genau hinzuschauen: In welche Umgebung bettet der Künstler seine Figuren ein? Was machen sie in der für sie geschaffenen eigentümlichen Welt? Was ist real, was ist Fiktion?

Eine kräftige Dosis Fiktion enthält das Hochformatbild mit dem Titel »Folia« (2012). Es zeigt den Höhenflug einer mit schweren Stiefeln ausgestatteten Figur. In rücklings geneigter Schräglage schwebt ein junger Mann zwischen einem sperrigen Gebäude und einer großangelegten Blumenwiese. Ein irritierendes Moment verbirgt sich in den in die verkehrte Richtung weisenden Schuhen. Hier stellt sich die Frage, welche Regung der Protagonist zeigt. Hat er Freude an seiner Aktion? Ist ihm Schmerz, Angst oder Zweifel ins Gesicht geschrieben? Von all dem ist kaum etwas zu erkennen. Der ganze Körper ist scheinbar unbeteiligt und doch zugleich konzentriert. In einer Art Flugstarre schwebt die Figur in der oberen Hälfte des hochformatigen Bildes. Mit sparsamen künstlerischen Mitteln ruft der Maler regelrecht eine Sogwirkung hervor. Das Woher und Wohin des menschlichen Flugkörpers ist unklar. Auch die Art und Weise der Steuerung dieser Start-, Lande- oder Verweilphase ist geheimnisvoll. Mit dieser Bildfindung katapultiert uns der Künstler aus der Normalität heraus.

Erlauben Sie mir einen Exkurs in die Welt der Wissenschaft: Vor zwei Wochen ging eine Meldung durch die Presse zum Thema »Fliegen per Gedankensteuerung« (vgl. Bild der Wissenschaft, Juni 2013). Ein Helikopter wurde allein durch Gedanken kontrolliert und durchflog einen Hindernisparcours. US-Forscher haben dieses erfolgreiche Experiment mit Elektrodenkappen durchgeführt, so dass Hirnströme gemessen und via Computer in Lenkbefehle übersetzt werden konnten. Der Probant war dann in der Lage, allein mit seinen Gedanken nach oben, unten, links und rechts zu lenken. Ähnlich dieser Versuchsanordnung hat auch die Szene in Pierre Fischers »Folia« den Anschein eines Experimentes auf der Leinwand, das durchgeführt wird, um daraus Erkenntnisse über die Geheimnisse des Lebens zu gewinnen. Auch wenn es nur den Anschein eines harmlosen Flugexperimentes hat, so könnte die Einzelfigur in Pierre Fischers Bild sich gleichwohl als ein ferngesteuertes beängstigendes einsames Himmelfahrtskommando entpuppen.

Die in der Ausstellung gezeigten Bilder lassen eine eigene Metaphorik erkennen - eine von Entdeckern, Hüpfenden, Träumenden, von Menschen, die von A nach B gehen und das Geschehen scheinbar zufällig kreuzen. Wie Schnipsel aus der Realität sind sie mitunter in fragile Zusammenhänge eingebettet. Einen Bogen über die Ausstellung spannt der vom Künstler gewählte Titel »Folia«. Wortwörtlich übersetzt bedeutet „Folia“ Wahnsinn, denn wild und verrückt sollen einst die portugiesischen Foliatänze gewesen sein. Der wiederkehrende Rhythmus, der im Prinzip von der Moll-Grundtonart in die Dur-Parallele aufsteigt und sich anschließend wieder zurück entwickelt, wurde im Auf- und Ab bis zum Limit getrieben. Diese Abfolge wiederkehrender Muster prägt eine Foliakomposition, die auch heute noch in Varianten weiter entwickelt wird. (…)

Fischers Werke muten surreal / expressiv / neofigurativ an und passen dennoch in ihrer ganz eigenen Ausdrucksweise in keine kunsthistorische Schublade. In seinem Schaffensweg geht er im Prinzip ganz klassisch vor. Er zeichnet zunächst mit dem Bleistift vor und bearbeitet die Leinwand nachfolgend mit Farbe, er korrigiert, sucht und findet schrittweise seine endgültigen Kompositionen. Dabei fügt er Figuren ein, die er in Zeitungen und Zeitschriften findet. Viele Motive entnimmt er den Nachrichten, die heutzutage immer mehr und in einer ungemeinen Intensität in immer kürzeren Abständen auf uns einprasseln. In diesem Strudel bedient sich Pierre Fischer. Er überträgt Schnipsel, die er in seinem Fundus – gemeinsam mit Dokumenten aus Literatur und Musik – zusammengetragen hat, in Motive, vergrößert sie, setzt sie in Malerei um und bettet diese realen Teile in fiktionale Szenen. Er transferiert die Welt aus dem Archiv auf die Leinwand.

Begeben wir uns weiter auf einen Streifzug durch die Ausstellung: Da gibt es beispielsweise neben dem Bild »Folia« weitere Flugszenarien. Das Gemälde »Lift« (2012) verbildlicht malerisch ein Auf- und Ab-Thema in luftiger Höhe. Hier durchquert ein akrobatisch hüpfender Läufer im Luftspagat den nebulösen skelettartigen Raum eines Aufzug-Liftes. Spärlich gesetzte orangene Farbakzente verleihen dem Luftakrobaten eine Wirkungsmacht mit starker Intensität. Dabei fällt ein irritierendes Moment ins Auge, da etwas Wesentliches fehlt – der Kopf. Wieso und wo verliert man seinen Kopf? Passiert so etwas gewaltsam oder freiwillig? Warum scheint der Rest des Körpers zu funktionieren? So erreicht der kopflose Gipfelstürmer mit seinem energiegeladenen Körper für einen Moment den Zenit. Er berührt die Grenze des Raumes. Trotz oder womöglich aufgrund seiner Unvollständigkeit vollbringt er ein wahrhaft großes Kunststück.

»Indignados« – »Empörte« lautet der Titel eines weiteren Hauptwerkes aus dem Jahr 2012. Auf dem Wolkenbild erscheinen drei im Schlaf versunkene Personen auf einer planen Fläche. Ganz und gar nicht „empört“, vielmehr ohne sichtliche Regung, liegen sie wie versteinert nebeneinander, umgeben von weißen Wolken und strahlend blauem Himmel; auf der ihnen eigenen Art stellen sie in ihrer Unbeweglichkeit Protestfiguren dar. Überdies führt Fischers Bildfindung die ästhetische Tradition der Wolkenkompositionen weiter. Eingebettet in Wolken sind die "Schlafenden" von der Symbolik einer diesseitigen Unendlichkeit umgeben. Die plane Liegefläche ist für Pierre Fischer eine Erinnerung an Architekturfragmente in schwindelerregender Höhe. Inspiration fand der Künstler in den Berliner Gebäuden, die in den letzten Jahren rückgebaut wurden. Im Zustand der äußerlichen Erstarrung harren nun die drei Liegenden auf ihr Erwachen, um im gegebenen Augenblick die Chance zu erhalten, ihr Glück zu finden.

Nüchtern setzt Pierre Fischer oftmals den Menschen ins Zentrum. Bisweilen strahlen die ins Bild gerückte Figuren eine ungewöhnliche Faszination aus. So auch der rätselhafte Spaziergänger in dem Nachtbild »Lunar« (2009). Mit einem voluminösen Trekkingrucksack bepackt erinnert er an einen Raumfahrer, der in voller Montur durch die Dunkelheit läuft. Sein heller Körper reflektiert vor dem dunklen Grund, insbesondere sein Schatten wirkt als Lichtquelle in der Finsternis. Keine Sterne funkeln, kein Mond leuchtet am Firmament. Wir erinnern uns: Pierre Fischer verfremdet Fotos, so auch hier. Im Gespräch erfuhr ich vom Künstler, dass er mit Leidenschaft wandert und die eine oder andere Fotoaufnahme gerne als Negativbild in seine Malerei integriert. Somit ist dieses – beinahe extraterrestrische – Nachtstück jenseits der romantischen Mondscheinmotive angesiedelt, die über Jahrhunderte Künstler in ihren Bann zogen.

Aber auch die irdischen Motive stellen den Menschen in den Mittelpunkt. In dem Bild »Barque« (2011) zieht eine nachdenkende kauernde Frau die Aufmerksamkeit auf sich. Zu ihren Füßen liegt ein Gewehr, dessen Lauf zu Boden gesenkt ist. Der Titel (Barque, übersetzt „Schiff“) verweist auf das schwarze Schiff; dessen Kontur erscheint wie eine Denkblase: ist das Schiff etwa ein Symbol für den naheliegenden Aufbruch? Wohin will die Frau? Mit oder ohne Gewehr? Bringt sie gerade den Mut zur Umsetzung eines neuen Lebensentwurfs auf? Ein wenig düster, aber keineswegs verzweifelt, eher als poröse Melancholie thematisiert sie den spannenden Moment des Aussetzens und Innehaltens.

Vielleicht lässt uns Pierre Fischer mit seinen kraftvollen wie sensiblen Kompositionen gewahr werden, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, in unserer Welt zu funktionieren. Seine Figuren tauchen frei und losgelöst in einer Umgebung auf, die kaum stabil, wenig sicher und unvorhersehbar ist. Mit jedem Bild präsentiert der Künstler eine erfinderische Konstellation – eine "potentielle Wirklichkeit". Er verwickelt den Betrachter in Widersprüche und erzeugt fantastische Momente der Verunsicherung. Und damit nimmt er uns mit auf eine Reise in unwirkliche neue Welten.

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