Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Ralph Fleck - Neue Gemälde, Forum Kunst Rottweil. bis 19. August 2012

Wie Ameisen wirken die Figuren auf Ralph Flecks Gemälden. Für diese steigt der Künstler hoch hinauf in diverse Wolkenkratzer. Derzeit stellt er in Rottweil und London Stadtansichten aus luftiger Höhe aus, die einen speziellen Reiz verströmen. Lesen Sie mehr in der Eröffnungsrede von Günter Baumann.

(…) Lassen Sie mich gleich mit einem Superlativ beginnen, um die große weite Welt in die schönen Räumlichkeiten des Rottweiler Forums Kunst zu holen. Vorgestern wurde in London der Shard-Wolkenkratzer eingeweiht, der sich mit seinen 310 Metern ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Moskauer Mercury City Tower lieferte, um den Titel des höchsten Gebäudes in Europa zu ergattern. Die Briten sind sich im Jubeleifer schon mal einig, dass dieser Titel ihnen gebührt. Was das nun mit Ralph Fleck zu tun hat, will ich auf Umwegen über die englische Metropole berichten. Der Maler kam vorletzte Woche erst von London zurück, wo die Purdy Hicks Gallery auch eine Ausstellung mit neuen Gemälden eröffnet hat, doch war er etwas zu früh dran, um in einem der Fünfsternehotels des Shard-Turms in 150 oder 170 Metern Höhe abzusteigen oder sich gar in einer der Luxuswohnungen darüber einzuquartieren. (…)

Wie Sie wissen oder sich denken können, strebt Ralph Fleck hoch hinaus, um einen guten Blick auf die Städte zu haben, denen er begegnet. Sie sehen hier auch ein London-Bild mit einem etwas flacheren Blickwinkel, der einen Eindruck vermittelt von der Faszination, den Straßenzügen und Häuserzeilen aus der Vogelperspektive zu folgen. Es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis wir aus Flecks Hand ein Bild von der Aussichtsplattform des Shard in über 220 Metern Höhe – mit 360-Grad-Rundumblick – in einer Ausstellung sehen werden.

Ich will kurz vor dem London-Bild verweilen. Im Jahr 2000 schrieb Fleck über eine London-Serie, die insbesondere die Themse ins Visier nahm. Dass der Fluss hier keine Rolle spielt, tut nichts zur Sache, es kommt mir mehr auf die Pointe an. Ich zitiere nach dem englischsprachigen Text in Alistair Hicks’ Buch »Art Works. British and German Contemporary Art«: »Wenn ich in eine Stadt komme«, so Fleck, »bringe ich meine Phantasien mit. Deshalb liebe ich es, einen hohen Aussichtspunkt in der Stadt zu gewinnen. Es ist leichter, die Träume von der Stadt aufrechtzuerhalten, wenn du von einer ordentlichen Höhe hinunterblicken kannst. Als ich das erste Mal nach London kam, hatte ich Bilder von Filmen im Kopf – Hitchcock zum Beispiel – , Krimis. Wenn man Fotos von einem Turm oder einem hohen Aussichtspunkt aus macht, kann man diese innere, nostalgisch-vorgefasste Vision einer Stadt bewahren, die einem näher ist als Fotos anderer Menschen. – Vor kurzem machte ich eine Serie von London-Bildern inklusive Fluss. Ich war gewappnet, die silbrigen Brücken von Constable zu sehen, aber man ist vor Überraschungen nicht sicher. Ich fand eine Brücke vor, an die ich mich von einem Sisley-Gemälde her erinnerte. Ich hatte gedacht, die sei an der Seine gelegen, aber sie war in London. Ich machte viele Fotos. Ich hätte es wissen müssen, weil sowohl Paris als auch London in meiner Vorstellung silbrig erscheinen, doch London ist grau-silbern, während Paris weißer erscheint.« Ralph Fleck ist ein Meister der Farbmischung, die es ihm ermöglicht, den Farbwert einer Stadt zu erfassen. Man müsste nur seine Amsterdam- oder Madrid-Bilder dazu nehmen und käme auf ganz verschiedene Stadtporträts.

Anders als die Hyperrealisten, die das Foto als Vorlage nehmen und diese trotz der abbildgenauen Technik subjektive Aufnahme mit ihren malerischen Mitteln zu objektivieren versuchen, legt Fleck seiner Malerei das reale Foto zugrunde, beginnt jedoch abstrakt, um sich dem Vor-Bild anzunähern. Für ihn ist das Bild abgeschlossen, wenn bei größtmöglicher Abstraktion gerade so viele Bildinformationen beim Betrachter ankommen, dass er das Werk aus einiger Entfernung als fotografisch genau wahrnimmt. Die Impressionisten sahen das ähnlich, doch interessierten sie sich weniger für die Draufsicht von oben als für die Nahsicht inmitten der Natur oder ausnahmsweise der Stadt. Unser London-Gemälde gibt den erhöhten Standort wieder, der eine perspektivische Verzerrung mit sich bringt: Im Vordergrund, sozusagen unter uns, stehen die Häuser viel steiler nach oben als im Hintergrund, wo man nahezu frontal auf die Fassaden blickt. Auch der allseits angeschnittene Bildrand verrät die fotografische Vorlage. Aber das sind nur die formalen Parameter. In pastosen, meist waagerechten und senkrechten Pinselhieben erschafft Fleck ein ganz anderes Bild, das in der Struktur, aus der Nähe betrachtet, nahezu grob gemacht ist.

Wie kommt es, dass wir dennoch ein realistisches Bild sehen, wenn wir zurücktreten? So erstaunt wir vor einem tatsächlich fotorealistischen Gemälde stehen, müssen wie erkennen, dass das menschliche Auge nicht wie eine Kamera sehen kann: Was wir sehen, ist also nur das, was jeder theoretisch sehen könnte, was aber einem individuellen Blick nie und nimmer standhalten würde, der immer selektiert. Wir würden vermutlich wahnsinnig werden, wenn wir alle einen fotografischen Blick hätten. Aber auch die impressionistische Betrachtung weicht von der Fleckschen Sicht auf die Welt ab. Monet, Manet & Co. zerlegten die Farben mit nahezu analytischem Gespür, um sie im Auge des Betrachters eindrucksvoll wieder zusammensetzen zu lassen – sie hatten aber immer das fertige, letztlich physikalisch-realistische Bild im Sinn. (…) Es mag sein, dass der Malprozess den Künstler immer wieder gemahnt, dass es sich um ein abstraktes Bild handelt, das unserer Seherwartung so nahe kommt, dass es wirklicher erscheint, als es ist. Denn was die Impressionisten wie die Hyperrealisten übersahen, war die banale Erkenntnis des selektiven Sehens. (…) Wir können das jederzeit überprüfen: Ob wir in eine Menschenmenge oder eine Landschaft schauen, für gewöhnlich nehmen wir alles im Ganzen, aber ohne Details wahr, oder eben einen Ausschnitt, gegen den dessen Umgebung verschwimmt. Eine Balance von Detailsicht und der Totalen zeichnet das London-Bild aus – kurzum, die Fotografie mag die Komposition festlegen, das Ergebnis ist pure Malerei.

London. Das bringt mich auf meinen Ausgangspunkt zurück, den Shard-Komplex, der einem Höhen-Voyeur wie Ralph Fleck eine ganze Stadt zu Füßen legen könnte. Von da oben kann man unter Garantie auch auf ein Gebäude blicken, das auf der anderen Seite der Themse in unmittelbarer Nähe steht, wo sich auch ein Bild des Malers befindet (…), stattlich von Format: 6 Meter auf 2,40 Meter. (…) Akkurat stehen die Bücher nebeneinander, hin und wieder ist ein Buchtitel nach vorne gedreht. In der Fernwirkung müssen wir uns eine faszinierend große Bücherwand vorstellen, den Traum eines jeden bibliophilen Menschen. Es gibt nur ein paar Haken bei der Sache, wie Sie sich denken können: Sobald wir uns diesem Traum nähern würden, stünden wir vor einer gemalten Leinwand mit einem bezaubernden Farbenspiel, das uns durch seine abstrakte Darstellung zu necken scheint: Reingefallen, hier gibt’s nichts zu lesen. Aber halt: – zu lesen nicht in eigentlichem, aber im übertragenen Sinne.

Nehmen wir die frontal ins fiktive Regal gemalten Buchtitel – James Kelmans »How late it was, how late«, Hilary Mantels »Wolf Hall« oder Thomas Keneallys »Schindler’s Ark« –, so haben wir Booker-Prize-prämierte Bücher vor uns, die dem Gedankenreisenden vor Ort zeigen: Er befindet sich im Foyer der Man Group in London, dem Sponsor des bedeutendsten britischen Buchpreises, des renommierten Booker Prize. Dass dieses Unternehmen das Gemälde in Auftrag gegeben hat, ist nur der jüngste Beweis, dass Sie hier in Rottweil das Werk eines auf dem internationalen Parkett ausgewiesenen Künstlers sehen. Wie gesagt, unmittelbar vor der 6-auf-2,40-Meter-Leinwand verschwindet das scheinbar fotorealistisch gemalte Bücherregal mit Ausnahme der zwischendurch eben entzifferbaren Titel zu einer abstrakt-expressionistischen Farbsinfonie. Und weil wir uns nun aber aus der Distanz auf ein Bild zubewegen, wissen wir zugleich, dass da eben noch Buchrücken sichtbar waren und erschrecken, dass diese eine Höhe von 50 bis 60 cm haben müssten, wenn es denn echte Bücher wären. Ich will dem großen Skyscraper-Superlativ einen weniger auffälligen an die Seite stellen: Ralph Fleck dürfte mit seinem Booker-Prize-Bild das europaweit, wenn nicht weltweit größte Büchergemälde geschaffen haben.

Bücher gehören zu den wichtigen Serienmotiven im Werk von Ralph Fleck. Im Land der Dichter und Denker liegt es natürlich nahe, hier eine Hommage an den Geist zu vermuten. Aber wer glaubt, hier gehe es um Leselust, täuscht sich. (…) Ralph Fleck treibt da ein anderer Geist um – es geht ihm nicht um die bedeutungsschwere Tiefe, sondern um das Wesen des Buches. Und selbst das könnte man noch missverstehen als theoretische Dingfixierung. Ob Bücherregal oder Fensterfront, das ist einerlei. Es könnte auch um ganz andere Motive gehen, wie noch zu sehen sein wird. »Ich widersetze mich einer zu großen Theorielastigkeit, mein Werk betreffend«, stellte er in dem bereits erwähnten schriftlichen Statement fest, »sie wäre wie ein Gefängnis für mich. Mein einziges Konzept ist das der Malerei. Ich bin nicht daran interessiert, was ein Gemälde zeigt, aber sehr, wie es gemacht ist. Ich erweitere laufend meine Inhalte, weil ich nicht vom Gegenstand dominiert werden möchte, aber sobald ich mit irgendeinem Thema konfrontiert werde, packt es mich so, dass ich dessen Eigenschaften oft in ganzen Serien umspiele. Manchmal interessiert es mich, die verschiedenen Aspekte desselben Ortes oder Gegenstandes zu zeigen, während ich ein andermal daran arbeite, mehr vom selben Wesenskern herauszuschälen. Wenn ich beispielsweise einen Knoblauch male, will ich, dass diejenigen, die das Bild sehen, dessen dünne silbrige Haut fühlen. Man muss den Knoblauch spüren. – Ich male in Serien, wie ein Autor ein Tagebuch führen mag. Mein Grund, ein Bild zu wiederholen, ist weit entfernt von der Werbung oder von Warhol. Ich möchte den spirit (…) zum Vorschein bringen, nicht ihn abwürgen.« Beim Büchermotiv fallen gleich zwei Aspekte beziehungsweise Perspektiven auf: das Bücherregal und der Bücherstapel von der Seite oder von oben betrachtet. Von allen gibt es jeweils zahlreiche Varianten. (…)

Da ist zunächst das Regal, wie es im Prinzip auch das Foyer der Man Group ziert. Auf unserem Bild sind gar keine Titel mehr zu entziffern. Allerdings wird der kundige Betrachter eine konkrete Zuordnung machen können: Es handelt sich vorwiegende um Bücher des medizinischen Thieme-Verlags, in Stuttgart beheimatet. Mit Schleichwerbung hat das nichts zu tun – neben Thieme kann man im Œuvre des Künstlers etwa auch eine Reclam-Wand im Megaformat finden –, immerhin kann ich nicht oft genug wiederholen, dass hier nur Farben im Spiel sind, die vorgeben, Bücher darzustellen. Gleichwohl kann man verstehen, dass bereits so mancher Verlag Interesse für diese Gemälde bekundet hat.

Aber für Ralph Fleck gilt die Devise: Auch ein schöner Rücken kann entzücken … Da ist er wieder, der Augenmensch. Was in den Büchern steht, die man glaubt, wahrhaftig vor sich stehen zu sehen, ist völlig gleichgültig. Es geht um die Farben, die einen Charakter der Bücher offenbaren. Fleck ist da mittlerweile ein Experte, lässt sich hinreißen von den aufgeregt bunten Reisebüchern, von der noblen Gestaltung von Kunstbüchern oder diesen grün-blauen Thieme-Bänden, um nur drei Bespiele zu nennen. Der Fundus wäre unerschöpflich. Kokettiert Fleck hier noch mit der Erkennbarkeit, macht er das bei den Bücherstapeln unmöglich, sofern er nicht auch hier mal die Buchrücken nach vorne richtet. Hier auf unserem Bildbeispiel ist noch gut zu erkennen, dass es sich um Bücher handelt, die jedoch nur ihre Unterseite zeigen. Aber gestehen Sie es einem Büchernarr zu, auch hier so etwas wie einen Charakter auszumachen. Im rechten unteren Bildfeld sticht eine – wie man sagen könnte – alte Schwarte heraus, die Rückschlüsse zulässt. Der gewölbte Einband wie der mutmaßliche Umfang verrät einen alten Folianten, überhaupt scheint es sich um keine Neubücher zu handeln: Die leichten Verschmutzungen verweisen auf antiquarische Titel. Mit geradezu diebischer Freude kann sich Fleck, nebenbei bemerkt, über Details wie zum Beispiel ein Lesebändchen auslassen, das auf einer vergleichbaren Arbeit zu sehen ist. Bei aller Bücherseligkeit liegt auch hier das Augenmerk auf der Peinture. Nicht einmal die Farbigkeit von Buchumschlägen kann man hier in die Waagschale werfen, lässt man mal die kleinen Überhänge beiseite, die diese andeuten. Bei einer Tendenz zur Monochromie verbleibt an dieser Stelle die Faszination von Licht und Schatten, die hier das leisten, was sie auf dem London-Bild auch tun: eine vollendete Illusion zu erzeugen. (…)

Ich bleibe bei den Serien, wobei ich mich selbst bei den Ausführungen gar nicht wiederholen will. Die Städtebilder habe ich gestreift, die Bücherbilder, die bezeichnenderweise meist mit »Stillleben« betitelt sind. Die Bandbreite weiterer Reihen ist beachtlich. Im Kunstforum von Rottweil treffen wir noch auf die Häuserfassaden, die Müllbilder und das Feldstück, ergänzen könnte man noch die See-, Strand- und Alpenstücke, die Schlachtviehbilder und die Stadion- oder andere Massenbilder sowie Lebensmittelbilder, die vom Tortenstück bis zum oben erwähnten Knoblauchbild reichen, ganz zu schweigen von den Palettenbildern, die am eindringlichsten deutlich machen, um was es überall, und zwar ausschließlich geht: um Malerei.

Von Monotonie kann dabei keine Rede sein, und wenn, dann bildet sie ein Stück Lebenswirklichkeit ab. Jorge Luis Borges, der vielleicht bedeutendste und durchaus spannende Autor des 20. Jahrhunderts, bekannte sich in einem Interview, das folgendermaßen verlief, zur Selbstwiederholung: »Frage: Sie sagten, jeder Schriftsteller … habe zwangsläufig ein persönliches Universum. Auf die eine oder andere Weise ist er durch dieses persönliche Universum konditioniert, das ihm gegeben ist und dem er treu sein muss. – Borges: Ich weiß nicht, ob man treu sein muss, aber tatsächlich ist man es. Es ist vielleicht armselig, aber man lebt … in einer Welt, die ziemlich begrenzt ist, nicht wahr? … – Frage: In Ihrem Fall erinnere ich mich, neben anderen Dingen, an Tiger, blanke Waffen, Spiegel, Labyrinthe. – Borges: Das stimmt. Ich bin ziemlich monoton … Ich habe diese Themen nicht ausgesucht; diese Themen haben mich ausgesucht… – Frage: Dann wären diese Themen also schicksalhaft die Ihren. – Borges: Ja, weil sie immer wiederkehren…«

Werktreue zum eigenen Tun heißt die Devise, es geht – wenn es sich um gute Kunst handelt – um eine innere Notwendigkeit. Noch einmal will ich Borges zitieren, der eine überraschende Definition der Kunst anbietet: »Whistler, der berühmte nordamerikanische Maler, nahm einmal an einer Zusammenkunft teil, bei der über die Bedingungen, unter denen Kunst entsteht, gesprochen wurde. Zum Beispiel über den biologischen Einfluss, den Einfluss der Umgebung, der zeitgenössischen Geschichte… Darauf sagte Whistler: Art happens, die Kunst ereignet sich, Kunst findet statt, das heißt, Kunst ... ist ein kleines Wunder«.

Ralph Fleck ist sich dessen bewusst, weshalb er Theorien misstraut. Damit die Kunst allerdings auch nicht zum puren Naturereignis herabgewürdigt wird, legt er doch auch einen großen Wert auf ordnende Prinzipien. »Ich brauche«, so Fleck, »beim Malen eine große Freiheit, aber es gibt eine Ordnung in der Malerei und eine in der Natur (…). Wenn ich meine Arbeitsweise beschreiben müsste, würde ich sie als geordnetes Informel bezeichnen.« Da haben wir es. Ordnung, sprich Kosmos, und Chaos liegen in seinem Werk dicht beieinander. Wenn Sie sich den überbordenden Pinselstrich genauer unter die Lupe nehmen, finden sich darin unendlich viele Farbspuren, die sich in scheinbar streng gemusterte Farbfelder auflösen.

Eher dem kosmischen Prinzip ist seine Fassadenserie verpflichtet, dem Chaos näher stehen die Müllhaldenbilder. Ich muss im einzelnen gar nicht mehr auf die Machart eingehen. Es reicht, wenn wir uns selbst und einander beobachten: irritiertes Verweilen vor dem großen Format, Zurücktreten, überraschtes Innehalten, Schritt nach vorn, zurück, begeisterte Verwunderung. Die zwei Hausfassaden-Bilder sind komplett durchgerastert, die Parzellen in schrillen oder auch verhaltenen Farbfeldern rhythmisiert. Prinzipiell unterscheidet sich die Komposition nur wenig von den Bücherregalen oder den Straßenbildern. Dennoch ist diese Serie einzigartig. Von der Tradition her gehört sie zu den Fensterbildern seit dem späten Mittelalter, die in der Regel allerdings weniger das Fenster als den Blick nach außen oder den nach innen symbolisieren. Ralph Fleck befriedigt weder die eine noch die andere Erwartung – wie er auch keine Aussage über die Bücher macht, die er vordergründig malt. Die Betrachter können sich freilich Geschichten ausdenken, die sich hinter den geschlossenen, halb oder ganz aufgezogenen Vorhängen abspielen mögen. In der Tat tauchen bei längerer Betrachtung Menschen, szenische Elemente, flüchtige Blicke auf Einrichtungsgegenstände auf. Für Fleck zählt nur die Faszination der Farbe und der Reiz der Echtheit. Die Fassadenausschnitte sind keine Erfindung! Es sind Details der sogenannten Copan-Gebäude in Sao Paulo, einem 140 Meter hohen Komplex mit 32 Etagen und über tausend Wohneinheiten für mehr als 5000 Bewohner. Erbaut hat dieses größte Wohngebäude der Welt der heute über hundertjährige Architekt Oscar Niemeyer zwischen 1957 und 1966. Noch ein Superlativ und zugleich ein sozialer Brennpunkt, wie man sich vorstellen kann. Ralph Fleck lässt sich inspirieren und entwirft ein künstlerisches Szenario, nicht selten von unbeschreiblicher Schönheit – die Geschichten dazu schreibt das Leben.

Ralph Fleck klagt nicht an, hält sich aus den Geschichten heraus, die wir uns ersinnen mögen, wie er auch nicht seine Erwartungen aufdrängt, mit denen er an seine Motive herangeht – ich erinnere an das Zitat zu den London-Bildern. Dazu gehört auch, dass er die Bücherserie zuweilen den »Stillleben« unterordnet, wie er seine Müllhalden oft zu »Landschaften« erklärt. Beides ist in der Grobeinschätzung richtig, aber es nimmt zugleich den Bedeutungshorizont zurück. Mehr als alle anderen Motivreihen, die Sie hier sehen, nähert sich Fleck in seinen Müllbildern dem informellen Ungestüm an. Ein Wust von Unrat bedrängt den Betrachter zunächst wieder unsortiert und unüberschaubar, bevor dieser nach und nach Klarheit über die wohlsortierten Hinterlassenschaften unserer Zivilisation erhält: Auf dem einen Bild macht er im Chaos Kabel, Elektroschrott und Müllbeutel aus, auf dem anderen entfaltet sich ein Haufen aus Kartonagen, Ordnern und Papieren. Im extremen Querformat, wie er das Motiv in unserer Ausstellung angeht, zwingt sich der Maler zum extremen Ausschnitt, der die Assoziation des Müllbergs verhindert. Daher streife ich nur eine Idee von Ralph Fleck, die er nebenbei bemerkt in London hatte, einmal einen Müllhaufen zu schaffen, der ein berühmtes Gemälde des Romantikers Caspar David Friedrich zitiert: »Das Eismeer« auch »Die gescheiterte Hoffnung« genannt. Ich nehme diese ungewöhnliche Hinwendung zur Landschaft und die Verflechtungen von schönem Schein und menschlichem Geschick, Ordnung und Chaos zum Anlass, Sie in das von mir noch nicht beschriebene gigantische Feldstück zu entlassen, jene formal unendlich große und doch inhaltlich notgedrungen endliche gelbe Blumenwiese, die unseren Gedanken freien Lauf lässt. Wie sagte doch schon Caspar David Friedrich, der dabei ein Bild von Ralph Fleck vor Augen gehabt haben könnte: »Jedem offenbart sich der Geist der Natur anders, darum darf auch keiner dem andern seine Lehren und Regeln als untrügliches Gesetz aufbürden. Keiner ist der Maßstab für alle, jeder nur Maßstab für sich und für die mehr oder weniger ihm verwandten Gemüter.«
(…)

Weitere Informationen

Die erwähnte Ausstellung von Ralph Fleck in London läuft bis zum 24. August in der Purdy Hicks Gallery.

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