Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Rotraud Hofmann und Brigitte Wilhelm – Die Zeit der Steine, Schwäbisch Gmünd, Gmünder Kunstverein / Galerie im Kornhaus, bis 8. August 2010

Erich Frieds Gedicht "Die Zeit der Steine" dient der Ausstellung als Aufhänger und Inhalt zugleich. - Denn was am Ende der Zeit bleibt, so die Pointe des Gedichts, ist der Stein. Die ausstellenden Bildhauerinnen Rotraud Hofmann und Brigitte Wilhelm nähern sich ihrem Werkstoff dabei auf unterschiedliche Weisen. Günter Baumann hat ihre Skulpturen näher betrachtet.

(…) Die Zeit der Steine. Das Sprachbild, das leitmotivisch unsere Ausstellung begleitet, stammt in dieser Formulierung von dem Dichter Erich Fried. »Die Zeit der Pflanzen / dann kam die Zeit der Tiere / dann kam die Zeit der Menschen / nun kommt die Zeit der Steine« – so lautet die erste Strophe seines Gedichts. Der Lyriker setzt sparsame Mittel ein, um nichts weniger als eine erdgeschichtliche Entwicklung auszubreiten: Die Zeit der Pflanzen liegt schon so weit zurück, dass sie nur noch zu einer grammatisch unvollständigen Feststellung dient, ohne Verb, das heißt ohne Erinnerung an handelnde Elemente. Mit einem zweifachen »dann kam« setzt Fried die Genese fort, die – ganz folgerichtig – die Tiere und den Menschen als bestimmende, zeitprägende Wesen einsetzt. Überraschend ist der vierte Vers, der ausgerechnet in Gegenwartsform, »nun kommt«, ein neues Zeitalter einläutet: »die Zeit der Steine«, jenes Naturprodukt, das doch schon da war, als es noch keine Menschen, Tiere oder Pflanzen gab. Was Erich Fried nun aus dem sprachlichen Material macht, gehört zwar in den Bereich der Spekulation, steht aber wie gemeißelt da, markant, nachdrücklich und ohne Punkt und Komma als Wissen deklariert. »Wer die Steine reden hört / weiß / es werden nur Steine bleiben«, hebt er an und scheinbar gleich komponiert fährt er fort: »Wer die Menschen reden hört / weiß / es werden nur Steine bleiben«. Formal sind diese beiden Dreizeiler tatsächlich parallel aufgebaut, doch während der Leser im ersten Teil irritiert zur Kenntnis nimmt, dass die Steine zu kommunizieren imstande sind, und der Angesprochene sich im klaren ist und ausdrücklich »weiß«, dass die Steine noch sein werden, wenn er selbst nicht mehr da ist, so trifft der Leser im zweiten Teil auf den Mitmenschen. Die Strophenkonstruktion legt zunächst den Schluss nahe: Wer den Menschen reden höre, wisse, dass nur der Mensch bleiben werde. Doch da hat der Leser die Rechnung ohne den Stein gemacht und ohne denjenigen, der den Menschen bis in sein Innerstes kennt. Wer immer es wissen kann, Mensch hin, Mensch her: Was bleibt, ist der Stein.

Meine Damen und Herren, sehen Sie mir diesen Exkurs in lyrische Gefilde nach, aber es ist zu verlockend, die Metapher im Ausstellungstitel wörtlich zu nehmen – abgesehen davon gibt mir Erich Fried indirekt (…) eine Steilvorlage, die zum Werk von Brigitte Wilhelm und Rotraud Hofmann führt. Der Dichter macht uns unbewusst klar, wie eng seine Sprache mit der der Bildhauerinnen korrespondiert, die fernab einer naturalistischen Widergabe der schöpferischen Form verpflichtet sind. Lassen Sie mich einen anderen Bildhauer zitieren, der in diesem Kontext schrieb:

»Naturalismus, also das Abbild oder einfach die sklavische Widergabe der Natur hat wohl mit Können, aber nichts mit Kunst zu tun. Ohne Verbindung mit den geistigen Urkräften kann keine große Kunst erstehen. Es wächst ein Kunstwerk organisch dem Willen eines höheren Bewusstseins unterworfen und ruht in seinem eigenen Gesetz – rein von jeder Willkür. Bedenken wir, dass ein Mensch den ganzen Kosmos in sich birgt, so kommen wir bei der Betrachtung eines Kunstwerkes der Fantasie und dem Schöpfungsimpuls etwas näher. Der Künstler bleibt nicht an der Oberfläche kleben, er geht dem Darzustellenden auf den Grund und hebt dessen Wesen in ein Sinnbild höherer Wirklichkeit.« Der das schrieb, war der Professor und Bildhauer Otto Baum, ehemaliger Lehrer von Brigitte Wilhelm und Rotraud Hofmann an der Stuttgarter Kunsthochschule. Er war wohl nicht so einfach im Umgang, und er verschloss sich in den 1960er Jahren mehr und mehr der Öffentlichkeit, was auch für seine Schule bedeutete, außerhalb des Rampenlichts ihrer Idee zu folgen und sich selbst treu zu bleiben: So konnte sie kommen, die Zeit der Steine.

Ich darf heute auf das Werk zweier außerordentlich umgänglicher, herzlicher Baum-Schülerinnen aufmerksam machen, das in der Öffentlichkeit angekommen ist. Doch wie der Ex-Lehrer kommen beide ohne marktschreierische Effekte aus. Ihre Arbeiten behaupten sich in aller Stille. Nehmen wir hier die Räumlichkeiten des Kunstvereins: Die massiven Stützpfeiler aus geschwärztem Holz haben eine – fast möchte man meinen – derbe und unheimliche Präsenz. Dagegen wirken die Steine auf den ersten Blick zierlich. Und doch strahlen sie eine Ruhe des Dauerhaften, zum Teil Monumentalen aus; die Bildwerke widerstehen in ihrer gegenseitigen Vernetzung gelassen dem Diktat der Raumvorgabe. Jetzt kommt die Zeit der Steine, meinen wir zu hören. Die Pfeiler, gerade die hier in der Galerie im Kornhaus, haben selbst eine plastische Form, aber in der materialen Dichte können sie mit den Steinen nicht mithalten, obwohl diese keiner unmittelbaren Funktion folgen, auch nicht folgen müssen. Auf den zweiten Blick werden Sie sogar feststellen, dass die Steine – im Gegensatz zu den Holzstützen – zu Ihnen sprechen, ganz wie es im zitierten Gedicht zu hören war. Keineswegs ist es derselbe Geist, der aus ihnen spricht, auch wenn die Arbeiten von Hofmann und Wilhelm verwandt darin sind. Es sei hier nur angefügt, dass beide Werke auch ganz unterschiedlich im Hinblick auf Baums Oeuvre sind. Er blieb nicht nur deutlicher noch dem Gegenständlich-Figurativen verhaftet, sondern er war dagegen auch innerhalb der Gattung weniger festgelegt – man findet bei ihm Holz, Metallguss neben Stein, noch ganz nah bei Brancusi, der das je eigene des Materials an der Oberfläche spürbar machen wollte. Rotraud Hofmann wie Brigitte Wilhelm sind in ihrem reifen Werk entschieden ungegenständliche Künstlerinnen, die sich mit der Skulptur im Raum befassen; ihr bildnerisches Denken nimmt dabei architektonische Züge an, weshalb der Stein ihr bevorzugtes Material ist.

Wer Brigitte Wilhelm in ihrem Wohnatelier besucht, schüttelt zwangsläufig auf dem Weg ins abgelegene Neresheim den städtischen Alltag, ja den Ballast von allerlei Verpflichtendem ab. Bevor man das Haus betritt, nimmt man spontan eine Naturvorstellung mit, die unmittelbar davor heranwächst. Die Zeit der Pflanzen, denkt man; dahinter, im Atelierraum dann – all die Spurenelemente der Sammlerin vor Augen – eine Zeit des Menschen: Bücher stehen zuhauf im Regal; vom Wasser, Wind und Wetter geschliffene Kiesel liegen akkurat sortiert auf einem Tisch, als wären sie gleichwohl vom Menschen geschaffen. Neben einigen fremden Kunstwerken, darunter auch Arbeiten von Otto Baum, stehen die Steine von Brigitte Wilhelm, die nah an der Natur gebaut sind. Die Zeit der Steine findet den Weg ins Haus.

Die langjährige Lehrerin arbeitet ganz von innen nach außen, konzentriert, dem Stein verpflichtet. Sie hat auch kleinformatige Bronzen im Repertoire, aber der Sandstein und der Muschelkalk überwiegen. Brigitte Wilhelm gehört noch zu den Plastikern, die mit Schlägel, Hammer und Meißel ans Werk gehen (dass die Skulpturen der letzten Jahr auch grob mit der Flex in die Form des Rohlings gebracht wird, mag als Randnotiz stehen bleiben). Damit ist zwar eine große Mühe verbunden, doch wächst auch die Verbundenheit und Zwiesprachemöglichkeit mit dem Stein. Hier kommt mir die zweite Strophe von Erich Frieds Gedicht in den Sinn: »Wer die Steine reden hört / weiß / es werden nur Steine bleiben.« Ich habe vorhin gesagt, Brigitte Wilhelms Arbeiten seien nah an der Natur gebaut. Das heißt, sie gehen von der Natur des Steins aus, die in der Bearbeitung auch nicht verletzt werden soll; doch zugleich setzt die Bildhauerin die Kanten und blockhaften Elemente, die Fugen und Durchbrüche so in Beziehung, dass architektonische Strukturen entstehen, die sich dezent von der Naturhaftigkeit abheben. Dass beides seinen Ausdruck findet, sollen die Schrägen und spitzen Winkel verdeutlichen, die wiederum dem Architekturbild in die Quere kommen – sie erinnern auch an das spielerische Element im Sinne Friedrich Schillers, das der Kunst inne wohnt, um das Erhabene im Griff zu behalten (…). Freilich müssen wir der Kunst auch zugestehen, entgegen eines solch hohen Anspruchs nur sie selbst zu sein, wie es uns im Werk Brigitte Wilhelms begegnet. Das war sogar einem Philosophen wie Martin Heidegger klar, wenn er immerhin mit Goethe der Meinung war: »Es ist nicht immer nötig, dass das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt, wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt.«

Das gilt auch im Ergebnis für die introvertierten Arbeiten von Rotraud Hofmann. Aber da sie ihre Skulptur nicht von innen nach außen begreift, sondern umgekehrt von außen nach innen denkt, steht ihre Plastik anders im Raum wie die ihrer Freundin oder, wie sie selber ironisch sagt, ihrer »Base« Brigitte Wilhelm. Sie kennen sich seit Studientagen, Frau Wilhelm zog es dann von Stuttgart in den Ostalbkreis, Frau Hofmann, ebenda geboren, blieb dagegen in Stuttgart – man darf das gerade hier nicht überbewerten, Stuttgart ist nun ja keine Weltstadt, aber es mag schon sein, dass unabhängig von der je individuellen Beschäftigung mit der Kunst die Abgeschiedenheit des ländlichen Raums andere zeit-räumliche Fragen aufwirft als das kulturell-architektonische, städtische Umfeld. Wie auch immer, Rotraud Hofmann geht weniger von der Natur des Steins aus, die sie aber sehr wohl bis in die Poren und Maserungen respektiert, sondern vom räumlich-kulturellen, sprich menschenbezogenen Kontext. Brigitte Wilhelm meint zurecht, ihre Künstlerkollegin habe einen erzählerischen Zugang.

Auch bei ihr gilt trotzdem die Zeit der Steine, und damit bin ich bei Erich Frieds dritter Strophe seines nun vielfach erwähnten Gedichts: »Wer die Menschen reden hört / weiß / es werden nur Steine bleiben.« Rotraud Hofmann belauscht den Menschen unsrer Zeit, sich selbst einbezogen. In ihren Plastiken erzählt sie von den Brüchen in Lebensläufen, von Einschnitten im Leben eines jeden Einzelnen. Darauf verweisen verhalten manche ihrer Titel - »Weg«, »Veränderung«, »Zeit«. Sie erzählt aber auch von den Bemühungen, sich einen Sinn zu bewahren oder ihn notfalls aufzubauen, sei es in ihrer »Haus«-Serie, die sie auch in hinreißenden graphischen Blättern umkreist, sei es in Stelen, die an sich schon auf den Menschen bezogen werden müssen. Während Brigitte Wilhelm auch ihre Stelen eher im naturhaft-archaischen Sinn errichtet, wie einen Blitzschlag darstellt, lädt Rotraud Hofmann sie symbolisch auf: Immer wieder kehrt die Sieben als strukturierende Ziffer auf, die bekanntlich in der Religion wie der Philosophie mit dem historischen Menschenwerk verknüpft ist. Die Stele »Es ist was es ist« ist eine Liebeserklärung, der auch ein Gedicht von Erich Fried zugrunde liegt.

In ihren Plastiken belauscht sie aber auch die Menschen früherer Kulturen, und hier kommt ins Spiel, was Heidegger mit den Räumen außerhalb oder neben den rein physikalischen Räumen meint. Beeindruckt von asiatischen Tempeln wie vorkolumbischen Scheibensymbolen Südamerikas, evoziert Rotraud Hofmann Urgründe des menschlichen Daseins. Sie ragen als Konstanten bis in die Gegenwart hinein, auch da mit Brüchen, die der Vergangenheit, der zeitlichen Vergessenheit geschuldet sind. Aber sie blieben in der Sprache der Steine erhalten, als Kultstein und Denkmal, Wegmarke und Grenzstein, Tempel und Tor. Formal treffen sich ihre Arbeiten hier mit denen von Brigitte Wilhelm – die gewachsene Substanz des Steins wird nicht verletzt und nur soweit bearbeitet, als die handwerkliche Kraft und die durch das Werkzeug bedingte Gewalt am Stein nicht die Energien im Stein brechen. Vielmehr überträgt sich die innere Struktur des Materials auf die innere Haltung des Künstlers, hier beider Bildhauerinnen.

Noch ein letztes Wort zur Zeit der Steine, die der 1988 gestorbene Erich Fried vor sich, nicht hinter sich sah. Brigitte Wilhelm und Rotraud Hofmann haben sich dazu entschieden, der Stein-Zeit treu zu bleiben, trotz der schweren Hypothek, die der Denkmalkitsch und die Grabmalkunst aufgeworfen haben, trotz all der vielen neuen, auch verlockenden Materialien, die die Plastik im 20. Jahrhundert erneuert haben. Im Bereich der abstrahierten und abstrakten Kunst lässt sich aber auch eine ungebrochene Linie von Künstlern nennen, die mehr oder weniger exklusiv mit Stein gearbeitet haben, ausgehend von Brancusi über Moore bis hin zu Baum und Baumann, Rückriem und Wotruba – und nicht zuletzt hat die Symposionsbewegung, für die der eben genannte Herbert Baumann und Karl Prantl stehen, Wege aufgezeigt, die bis heute steinerne Spuren hinterlassen haben. Ein jedes Ding hat seine Zeit, die Bibel weiß es auch, im positiven wie negativen Sinne, denn dort, in Prediger 3 steht dazu: »Steine zu werfen hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit.« Ich wünsche mir, dass Sie alsbald zu den Sammlern von Steinen gehören.

Doch bevor ich mich in den unendlichen Weiten und auf den vielen steinernen und steinigen Wegen verliere, kehre ich flugs in die Räume des Gmünder Kunstvereins zurück. Dabei würde ich mich freuen, wenn Sie selbst angesichts der Skulpturen von Brigitte Wilhelm und Rotraud Hofmann ihre Gedanken abschweifen, ihnen ihren freien Lauf lassen könnten, vielleicht in Räume, die ich noch gar nicht bedachte, oder die ich aus Zeitgründen nicht ausführen konnte. Hören Sie selbst, was die Steine Ihnen sagen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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