Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Voré – Die Schönheit ist wie Schnee, Museum Ettlingen, bis 8. Januar 2012

Die skulpturalen Werke Vorés befinden sich in einem Schwebezustand zwischen erinnerter Geschichte und prozesshaftem Aufbruch. Spielerisch bedient sich Voré im Lapidarium der Antike und setzt vorgefundene Formen fragmentarisch mit großer Freude am Experiment ironisch, ernst, assoziativ und tiefgründig in seinen Arbeiten um. Lesen Sie hier einen Auszug aus der Eröffnungsrede von Günter Baumann.

[…] Voré, der mit den Bezeichnungen Bildhauer, Zeichner und Installationskünstler nur unzureichend charakterisiert ist, steht in einer Linie von kreativen, intellektuellen Grenzgängern, die nicht nur die Grenzen der Gattungen überschreiten, sondern auch die der Geschichte. So könnte man Vorés Wurzeln in der Romantik genauso suchen wie im Dadaismus – und […] es spiegelt sich auch die letzte europaweit umfassende Epoche des Barock in seinem Werk wider. Die Skulpturen stehen in einer prozesshaften Genese und bedienen sich nicht nur inhaltlich, sondern auch programmatisch des Fragments, um aufs menschliche Ganze zu zielen. Die Zeichnungen scheinen Studien zum plastischen Werk zu sein und entpuppen sich als eigenständige Arbeiten am und mit dem Material, nicht ohne nahtlos in Malerei übergehen zu können. Die Installationen schließlich sind nicht nur plastische Collagen, sondern Stein gewordene Reflexionen über den Menschen, seine Gesellschaft und seine Geschichte, sein Streben und sein Scheitern. Angesichts des stringenten Werkverlaufs kann man einen philosophischen Hintergrund unterstellen; bedenkt man, dass hierzu allein für diese Ausstellung einige Tonnen Gestein bewegt werden mussten, sei noch angemerkt, welch Sisyphusarbeit im Aufbau einer solchen Schau steckt.

Soweit sei das Schaffen Vorés zunächst einmal ausgebreitet und in seiner Bandbreite anskizziert. Es ist damit freilich immer noch nicht erschöpfend umschrieben, denn Voré überschreitet auch die Grenzen zwischen den so genannten klassischen Gattungen und den neuen Medien, er arbeitet ohne Berührungsängste im Bereich der Video- und der Computerkunst, die in unserer Ausstellung nur am Rande aufscheinen. Dass die akustischen und szenischen Künste eine wichtige Rolle im gesamtheitlichen Denken Vorés spielen […], zeigen die Performances […]. Es geht um die sinnliche Erweiterung der eben nicht nur be-greifbaren Skulptur und um den Ausdruck eines poetisch-ästhetischen wie auch sozialpolitischen Kunstverständnisses [...].

Voré lädt ein zum Abenteuer des Erlebens von Kunst. Einmal darauf eingelassen, dringt man in hochsensible und zugleich nüchtern-spröde Gefilde vor. Mit einem solchen Gegensatz erzeugt Voré eine enorme Spannung. Auf der einen Seite katalogisiert er die Einzelstücke akribisch in Siglen: Ihnen entnehmen wir die Gattung, die Entstehungszeit und oft auch den Ort der ersten Präsentation. So betrachtet hat man den Eindruck, als verwalte der Künstler beliebige Waren, die mit einem Herstellungsstempel versehen sind. Während hier das emotionale Moment völlig zurückgedrängt scheint, holt es uns in den Darstellungen selbst wieder ein: In einer Anmutung innerer Zerrissenheit zeigt Voré uns andrerseits den fragmentarisierten menschlichen Körper: Gliedmaßen glauben wir mehr zu erkennen, als dass wir sie sehen; von konkreten Röntgenbildern sind wiederum andere Arbeiten inspiriert. Immer ist es der im doppelten Sinne gezeichnete, der leidende Körper. Dieser krasse Gegensatz von Archivierung und Mit-Leiden ist ergreifend, zumal wenn der Stift nicht mehr nur auf dem Papier, sondern auch mal auf dem darunter oder freigelegten Holzgrund seine Spur legt. Das ist, als entblöße sich der Mensch, als entfalte er sein Innerstes in kargen, ungeschützten Geisteslandschaften. So wird eine extrem reduzierte Papiercollage von 1992 nahezu ohne Eigenzeichnung zur hautdünnen Chiffre.

Das existenziell bedrohte Individuum begegnet uns in den Skulpturen wieder, in denen neben dem Fragment auch dessen spezielle Ausformungen, der Torso und die Stele, zur Verfügung stehen. Die nahezu hautfarbene Oberfläche des Baumberger Sandsteins steigert die thematische Präferenz: Es geht allein um den Menschen. Im frühen Werk arbeitet Voré noch mit Polyester und Fiberglas, die er mit Eisen, Kupfer und Gips kombiniert. Den Materialreichtum hat er bis heute beibehalten, wenn er auch aus gesundheitlichen Gründen auf die Polyesterverbindungen verzichtet hat. Was das Menschenbild angeht, sind die wenigen sprechenden, frühen Titel interessant […]: Der fast brachiale »Wirbel«, bestehend aus zwei Eisenringen in einer Polyestermasse von 1969 oder die transparente »Geschmückte Büste« aus dem Jahr 1978 weisen konkret den Weg zur fragilen menschlichen Figur bzw. ihrer Einzelteile; in den 1980er Jahren deuten Bezeichnungen wie »zentrifugal«, »Paar, verspannt« oder die verkürzelten Chiffren für »Fragment« und »Labyrinth« auf die Kräfte und Verstrickungen, in denen der Mensch eingebunden, ja eingezwungen ist.

[…] Voré legt sein Werk nicht ganzheitlich an, wenn man das so versteht, dass sich Geist und Seele in einem harmonischen Kosmos vereinen. Aber es ist gesamtheitlich orientiert. Ich gestehe offen, dass ich das weitaus spannender finde, mich in einem umfassenden, aber in ständigem Wandel sich befindenden Werk wieder zu finden, das den Menschen nicht in eine idyllische Kuschelecke verbannt, sondern das den Menschen in seiner Zerrissenheit, in seiner Unvollkommenheit darstellt, in seinem Streben, alles erfassen zu wollen, und in seiner Einsicht, dass alles Wollen Stückwerk bleibt …

Ein Steinbrocken mag allein betrachtet ewig sein, sobald er jedoch auch nur in groben oder filigran ausgearbeiteten Andeutungen zum plastischen Fragment, zum Torso oder zur Stele bearbeitet ist, wirken Kräfte auf ihn ein, die der Zeitlichkeit unterstehen, vom zusammengeschweißten Eisensockel ganz zu schweigen – bekanntlich taugt der Rost als autonomer Verwandlungskünstler. Doch zurück zum Stein, der sich in seiner Vergänglichkeit formen lässt: brüchige Gliedmaßen, die Mutmaßung einer sinnlich erlebbaren Körperfalte, der Rest einer vielleicht einmal heroischen Götterfigur […]. Die Bearbeitungsspuren geben den Steinfragmenten etwas Verletzliches, sodass selbst die abstrakten Formen besonders der früheren Zeit, die Voré hier ausstellt, auf eine solche menschliche Befindlichkeit Bezug nehmen.

»Es ist alles eitel.« So lautet die dem Alten Testament entnommene Maxime des Barock. »Eitel« ist hier anders als im heutigen, engen Sprachgebrauch im Sinne von »nichtig«, »vergeblich« zu verstehen. Diese so genannte Vanitas-Vorstellung ist eng mit dem Schönheitsbegriff gekoppelt – in unsrer Zeit des Jugendwahns, der ästhetisch-plastischen Chirurgie und überhaupt des schönen Scheins rückt uns das barocke Zeitalter symbolkräftig auf den Pelz. Andreas Gryphius, der berühmteste deutschsprachige Dichter des 17. Jahrhunderts, schrieb 1643 […]: »Du sihst, wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden. / Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein: / Wo itzund städte stehn, wird eine wiesen sein, / […] Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch und bein. / Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein […]«.

In der großen Installation unserer Ausstellung hören Sie ein anderes Gedicht von Gryphius, aus dem das Motto dieser Schau stammt: »Die Schönheit ist wie Schnee«. Voré ist aber weit davon entfernt, ein weltflüchtiges Zitat zu veranschaulichen, im Gegenteil: Was der Barockdichter in die artifizielle Form eines Sonetts gießt, setzt Voré im offenen System einer Baustellensituation um, die er souverän in eine Ausgrabungsstätte umzuwandeln versteht. […] Die Baustelle am Schloss, die mobile Museumstechnik beim Aufbau der Ausstellung und das Werk selbst gehen eine Einheit ein, die durch und durch gegenwärtig ist. In der kleineren Installation werden Sie direkt abgebremst vom rotweißen Abgrenzungsband – zugleich wirkliche Schutzmaßnahme wie integraler Bestandteil der Arbeit –, und unter beziehungsweise vor dem Werktisch, auf dem sich allerhand Plastiken, Bildhauer- und andere Werkzeuge, Skizzen- und Entwurfspläne befinden, liegen Computergrafiken, Bleistift-, Kohle- und Pastellzeichnungen sowie zerknülltes Zeitungspapier, das keineswegs beliebig abgelegt wurde: Es geht in den lesbaren Headlines um Krieg und um wirtschaftliche Gewinnmaximierung.

Von hier aus öffnet sich der Blick des Betrachters […] zum folgenden Raum mit eben jener Installation, die als Vanitas-Apotheose die Vergänglichkeit der Schönheit wunderbar in Szene setzt, nicht ohne die konkrete Geschichte und die Architektur des Ettlinger Schlosses miteinzubeziehen. Miteinander verschraubte Gestänge, ein Hebekran und eine breite Eisenplatte geben die Struktur vor, die uns einen Weg weist, der von Steinen, teils formlosem Schutt, teils skulpturalen Stücken gesäumt und jäh von weiterem Steinmaterial blockiert wird. Inmitten dieses fingierten Trümmerfelds gemahnt uns eine versteckte Soundkulisse an die zeitlich begrenzte Schönheit allen Seins und aller Macht: Neben Gryphius-Gedichten hören wir Texte seiner Zeitgenossen Christian Hofmann von Hoffmannswaldau, Johann Rist oder Otto Christoph Eltester. Damit nicht genug: Unter die – salopp gesprochen – modernen, auf alt zugeschnittenen Steine mischen sich originale Skulpturen und Formsteine, die sich im Schloss fanden, etwa eine Muschelform – Inbegriff des spätbarocken Bauens –, eine steinerne Zierschnecke, das Kapitell und das Basiselement einer kunstvoll bearbeiteten Säule oder eines Pilasters. […] Zusammengehalten werden diese Werkteile ganz wesentlich durch Zeichnungen, die einmal diese Steinzitate inhaltlich aufgreifen oder ein anderes Mal als Schatten eines plastischen Elements fungieren. Außerdem geben sie dem vordergründig wüsten Durcheinander Form und evozieren barocke Grundrisse, die in der Tat den rationalen Renaissance-Plänen in nichts nachstehen – auch hier bezieht sich Voré auf Formen, die im Schloss zu finden sind […].

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