Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Willi Baumeister – Die andere Mitte, Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart, bis 11. Januar 2014

Der Stuttgarter Künstler Willi Baumeister (1889–1955) gehört zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Nachkriegszeit und zu den bedeutendsten Vertretern der abstrakten Malerei. Im Jahr 1945, einer Stunde Null, stand er Pate und beschwor den künftigen Weg der Abstraktion aus den eigenen, früheren Entdeckungsreisen in das ›Unbekannte in der Kunst‹ herauf. Günter Baumann erinnert in seiner Eröffnungsrede an die große Leistung des Künstlers.

Manche Lebenswege lassen sich an Äußerlichkeiten nicht messen. Welche Verkennung, zögen wir eine Linie von Willi Baumeisters Lehre als 16-Jähriger in den Jahren 1905 bis 1907 hin zu seiner Berufung als Lehrer im Professorenstand nach 1946: Da stünde zum einen ›Ausbildung zum Dekorationsmaler‹, zum anderen ›Leiter der Klasse für Dekorative Kunst‹, dazwischen notgedrungen Gebrauchsgrafiker. Eine Künstlerkarriere stellt man sich anders vor. (…)

Zurück zum vermeintlichen Vermittler dekorativer Kunst. Ich habe ihn an den Anfang meiner Ausführung gestellt, um gleich die Sinne darauf zu lenken, dass man Baumeister, den Künstler und philosophischen Theoretiker nur schwerlich mit Begriffen fassen kann. Wenn ich mir den Esprit des Künstlers vorstelle, wird er über die Einstufung gelächelt haben. Von seinem Schüler Klaus Bendixen ist überliefert, dass Baumeister bei seinem Ritual der Mittwoch vormittags stattfindenden Korrekturstunden nie verletzend urteilte, stets Wege aufzeichnete, die der anonym sich präsentierende Student einschlagen könnte. Doch es bekam niemand etwas geschenkt: »Man musste lernen, ihn recht zu verstehen«, so Bendixen, »›Ganz interessant‹ war schon übel, ›Dekorativ‹, das war tödlich.«

Richten wir uns auf einen absolut freien Geist ein, wenn wir sein Werk betrachten, das so singulär in der Kunstgeschichte steht und doch die Weichen stellte für Generationen jüngerer Künstler: nicht weil sie ihn nachgeahmt hätten, sondern weil sie seine Gesinnung verinnerlichten. Er selbst bezog sich auf Vorbilder und machte sich künstlerisch zugleich frei von ihnen. Ich nenne nur den wichtigsten: Adolf Hölzel. Sein Schüler Willi Baumeister fand 1949 die überraschenden Worte, einig mit seinem Freund Oskar Schlemmer: »Unsere Entwicklung konnte an keinem Punkt mit den Konstruktionen und Farben von Hölzel in Berührung gebracht werden. Es muss uns zugebilligt werden, dass wir unsere Vorbilder in den reinen Farben des Westens (gemeint ist Frankreich) und in deren exakten Spannungen sahen. Ich verdanke Hölzel somit in direktem Sinne NICHTS, keine einzige Korrektur, sondern nur Obdach und den schwerwiegenden Rat, nach Paris zu gehen, zu malen und auszustellen. Ich verdanke ihm SEHR VIEL, denn er hat mich darin bestärkt, mich durch nichts beirren zu lassen.« Er hat sich daran gehalten, nach 1945, als die abstrakte Kunst im Richtungsstreit gegenüber der Figuration ins Hintertreffen geriet; und vor 1945, als eine solche Haltung lebensgefährlich war. In Wahrheit verdankte er Hölzel freilich mehr, was man merkt, wenn er seinen Lehrer einmal als »Visionär der Farbe, Systematiker der Form, Pionier alles Neuen« lobt.

»Alle großen Meister waren Erneuerer und stießen in vordem unbekannte Zonen vor, auf ihrem Weg eine gleichsam bessere Wahrheit zu gewinnen. Denn der Mensch und der Künstler sind gleich einem Radfahrer. Wenn er anhält, fällt er um. In der Bewegung ist das Leben, in Arbeit und Anstrengung ist das Leben, in der stetigen Erneuerung und in dem Willen, es besser zu machen.« Dieses Credo findet sich in den sogenannten Darmstädter Gesprächen im Juli 1950, wo Baumeister die moderne Kunst gegen Wilhelm Hausenstein und Hans Sedlmayr verteidigte. Letzterer hatte mit seinem Werk über den »Verlust der Mitte« Schlagzeilen gemacht, das den Autor von »Das Unbekannte in der Kunst« provozieren musste. Witterte der konservative Kunstkritiker in der Moderne eine Zerstörung der Mitte, des Humanismus, der Religion, ganz dicht am Diktum von einer entarteten Kunst, drehte Baumeister den Spieß herum und entwickelte diese moderne Kunst gerade aus diesen drei hehren Begriffen: Die Mitte, die der Maler bereits in seinem Opus magnum beschworen und dem Weltgewissen und der Verantwortung gleichgestellt hatte, konnte nicht vom reaktionären Lager gepachtet worden sein.

Willi Baumeister führt Sedlmayrs Titel mit Raffinesse ad absurdum: »Die Mitte ist unverlierbar.« Die Mitte, das ist für ihn Fantasie, das Unbekannte – gegen die »Vergottung der sichtbaren Realität«. Subtil zerpflückt er die Sorge um die Bedrohung des Humanismus, der selbst im Mäntelchen des Ungeistes auftritt. »Zeiten sind immer bedroht, auch durch getarnte, unbedingte Einbläser, ihre Schwarz-Weiß-Malerei und ihre Bußpredigten.« Die Religion versteht Baumeister im Sinne des Wortes religio als »Rückverbindung«. Es mag zunächst verwundern, dass ausgerechnet der Künstler, der scheinbar die Welt neu erfinden wollte, in den kulturellen Urgründen der Menschheit verwurzelt war. Eigentlich war Willi Baumeister konservativer als die Sedlmayrs, Hausensteins & Co., deren Kunstverständnis er für »epigonal, eklektizistisch, manieriert, verschwommen« hielt. Weiter als bis zur Renaissance dachten diese selbsternannten Sachwalter der Kultur, die Baumeister wegen ihrer propagierten Rezepte abfällig als »Apotheker« bezeichnete, nicht. Es klingt banal, und es war auch kein Hexenwerk: Willi Baumeister ging weiter zurück, ließ die Erfindung der Zentralperspektive hinter sich, auch die Illusion von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, an Giotto vorbei bis hin zu den frühen Hochkulturen – und aus diesem bildungsträchtigen, intellektuellen Hinterland machte er sich auf in die Moderne.

Das beginnt früh, wenn auch zaghaft. »Am Wasserfall« von 1914 ist eine lupenrein figurative Thematik, in der man den Maler allenfalls ahnen kann. Willi Baumeister ist kein Stürmer und Dränger, im Gegenteil: Wo sein Landsmann Friedrich Schiller einst den Protagonisten in dem Drama »Don Carlos« ausrufen lässt: »Dreiundzwanzig Jahre, und nichts für die Unsterblichkeit getan!« (Don Carlos II,2), gibt sich Baumeister in diesem Alter, um 1911/12, sehr bescheiden gegenüber seinen Studienfreunden Oskar Schlemmer und Otto Meyer-Amden: »Ich empfand deutlich, dass er – Schlemmer – mir erheblich voraus war«, so erinnert er sich später, und mit diesem ist er sich wohl einig: »Die Entfernung lässt ihn – Otto Meyer – mir riesengroß erscheinen. Er fasst eigentlich alles an Neuem zusammen« (Schlemmer an Baumeister, 29.4.1912). Auf der Suche nach einer eigenen Bildsprache orientiert sich Baumeister noch vor dem Krieg an der Kunst in Paris und gezielt an Cézanne, wie man in dem Wasserfall-Gemälde sehen kann. Formal folgt er jedoch weniger dessen geometrischer Struktur als dem Leitsatz, eher zu modulieren als zu modellieren. Der Raum, in dem sich die abstrahierten Figuren bewegen, bleibt in der Fläche gebunden. Hierbei wird sich Baumeister treu bleiben, auch wenn er sich stetig entwickelt. Eine kurze Begegnung mit Franz Marc zeigt ihm, wo sein Weg nicht weiterführen wird, während die Bekanntschaft mit Fernand Léger auf fruchtbaren Boden fällt. Wo man Baumeister und Schlemmer ihre Ausrichtung an Frankreich um 1917 übel ankreidet, nehmen sie sich vor, »einem Schwabentum, einem höher gefassten, zunächst weniger kenntlichen zu[zu]streben, aber umso intensiveren« (Schlemmer an Baumeister, 22.11.1917).

Spätestens ab 1919/20 macht Baumeister das Experiment zum Motor seiner Malerei, die sich nun auch völlig eigenständig entfaltet. Der Schwabe als Tüftler – um bei dem Vorsatz anzuknüpfen –, offenbar gilt das nicht nur in der Technik, sondern auch in der Kunst: Baumeister erschafft die sogenannten Mauerbilder, die sich von den Staffeleibildern unterscheiden und bis ins Spätwerk wiederkehren. »Es entstanden Bilder mit real-plastischen Auftragungen«, so Baumeister, »die gleichsam zögernd aus der Mauer herauswuchsen, ohne deren Gesetze zu zerstören«, ausdrücklich keine Reliefs, sondern mit Sand oder ähnlichem aufgerauhte, körperliche Malerei – Baumeister mixte sich einen speziellen Brei, der nach dem Auftrag hielt wie Hartstuck. Kunsthistorisch verläuft die Entwicklung der Mauerbilder parallel zum Kubismus und zum Konstruktivismus, allesamt mit einer Affinität zum Gebauten, zur Architektur. Kein Wunder, dass Willi Baumeister von den Mauerbildern zu mechanistischen Kalkulationen findet, seinen praktisch zwecklosen »Mechanos«, in denen er nach 1920 eine »künstlerische Kraftentfaltung unserer Zeit« als realen Zweck anstrebt bei Wahrung mathematischer Gesetzmäßigkeiten, wenn auch nuancenreicher als die technoiden Bilder Légers: Es ist eine harmonische Welt für sich, die keinen Bezug zur Gegenstandswelt mehr benötigt. Beispiele für diese Maschinenfiguren sind hier etwa die »Maschine mit Silhouette« und »Maschine auf Dunkel, Rot-Olive«, beide um 1924 entstanden. Wichtig auch hier und später: allenfalls einfache, meist rudimentäre menschliche Formen, die hier jedoch synthetischer sind als in allen anderen Werkphasen. Diese teilabstrakten Formen: sich überschneidende Rad- und Kolbenelemente, Quadrate und Balken, stellte Baumeister unter Meidung einer Perspektive vor die bloße Fläche.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will ein wenig auf die abstrakte Kunst im Allgemeinen eingehen. Das Folgende mag sich banal anhören, da ich aber Willi Baumeister zu Wort kommen lasse, passt es doch hier her, insbesondere deshalb, weil der Künstler bestimmt, aber keineswegs bierernst, geschweige denn ideologisch die abstrakte Kunst vertrat. Andrerseits nahm er auch die traditionelle gegenständliche Malerei auf die Schippe: In dem schmalen Bändchen »wenn maler dichten« von 1951 – etwa zeitgleich mit den Darmstädter Gesprächen – füllt Baumeister auf der letzten Seite die Fläche eines kleinen Rechtecks mit unzähligen Punkten. Als Bildlegende oder Gebrauchsanleitung schreibt er darunter: »Man verbinde die Punkte derart untereinander, so dass das Gemälde „Die Schlacht bei Salamis“ von Kaulbach entsteht.« Das Unterfangen wäre sinnlos, will aber auch sagen, wie irrelevant die Figurendarstellung, in diesem Fall ein Schlachtenbild, ist. Da fand Baumeister offenbar die Lust am Unbestimmten, Spielerischen, Abstrakten, kurzum: am Unbekannten in der Kunst viel spannender, wie man in dieser Ausstellung nicht nur auf der Farbserigrafie »Aru mit Punkten« sehen kann: Das Bild ist von 1955, gehört also zu den spätesten Arbeiten Willi Baumeisters, in denen er das Schwarz inszeniert und in eine schwingende Balance mit kleineren Farbflecken setzt. Die Auszeichnung im erwähnten Titel, »… mit Punkten«, misst diesen eine Bedeutung zu, das Schwarz ist am Rand offenbar in Auflösung begriffen. Neben den Montaru- und Monturi-Bildern ist es eben auch die Aru-Serie, welche die reine, freie Fantasie beflügelt, aber naheliegend den Tod thematisiert. Der Bildwitz mit dem fingierten Kaulbach-Opus macht deutlich, dass das Was eines Bildes gegenüber dem Wie in den Hintergrund rückt.

Willi Baumeister wird zurecht als Hauptvertreter der abstrakten Kunst verstanden, doch pflegt er zwischendurch geradezu gegenständliche Werkgruppen. Die Sportbilder sind eine davon. Sie setzen ein zur Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und sind im wesentlichen bis 1937 zu beobachten. Zufall? Baumeister hat sich meines Wissens in dieser Richtung nicht geäußert, doch liegt der Gedanke nahe, dass der innere Emigrant der nazistischen Glorifizierung des Athleten – Stichwort Leni Riefenstahl, Olympiade in Berlin 1936 – Paroli bieten wollte, und sei es im Verborgenen bzw. unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der offiziell propagierte erhabene Augenblick gefror schnell zum Stillstand, während Baumeister bis hin zur Simultantechnik ein Aktionsfeld aufbaut.

Zum ersten Mal in seinem Werk nimmt er jedoch direkten Bezug zu prähistorischen Felsenmalereien, die das Motiv des Sportlers bereits kannten, wenn auch beschränkt auf das Laufen, Schießen und Werfen. Läufer wie Fußballspieler, Seilspringerinnen oder allgemein Gymnasten, Taucher usw. sind bei Baumeister zu Chiffren der Bewegung geworden. Es ist die Zeit, als HAP Grieshaber auf ihn aufmerksam wird – diesen Seitenschwenk erlaube ich mir, weil parallel zu Baumeister in der Dätzinger Galerie gerade auch Grieshaber zu sehen ist. Der ausgehungerte Mittzwanziger hört, wie er berichtet, in jener Zeit auf der Stuttgarter Königstraße von einem Künstler, »der Schuhsohlen male« – das klingt ungewollt komisch, ist aber von der Stimmung her aufschlussreich (und Baumeister sprach selbst von Schuhsohlen). Beim Besuch zeigt ihm der öffentlich geschasste Baumeister eifrig seine Arbeiten, die Sportbilder, Tori- und Mauerbild-Serien. »Mir knurrte der Magen«, so Grieshaber, »aber es war traumhaft. Vor einem riesigen in Sand verlegten Kuheuter sagte W.B.: ›Das erinnert mich an Brot.‹ Zum zweitenmal begriff ich den weiten Unterschied, den das Geistige vom Leben trennt.« Im Grunde führt uns Baumeister praktisch vor, was er von der Abstrakten Kunst erwartet: Sie ist nicht zwingend gegenstandslos, geht aber von Sinneseindrücken, Bewegungen und immer mehr von formalen Verhältnissen aus. Aktionslinien, Zeichen, figurative Schemen oder schattenhafte Flächen sollen den Geist frei machen.

In dem postum veröffentlichten Text über »Zimmer- und Wandgeister« findet sich eine ganz einfache wahrnehmungspsychologische Notiz Willi Baumeisters, die mit Augenzwinkern geschrieben ist. Wenn Sie am Wochenende mit Freunden die Galerien des Art Alarm besuchen, könnten Sie bestimmt damit punkten, wenn es darum geht zu klären, warum auf der Leinwand mal etwas anderes drauf ist als das, was wir erwarten. »Prüfen wir uns, wie es mit unserer Vorstellung aussieht. Versuchen wir ein Pferd, das wir doch gut zu kennen glauben, aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen. An nahezu jeder Stelle […] wird unser Bleistift straucheln.« Und weiter heißt es, an die Herren gerichtet – die Damen sollten vielleicht jetzt weghören – : »Unsere Vorstellung ist nicht das fotografische Abbild von dem, was wir sehen. Unsere Vorstellung addiert die besonderen Merkmale, die uns aufgefallen sind, zu einem Bilde. Versuchen Sie einmal, sich Ihre Frau […] vorzustellen, Sie werden sehen, dass nicht viel anderes dabei herauskommt als bei einem Porträt von Picasso: die Nase sehen Sie von der Seite, oder können Sie sich die Nase Ihrer Frau von vorne vorstellen, die Augen von vorne, das Ohr von der Seite, den Busen von vorne, die Hemisphären von hinten usw. Und doch ist dieses Bild nicht nur vollständiger, sondern auch wirklicher als das […] Foto. Eben weil es das Wesentliche zeigt. Das gilt natürlich auch von der Landschaft.«

Mit diesem Rüstzeug kann ich die Werkgruppen rasch aneinanderfügen, über die natürlich Vieles zu sagen wäre. Mit wachsender Abstraktion folgen noch während der Nazizeit, geschützt durch eine Anstellung in der Lackfabrik Kurt Herberts in Wuppertal, die Ideogramme und Eidosbilder, die einerseits surreale Elemente, meist schwebende Formen, andrerseits ostasiatische Zeichen aufnehmen wie etwa in den Tori-Bildern. »Unzählig sind die denkbaren Formen […]. Jede Form ist in der Natur vorhanden und nachzuweisen«, weiß Baumeister. Dazu gehören hier das Bild »Horizontal-abstrakt III«, »Formen farbig (Fliegende Formen)«, das »Zeichen« und die »Kleine Nautika« mit dem vogelartigen Wesen. Am Ende der NS-Zeit, als wüsste der Künstler vom nahenden Zusammenbruch, befasst sich Baumeister mit Urformen, inspiriert von prähistorisch-afrikanischen Assoziationen, von alttestamentarischen Themen oder dem fundamentalen Gilgamesch-Epos, dem vergeistigten Triumphzug der freien Fantasie gegen den Ungeist des Nationalsozialismus schlechthin. In dieser Phase epischer Seinsfindung und formaler Ausgewogenheit schreibt Baumeister auch sein theoretisches Hauptwerk über das Unbekannte in der Kunst.

Das Spätwerk zwischen 1945 und 1955 gehört der Verfeinerung der mythischen Bilder und Zeichen. In diesen Jahren entstehen viele der sogenannten Kammzugbilder – filigrane, mit dem Stahlkamm gezogene Farbspuren, die wie zufällig über der Leinwand zu schweben scheinen und zauberhafte Phantasiewesen bilden – , sogenannte Metaphysische Landschaften – poetische Verinnerlichungen der Natur – , hinreißende Scheinreliefs und tiefgründige Mythenbilder, die zuweilen so liebevoll wie derb-prosaisch »Ofenplatten« genannt wurden, sowie die bereits genannten Proklamationen einer schwarzen Mitte. Baumeister interessiert sich für mikro- und makroskopische Erkenntnisse, verfolgt naturwissenschaftliche Entwicklungen, etwa in der Atomphysik – und er erschließt sich vor der Kulisse neuer Weltbilder den Leitsatz, der eigentlich immer schon sein Schaffen prägte: »Durch Ordnung kann der Mensch in der verwirrenden Vielfalt der Welt einen Standpunkt gewinnen. Der neuzeitliche Maler sucht diesen Standpunkt nicht durch Nachbilden der äußeren Naturerscheinung, sondern er bildet aus sich. Er bildet nicht nach der Natur, sondern wie die Natur.«

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Werk Willi Baumeisters wandelte sich unaufhörlich und blieb sich doch in einer Linie treu, die in der Mitte des Lebens verlief, über Höhen und Tiefen hinweg. In Erinnerung an Schillers Don Carlos mag man sagen: Die Unsterblichkeit dürfte seinem Schaffen sicher sein. 1918 schrieb er an seine Eltern, Oskar Schlemmer an seiner Seite wissend: »Stuttgart weiß, dass es mit uns zu rechnen hat!« (W.B. an die Eltern, 25.7.1918) Angesichts der aktuellen Ausstellungen in der Galerie Schlichtenmaier und in Kürze auch im Stuttgarter Kunstmuseum gibt es im Fall Willi Baumeisters daran keinen Zweifel.

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