Buchrezensionen

Baxmann, Inge; Franz, Michael; Schäffner, Wolfgang: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2000.

Das von den Mitarbeitern des Berliner Zentrums für Literaturforschung vorgelegte Buch erscheint in einer Reihe zu historischen und systematischen Studien einer vergleichenden Zeichentheorie der Künste.

Die Autoren nehmen Lessings Schrift »Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766) zum Anlass, sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven den Problemen der Zeichenproduktion, deren Funktion und Ordnungen zu nähern und in Anlehnung an die Verfassung der französischen »Enzyklopädie« auf die allgemeine Tendenz des 18. Jahrhunderts zur Datenverarbeitung und Datenverwaltung hinzuweisen.

Die bereits geleisteten Studien zu Lessings »Laokoon« und die dort gebrauchte Feststellung, »Laokoon« bringe die Schlüsselprobleme des menschlichen Denkens, die die Kultur dominieren, im Hinblick auf deren Diskursivierung zum Ausdruck, bilden den Ausgang der Untersuchungen. Hier werden die Ordnungen der kulturellen Inhalte erhoben, und zugleich die Funktionsrichtungen dieser Ordnungen analysiert. Bereits in der Einleitung wird dem Leser deutlich gemacht, dass der Titel auf den ersten Blick durchaus trügerisch wirken kann, da er lediglich einen Bezugsrahmen der vorgelegten Analysen bildet. Man sollte also weder eine »transitorische Rekonstruktion semiotischer Theoreme« noch einen Versuch, ihrer Aktualisierung erwarten. Im »Laokoon« begründet Lessing die formalen Differenzen in der Funktion diskursiver und ikonischer Zeichen in den Künsten sowie die Grenzen ihrer Funktion.

Lessings Arbeit an künstlerischen Zeichen in diesem Werk, die letztlich zur Spaltung zwischen sogenannter »zeitlicher« und »räumlicher« Künste führte, stellt eine Basis für die Auseinandersetzung mit Kodierungsformen in anderen Disziplinen und Bereichen des menschlichen Denkens und Handelns dar. Dieses Werk bildet hier ein Paradigma zur formellen Herausarbeitung der »Diskursgeschichte der Zeichen im 18. Jahrhundert«. Die Autoren sprechen hier von »Anthropologie« und fragen, wie Zeichen oder Charaktere Codes bilden bzw. wie sie von Menschen gebildet werden mit dem Ziel, die Welt und deren Relationen zu begreifen und dann auch zu erfassen. Den Gegenstand der Untersuchungen in dem Band bilden »semiotische Repräsentationsoperationen« (Foucault: »Dispositive«), die als »Zeichenregime« bezeichnet werden, die aber nichts anderes als Formen von Ordnungen sind. Sie werden im Buch in sechs Kapiteln erfasst.

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Da die menschliche Welt aus Zeichen in deren Systemen besteht, entsteht also die Notwendigkeit von deren Verwaltung und Bewahrung. Hierzu gehen die Autoren im ersten Teil des Buches zu den Anfängen konkreter Versuche zur Schaffung von Informationsträgern zurück. Dazu gehörten die Überlegungen zur Verwaltung von Büchern in den Bibliothekssammlungen, worüber sich Lessing persönlich als Bibliothekar Gedanken gemacht hat.
Ein anderes Beispiel früher Überlegungen zur Verwaltung von Informationsmassen (Zeichengruppierungen) stellt das Anfang des 18. Jahrhunderts erschienene Werk von Robert Hooke dar, in dem »Repositorien« als analytische Datenspeicher vorgestellt werden.
Schließlich fungiert Winckelmanns Buch zur Geschichte der altertümlichen Kunst als Beispiel für die Verwaltung von Informationen in Richtung auf die Entstehung eines neuen - kreativen - Verwalters, der von einem Informationen aufnehmenden Antiquar zum Autor wird, und dessen Werkbeschreibung sich zum kreativen Prozess einer Werkinterpretation entwickelt.

In »Zirkulationen«, dem zweiten Teil, werden nun die Bewegungsrichtungen der verwalteten Wissensmodule verfolgt. Und so stellen die Autoren fest, dass gerade die Austauschprozesse, wodurch Wortbildungen vollzogen werden, symptomatisch für die Zeichentheorien des 18. Jahrhunderts seien. Damit ist der Ideenaustausch gleichermaßen wie der wirtschaftliche Handelsaustausch gemeint (Locke).
Die neu geschaffene Welt in den »Robinsonaden« wird in diesem Teil dann als Beispiel von Unterbrechungen von Zeichenzirkulation dem Leser vor Augen geführt.

Natürlich bewegen sich solche Zeichenkonglomerate nicht ohne vorgegebene Richtung. Sie sind zielorientiert gesteuert, und zwar durch Interventionen und Neucodierungen, was bereits im Wesen der Zeichenregime angelegt ist. Die unter anderem auf einem Prozess der Zersetzung und Wiederzusammensetzung von Zeichen beruhende Assoziationstheorie von David Hartley, dient hier der Darstellung neuer Erkenntnisse im Bereich der Affektenlehre.

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Die Sinnesreize eines Individuums und die Sympathiegefühle in einer Gesellschaft, sind gleichermaßen als Steuerungsmodelle betrachtet, wie auch James Watts Dampfmaschine, die die mechanischen Kräfte zielgerichtet hervorbringt und einsetzt. Die Steuerungsprozesse können auch zu Verbindungen von Zeichen in Zeichenkonglomerate führen. Diese werden als Zeichenmodalitäten im Bereich der Staatsbildung, der Staatspolitik (Leibniz), auf der Ebene logischer Zusammenschlüsse und musikalischer Kombinationen im vierten Teil untersucht.
Die Zeichenkonglomerate bringen sogleich neue Formen her, und erfinden Zeichendispositive. In diesem Zusammenhang wird der künstlerische Begriff der Invention zur Geltung gebracht. Es geht um den Prozess der Entwicklung von Beschreibungsmodi, womit sich sowohl »schöne« als auch »mechanische« Künste als darstellbar erweisen. In Abgrenzung der jeweiligen Kunstgattungen werden Zeichenfunktionen und Zeichenorganisationen belegt. Lord Shaftesburys Ausdifferenzierung zwischen Formen der Zeit- und Raumdarstellung in Dichtung und Malerei definiert immanent differente Funktionen diskursiver und ikonischer Zeichen, spricht jedoch den Kunstgattungen nicht die fundamentalen Kategorien der Raum- und Zeitdarstellung ab. (Dies tut später Lessing im »Laokoon«). Die Entfaltung der Zeichendispositive wird auch am Beispiel von Kameralwissenschaft, Bildung von monströsen Formen und der Autonomieästhetik verdeutlicht. Im Grunde geht es hier um die Darstellung und Analyse von Zeicheneigenständigkeit und Kombinationsregeln. Sie kreisen ständig um das Empirische, das im 18. Jahrhundert dominiert, und kulminieren in der Entwicklung der Anthropologie.

Im fünften und letzten Teil kommt die Anthropologie am Beispiel medizinischer Semiotik sowie Inszenierung des Menschen in der Literatur (hier der Ohnmacht als Codierungsform von Sexualität und Vergewaltigung) zur Sprache. Schließlich mit der Analyse Goethes Aufsatzes zu »Laokoon« (1797) nehmen die Autoren Lessings Arbeit unmittelbar, und nicht wie bisher mittelbar, wieder auf. Während Lessing am Fall der Laokoon-Skulptur die Differenzierung der Kunstgattungen nach den Funktionsmöglichkeiten der diskursiven Zeichen in der Dichtung und der ikonischen in der Malerei belegt, was als Anstoß zur Aufhebung der »ut pictura poesis«-Formel verstanden werden kann, befreit Goethe das Kunstwerk zuerst von allen literarischen und mythischen Bedeutungsinhalten. Er spricht nicht mehr vom Moment der Darstellung einer Geschichte, sondern von der Darstellung eines Momentes, denn für Goethe stellt das Werk primär die Geschichte eines Vaters mit seinen zwei Söhnen, die der Gefahr wilder Tiere unterliegen, dar. Goethe fasst das Werk als eine selbständige Form auf und nicht als Darstellung eines Mythos. Durch die allgemeine Geschichte erkennt er die Momentaneität des Kunstwerkes, weist damit Lessings Unterscheidung zwischen zeitlichen und räumlichen Künsten ab und hebt dessen Semiotik der Skulptur auf. Es scheint jedoch, dass mit dieser Analyse die Autoren die paradigmatische Rolle Lessings Schrift nochmals betonen wollten. Denn ohne Lessings semiotische Differenzierung, die zur Erhebung der diskursiven Zeichen zu einer natürlichen Form führte, wäre wohl Goethes Ansatz nicht möglich gewesen. Ohne die Bestimmung der diskursiven und der ikonischen Zeichen als »natürliche«, denn konventionsbedingte Form, hätte Goethe die Freilegung des Kunstwerkes von seiner literarischen Abhängigkeit nicht erreichen können.

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In diesem umfangreichen Werk wollten die Autoren beweisen, dass die Zeichenökonomien und Repräsentationsformen des späten 18. Jahrhunderts Medien und Medienexperimente einläuten, die zugleich auch den Beginn einer Epoche der Technifizierung der Zeichenprozesse ermöglichen. Das führt schlussendlich auf die Herstellung von Datenverarbeitungsmaschinen hin, die heute Computer heißen.
Auch wenn hier nicht alle Aspekte des Buches angesprochen werden konnten, bleibt fraglich, ob alle Bereiche des menschlichen Denkens und Handelns, wie sie im 18. Jahrhundert diskutiert und untersucht wurden, einen naturwissenschaftlichen Nährboden hatten und als Vorboten der Technizierung gelten. Bezeichnend aber für diese Sammlung an Abhandlungen ist Fakt, dass hier die Semiologie, mit Methoden der Literaturwissenschaft angefasst, nebenbei den Beginn des Autonomieprozesses der Künste offen legt, zugleich aber deren volle Einbindung in die fundamentalen Probleme des Denkens und Handelns des Menschen schafft.

Bibliografische Angaben

Baxmann, Inge; Franz, Michael; Schäffner, Wolfgang: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2000. 621 Seiten.
ISBN-13: 978-3050034546

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