Buchrezensionen

Berg, Brigitte: Science Is Fiction: The Films of Jean Painlevé

Von der Zeitung Libération befragt, warum er begonnen habe populärwissenschaftliche Filme zu drehen, antwortete der damals 84 Jährige Regiesseur, Fotograf und Autor Jean Painlevé (1902-1989) mit folgender Anekdote: "In 1925, during an internship at Roscoff, I would bring an egg to this octopus at 11:00 every morning.

She soon began to recognize me by my shirt. Whenever she saw me, she turned black; the three layers of her skin - blue, red, and green - would swell with pleasure. Then she went off to eat her egg. We got along very well. But then one day, out of perversity, I brought her a rotten egg. She turned totally white. In extreme fury, an octupus`s cells contract and the white of the underlying dermins appears. With one of her tentacles, she threw the egg back at me over the aquarium\'s glass window. She never greeted me again. Instead, she`d retreat to the back of the aquarium and turn white. I realized then she had a memory. This mollusk was as intelligent as a human."

Diese Anekdote scheint mir insofern bezeichnend für Painlevé zu sein, als dass sie dreierlei Charakteristika seiner Lebens- und Arbeitshaltung in sich birgt. Zunächst den Anspruch der Weitergabe wissenschaftlicher Informationen - Painlevé gilt als Pionier des wissenschaftlichen Films. Er drehte nicht nur als einer der Ersten unter Wasser, sondern integrierte in seine Filme auch Mikroskopaufnahmen, so z.B. von sich entwickelnden Stichlingzellen, deren Wachstum er bis zur Geschlechtsreife der Fische verfolgte.

Die Anekdote wirft auch ein Schlaglicht auf seine ethisch-politische Haltung, indem er in dem Oktopus eine Wesenheit erkennt, die eine dem Menschen ebenbürtige Intelligenz besitzt. Painlevé sah sich selbst als Anarchist und hat für sich keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Lebensformen dieser Erde gemacht. Allerdings ist er dabei nicht in eine naturromantisch, verklärende Haltung abgeglitten, sondern sah das Ganze durchaus nüchtern: "To me, there is no difference between minerals, vegetables, and animals. They are all linked through evolution. There are parasites everywhere. Among humans: babies and old people. There are also temporary parasites: the ill and the crippled." Fühlt man sich zunächst durch solche Äusserungen an die Rhetorik der Übermenschen- und Rassenrethorik der Nazis erinnert, so belegt doch Painlevés Biographie - er hatte enge Verbindungen zur Resistance - eindeutig, dass er das Wort Parasit hier nicht abfällig meint. Vielmehr nutzt er es eher, um eine Vergleichbarkeit zwischen Mensch und Natur herzustellen. Dies tat er auch in seinem Film "The Vampire" (1945) in dem er die Lebens- und Essgewohnheiten von "Vampirfledermäusen" darstellt und die Fledermaus zum Ende des Films hin einen "Hitlergruß" absolviert...

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Als Drittes ist die Anekdote offensichtlich Ausdruck von Painlevés Hang zum Poetischen, aber auch zur Ironie. Painlevé drehte jeweils drei Fassungen seiner Filme: einen für die Wissenschaftskollegen, einen für die Universitäten und einen für das allgemeine Publikum. Wobei letztere meist einen viel lockereren Begleittext und auch eine musikalische Untermalung aufweisen. Um ein Beispiel für seine Vorliebe für abrupte ironische Brüche zu geben: In seinem Film "The Love Life of Octopus" (1965) wird zunächst ein weiblicher Octopus gezeigt, die Farbveränderungen seiner Haut, das mit Lied verschließbare Auge. Der gesprochene Kommentar stellt sie als eine schöne Verführerin dar. In der nächsten Szene fängt sie ein Opfer mit ihren Tentakeln ein, Kommentar: "How can anything escape this repeated embrace?" Im Folgenden wird weiter gezeigt und beschrieben, wie das Opfer verspeist wird und sich der Oktopus fortbewegt, nämlich rückwärts und ohne zu sehen wohin - und schwupps, ist er selbst im Maul eines anderen gefräßigen Meerbewohners. Während die Tentakel noch heraushängen der Kommentar des Sprechers: "These tentacles, properly prepared, are delicious with a sauce à l\'américaine...." Dieser Hang zum Komischen und Absurden mag es wohl auch gewesen sein, warum Painlevé sich großer Beliebtheit unter den Surrealisten erfreute und sich mit vielen von ihnen in freundschaftlichem Kontakt befand.

Über diese schillernde Persönlichkeit erschien kürzlich bei Brico Press das Buch "Science is Fiction. The Films of Jean Painlevé."
Das Buch wird durch einen Aufsatz eingeleitet, der auf die filmhistorische Herkunft Painlevés eingeht, gefolgt von einem reich bebilderten, biographischen Essay und einer kunsthistorischen Einschätzung. Im Hauptteil des Buches sind seine berühmtesten Filme in einer Art von Storyboard-Anordnung päsentiert, die Auszüge der Kommentierungen enthält und einige seiner fotografischen Arbeiten. Im Anschluß daran findet sich das bereits erwähnte Interview mit Libération und abgerundet wird das ganze durch eine Filmographie, die Auflistung ausgewählter Radio- und Fernsehprogramme, sowie seiner Schriften, einer Bibliographie und einem Index. Das Buch macht einen neugierig auf die Filme Painlevés - auf das möglichst bald auf irgendeinem Festival eine Retrospektive zu sehen sein möge...

Bibliographische Angaben

Berg, Brigitte: Science Is Fiction: The Films of Jean Painlevé,
by Andy Masaki Bellows, Marina McDougall (Editor), The MIT Press, Cambridge, MA USA 2000.
224 pages
Language: English
ISBN-10: 0262024721
ISBN-13: 978-0262024723

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