Buchrezensionen, Rezensionen

Berin Golonu (Hrsg.), Erwin Wurm. I Love My Time, I Don’t Like My Time, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2004

Das Buchprojekt „Erwin Wurm. I Love My Time, I Don’t Like My Time” entstand anlässlich der ersten großen Wurm-Retrospektive in den USA, stellt vom Anspruch jedoch wesentlich mehr dar als nur einen Ausstellungskatalog, da man in der Publikation auch Bildmaterial aufnahm, das in der Ausstellung nicht berücksichtigt werden konnte. So entstand eine großangelegte Anthologie, die sich mit dem Schaffen Wurms während der letzten 15 Jahre beschäftigt, eine regelrechte „Wurm Encyclopedia“, wie sie Kurator René de Guzman im Vorwort bezeichnet.

Der österreichische Künstler zählt zu den kreativsten und innovativsten Persönlichkeiten der Gegenwartskunst. Am bekanntesten sind seine inzwischen bereits legendären One Minute Sculptures, wo er unter Einbezug von Mitakteuren temporäre Skulpturen erstellt bzw. erstellen lässt. Die daraus resultierenden Videoarbeiten dienten mittlerweile als Vorlagen für Werbespots und inspirierten die Band Red Hot Chilli Peppers im Jahr 2003 zu ihrem Musik-Video „Can’t Stop“. Damit gelang Wurm ein Erfolg, der den ProtagonistInnen der Gegenwartskunst sonst nur äußerst selten zuteil wird: sein Name drang über die engen Grenzen der Kunstwelt hinaus in gelangte in breiten Publikumskreisen zu Popularität.

Der Begriff One Minute Sculpture beschreibt zugleich einen wesentlichen methodischen Ansatz in den Arbeiten Wurms: den bewussten Verzicht auf das fertige Kunstwerk zugunsten eines Prozesses, der zwar konzeptuell vorgegeben, aber nie vollendet ist und im Prinzip beliebig oft reproduzierbar bleibt. Wollte man das Schaffen Wurms insgesamt mit einem Satz beschreiben, so wäre dabei ebenfalls die fließende Kontinuität hervorzuheben: zwar gibt es Werkphasen, aber auch größere Zeiträume durchlaufende Zyklen. Das vielseitige Oeuvre des Künstlers überrascht immer wieder durch neue Einfälle und setzt sich dennoch aus einer konsequenten Folge von Leitgedanken zusammen, die wiederholt, neu aufgegriffen, weiterentwickelt und auf neue Ebenen transformiert werden. Diesem Umstand Rechnung tragend, ist die vorliegende Publikation auch nicht als chronologisches Werkverzeichnis angelegt, sondern in Kapitel zu verschiedenen Themenkreisen gruppiert.

Den Anfang macht das Kapitel „Dust“. Zu Beginn der 90-er Jahre schuf Wurm Serien von Staubinstallationen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits einen Namen als junger, vielversprechender Bildhauer gemacht, der in seinen frühen Holz-, Blech- und Blumentopfskulpturen viel Gespür für Volumina und Oberflächenstrukturen bewiesen hatte, nun aber durch seine Staubarbeiten den klassischen Begriff des Skulpturalen hinterfragte. Was sich auf den ersten Blick hin möglicherweise wie eine simple Duchamp-Paraphrase ausnimmt, war in Wirklichkeit ein subversives Unterlaufen derselben, denn der Staub auf Wurms „dustpieces“ hatte sich keineswegs erst im Laufe der Zeit angelegt, sondern musste in sorgfältiger Handarbeit angeschüttet werden. Erstmals legte Wurm schriftlich Instruktionen nieder, in denen er genaue Anleitungen zur Herstellung der Arbeit gab, wodurch im Gegenzug gewährleistet war, dass diese jederzeit im Do-It-Yourself-Verfahren produziert werden konnte.

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Im selben Zeitraum entstanden die ersten Kleiderskulpturen. Dabei spannte Wurm Hosen und Jacken über Gerüste von Röhren, Quader und Zylinder, und erzielte mit diesen einfachen Mitteln eine äußerst irritierende Wirkung, die von der Diskrepanz der textilen Strukturen der Körperhüllen und den geometrischen Grundfiguren herrührte. Nachdem er die Kleidungsstücke auf diese Weise dem Gebrauch für den menschlichen Körper quasi entzogen und der Skulptur untergeordnet hatte, brachte er anschießend die Textilien wieder mit dem Körperlichen in Verbindung, aber nun in einem veränderten Kontext, der die Träger der Kleidern zu Akteuren werden ließ, die an der Erschaffung des skulpturalen Gebildes teilnahmen. An diesem Punkt kam auch der Einsatz von Photographie und Video ins Spiel, der Übergang von einem statischen zu einem temporären Skulpturbegriff.

Eines der frühesten Videos, 59 Positions, zeigt die Protagonisten zur Unkenntlichkeit vermummt in ihren Kleiderhüllen, zu Torsi und amorphen Gebilden verwandelt, die unheimlich und zugleich komisch wirken. Mögen die Bilder auch scheinbar verstümmelte Figuren suggerieren, bleibt das Spielerische im Umgang mit dem weichen, textilen Material stets spürbar. Zudem fügt sich das Motiv des Versteckens hinzu, das in Wurms Kosmos ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt.

Eine andere Videoarbeit aus dieser Zeit, Fabio Getting Dressed (Entire Wardrobe), dokumentiert die mühselige Arbeit des Akteurs, seinen kompletten Kleidervorrat Stück für Stück anzulegen, wobei er auch dementsprechend an Volumen zulegt. Wachsen und Zunehmen sollte fortan eines der Hauptthemen in Wurms Arbeiten bleiben: aberwitzige Spiele mit dem heimlichen Grauen vor dem unkontrollierten Gewichtszuwachs, umgedeutet als Skulptur. In seinen jüngsten Arbeiten übertrug Wurm schließlich die artifizielle Mastkur von menschlichen Protagonisten auf Gegenstände; nicht auf x-beliebige Dinge sondern auf Statussymbole wie Häuser und Autos, denen er wuchtige Fettwülste angedeihen ließ. Lust an der Verfremdung der Alltagswelt, Kritik am Wohlstandsspeck? Wurms Arbeiten wirken auf der Wahrnehmungsebene einfach, doch die Deutung ist immer diffizil und vielschichtig.

Das zweite Hauptthema bei Wurm ist, wie bereits erwähnt, die Arbeit mit den Instruktionen. Seine AkteurInnen erhalten Anweisungen, denen sie über die Dauer eines vorher festgelegten Zeitraumes – meistens eine Minute lang – Folge zu leisten haben. Die Situationen können so gewählt sein, dass sie artistische Leistungen erfordern, z.B. Liegestütze auf Kaffeetassen, Balancieren auf Tennisbällen oder Orangen, Dutzende von Flaschen zugleich an die Wand pressen etc., können aber auch ruhige, besinnliche Momente enthalten. Mit Hilfe der „Gebrauchsanweisung“ lassen sie sich im Prinzip an jedem beliebigen Ort ausführen, andererseits stehen viele der Sculpture-Projekte in Bezug zum topographischen Kontext des jeweiligen Entstehungsortes.

Die Situationskomik in diesen temporären Balanceakten ist beabsichtigt, jedoch nicht Selbstzweck. Wie Ralph Rugoff in seinem einleitenden Essay anmerkt, beherrscht Wurm die Kunst, kategorische Grenzen zu unterminieren, indem er Formen und Normen so lange und konsequent verdreht, bis sich der augenscheinliche Nonsens zu Tiefsinn verkehrt. Der Themenkomplex „Think“ etwa handelt von Projekten, wo Personen die Anweisung erhalten, in vorgeschriebenen Posen an bestimmte Philosophen zu denken. Mit der Arbeit Instructions on How to Be Politically Incorrect nimmt Wurm auch unmittelbar zu einem gegenwärtigen politischen Thema Stellung, indem er auf die Paranoia und Antiterrorhysterie der Post 9/11-Gesellschaft reagiert. Seine Akteure posieren erfrischend anarchistisch in unkorrekten, unanständigen, unappetitlichen Stellungen, die zugleich etwas sehr Befreiendes vermitteln: wer hätte nicht schon einmal Lust gehabt, sich ungeniert über Schranken der gesellschaftlichen Etikette hinwegzusetzen?

Das vorliegende Buch stellt die Bilder in den Mittelpunkt, die ganz für sich sprechen. Begleitet werden sie lediglich von drei kurzen, exzellenten Eingangsessays, im Anhang finden sich eine Ausstellungschronologie und eine Auswahl an Aufsätzen. Man kann Guzman zustimmen, dass diese Publikation zu einem Fat Book geworden ist – echt fett! – im besten Sinn.
 

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