Welch ein Schock muss es für die Utrechter Hendrick ter Brugghen, Gerard van Honthorst und Dirck van Baburen gewesen sein, als sie in Rom erstmals auf die atemberaubenden und unkonventionellen Gemälde Caravaggios trafen. Begleitend zur aktuellen Ausstellung in der Alten Pinakothek München zeigt der Band, wie individuell sich die jungen Maler mit dem Vorbild auseinandersetzen und dabei ihren ganz eigenen Stil entwickeln. Annkathrin Sonder hat sich mit dem drastischen Realismus der Utrechter auseinander gesetzt.
»Warum sprechen uns die Werke der Nachfolger von Michelangelo Merisi, der unter dem Namen Caravaggio bekannt ist, so deutlich, so intensiv an?« (S. 15) Vielleicht, so findet man als Antwort im Ausstellungskatalog Utrecht, Caravaggio und Europa, ist es gerade das Alltägliche, das Caravaggio mit großer Strahlkraft und drastischem Realismus in seinen Gemälden darstellt: Sie zeigen den Betrug beim Kartenspiel, biblische Themen wie den Kampf zwischen dem schwächeren David gegen den stärkeren Goliath oder den unmittelbaren Akt der Enthauptung des Holofernes.
Es geht also um zeitlose, in jeder Gesellschaft existierende Phänomene, etwa Macht, Betrug und Gewalt. Doch gelingt es, wie die beiden ausstellenden Häuser – das Centraal Museum in Utrecht und die Bayrischen Staatsgemäldesammlungen in München – anvisieren, dass gerade ein junges, längst nicht mehr mit biblischen Sujets vertrautes Publikum sich in die Bilderwelten der Ausstellung begibt und deren teils pikante Aussagen noch heute, über vierhundert Jahre später, versteht?
Unter den Künstlern, die um 1600 in das florierende und kulturell expandierende Rom zogen, um die revolutionären Neuerungen ihrer Zeit, aber auch die Renaissance und Antike zu studieren, befanden sich die Maler und Protagonisten der Ausstellung Hendrick ter Brugghen (1588–1629), Gerard van Honthorst (1590–1656) und Dirck van Baburen (1594/95–1624). Welche Wirkung müssen die damals ungewöhnlich spannenden Personenkonstellationen, der neue Realismus und die mächtigen Kontraste von Hell und Dunkel gehabt haben, die die drei aus dem calvinistisch geprägten Utrecht stammenden Maler gemeinsam mit ihren jungen Kollegen aus Flandern, Spanien und Frankreich erstmals bei Caravaggio zu Gesicht bekamen! Facettenreich beleuchtet die Publikation ihre zwischen 1600 und 1630 und damit in die Kern- und Blütezeit des sogenannten ›Utrechter Caravaggismus‹ fallenden Werke. Gemeinsamkeiten und individuelle Abweichungen der drei für die stilistischen Neuerungen in den Niederlanden hauptverantwortlichen Maler bilden die Leitlinie der Bucherscheinung, die zunächst kontextualisierend die beiden kontrastreichen Städte Utrecht und Rom in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts beleuchtet. Ter Brugghen, van Honthorst und van Baburen wuchsen unter dem liberalen Einfluss der reformierten Kirche in Utrecht auf, deren vom Katholizismus losgelöste Atmosphäre maßgeblich zur Verbreitung des caravaggistischen Stils in den Niederlanden beitrug: denn der Adel und das Patriziat orientierten sich weltoffen an den internationalen kulturellen Entwicklungen und schufen damit einen gänzlich neuen Nährboden für den nordniederländischen Kunstmarkt. Ausgiebig wird der Leser über historische Einschnitte, kirchliche und politische Konflikte bzw. Umbrüche in Utrecht informiert, aus denen sich einerseits die Bildthemen der drei Maler speisten, die andererseits aber auch die Auftragssituation bestimmten.
Und Rom? Rom war zeitgleich die prachtvollste Stadt – caput mundi – und das künstlerische Zentrum Europas: Neuankömmlingen, die aus allen Himmelsrichtungen in die imposante Metropole strömten, boten sich architektonische Highlights des antiken und neuzeitlichen Roms, an dessen gesellschaftlicher Spitze allmächtig der päpstliche Hof stand. In der Kunst des frühen 17. Jahrhunderts begegnen wir dem bunten Treiben aus Heilern, Gauklern, Bettlern, Kardinälen und Fürsten, die einst Straßen, Plätze und Tavernen der Ewigen Stadt bevölkerten. Die im Katalog aufgenommene Bildauswahl entfaltet vor unserem Auge einen Fächer vielfältiger Bildthemen, die dem kulturhistorischen Panorama des barocken Rom entsprungen sind und dieses in seiner ganzen Bandbreite zeigen.
Der zweite Teil der Bucherscheinung führt den Leser auf die Spuren der drei Utrechter Maler van Baburen, van Honthorst und ter Brugghen. Karel van Mander hatte in seinem Schilder-Boeck (1604) Caravaggios Malweise gepriesen und allen jungen Malern empfohlen, dessen technische Fertigkeiten vor Ort zu erlernen. Als ter Brugghen 1607 nach Süden aufbrach und ihm seine Zeitgenossen van Honthorst und van Baburen drei Jahre später nachfolgten, befand sich das vielgepriesene Künstlergenie allerdings nicht mehr in Rom. So studierten sie die maniera und pratica des hitzköpfigen italienischen Meisters vielmehr an dessen überall zugänglichen Altargemälden.
Der Ausstellungskatalog ist u. a. der Kernfrage gewidmet, ob die jungen Maler nach Rom pilgerten und sich Caravaggios revolutionäre Malweise aneigneten, um Renommee auf dem internationalen Kunstmarkt zu erlangen. Maler wie van Baburen und van Honthorst kopierten aber nicht bloß die existierenden und in Rom überall sichtbaren Gemälde Caravaggios. Sie schufen vielmehr eigene Werke, deren Stilistik und Ikonographie eindeutige Rückbezüge zu Caravaggio zulassen, die aber gleichzeitig ihre eigenen wiedererkennbaren Darstellungsmittel haben.
Nicht zuletzt durch die individuelle Signatur, die sie dem jeweiligen Werk einverleibten, erlangten die drei Utrechter Caravaggisten während ihres Italienaufenthalts die Anerkennung nationaler wie internationaler Auftraggeber: Insbesondere die Gemälde van Baburens und van Honthorsts, die sich vermutlich während ihres Italienaufenthalts eine Wohnung teilten, schmückten schon bald selbst die Altäre von Kirchen wie Santa Maria della Scala oder San Pietro in Montorio. Die Mitglieder der herrschenden Elite gaben die Ausstattung ihrer Palazzi und Sommerresidenzen sowie Altarbilder mit religiösen Sujets für noch unausgestattete Familienkapellen in Auftrag, die neben der Kunstförderung vor allem Repräsentationszwecke befriedigen sollten. Caravaggios Erfolg und sein weitreichender Ruf über die Landesgrenzen Italiens hinaus verdanken sich seinen gut vernetzten und einflussreichen Förderern – nur wenige Maler haben es geschafft, bereits zu Lebzeiten zu derart großem Ansehen zu gelangen und als Namenspatronen einen Malstil zu prägen.
Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Einzeluntersuchungen zu Sammlungsinventaren und gesellschaftlichen Verbindungen von Auftraggebern, Zwischenhändlern und Käufern haben mittlerweile zu einem präziseren Bild des Netzwerks geführt, dessen sich zunächst Caravaggio, aber auch seine Nachfolger bedienten.
Zum Mäzenatentum zählten neben reichen Bankiers, Adeligen, Botschaftern und Angehörigen der päpstlichen Familie insbesondere auch Repräsentanten des spanischen Königs, denn ein Großteil Roms stand unter der Herrschaft des spanischen Königshauses. Nachweislich war van Baburen der Erste unter den Utrechter Caravaggisten, der 1615 durch den Kunstagenten Pietro Cussida mit der verschollenen Darstellung des Martyriums des heiligen Sebastian für die Kirche Santa Maria dei Servi in Parma beauftragt wurde.
Ein weiterer einflussreicher Auftraggeber und geschätzter Kunstconnaisseur war der wohlhabende Bankier Vincenzo Giustiniani (1564–1637), in dessen Sammlung sich neben 15 Gemälden Caravaggios und Werken der Hochrenaissance von Raffael, Giorgione und Tizian auch drei Bilder van Honthorsts befanden, die heute durch Inventarlisten der Erben nachgewiesen werden können. Giustiniani schätzte an van Honthorst dessen ungewöhnlich feinen Umgang mit Farben sowie den technisch ausgefeilten Wechsel zwischen Hell und Dunkel, die ihm im Volksmund den liebevollen Beinamen Gherardo delle Notti einbrachten. Dieser ist insbesondere auf die spezifische Illumination der Nachtstücke des Malers zurückzuführen, die er mit einer dunklen Grundierung versah, während das Bildzentrum durch eine helle Lichtquelle betont wird.
Nach seiner Rückkehr in die Niederlande 1620 zählte die Werkstatt van Honthorsts zu den führenden Ateliers, in denen der Utrechter Caravaggismus regelrecht florierte. Auch van Baburen dürfte ähnliche Ziele verfolgte haben – der in Rom erlangte Ruhm beider Künstler sowie ihr versierter Umgang mit Auftraggebern und Kunstmäzenen boten jedenfalls beste Voraussetzungen, um sich auf dem niederländischen Kunstmarkt ab 1620 zu behaupten.
Die wirtschaftliche Lage ihres Heimatlandes hatte sich nach ihrer Rückkehr durch den Waffenstillstand der Niederlande mit Spanien deutlich gebessert, rasant bildete sich eine wohlhabende Bürgerschicht, die ihr Vermögen in ihre exquisiten Grachtenhäuser und Landsitze investierte, wodurch nicht zuletzt die Nachfrage nach Gemälden inflationär anstieg. Allein in Utrecht lebten um 1620 an die 40 Maler, die ihre Werke ohne Zwischenhändler an Kunden verkauften, die ihre Werkstatt besuchten. Landschaften, Genrebilder, Stillleben und Porträts hielten Einzug in den niederländischen Kunstmarkt, während biblische Szenen aus dem Alten und Neuen Testament – die zu Beginn des 17. Jahrhunderts etwa ein Drittel aller Bilder in Privatsammlungen ausmachten – in den meisten Sammlungen ihre Bedeutung eingebüßt hatten.
Die drei Utrechter Caravaggisten passten die Auswahl und Umsetzung ihrer Sujets den gegebenen Rahmenbedingungen an: In Rom hatten sie aufgrund der hohen Nachfrage primär biblische Bildthemen umgesetzt, in den Niederlanden schufen sie vor allem Bilder mit profanen Inhalten wie etwa ausgelassene Tischgesellschaften mit Musikern, Spielern und Dirnen.
Einige Beachtung verdienen die in der Publikation zusammengeführten Erkenntnisse darüber, in welchen niederländischen Sammlungen sich caravaggistische Bilder zu Lebzeiten der Künstler befanden und in welchen öffentlichen Institutionen Werke von ter Brugghen, van Baburen und van Honthorst konkret nachweisbar sind. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Anzahl ihrer produzierten Bilder sowie die zeitgenössisch erzielten Preise bereits auf eine zeitgenössische Wertschätzung des neuen Bildrepertoires schließen lassen. Sie gelangten größtenteils bereits zu Lebzeiten der Maler in bedeutende europäische Sammlungen.
Der abschließende fundierte Blick auf die spezifische Technik Caravaggios und seiner Nachfolger führt zurück auf die Ausgangsfrage nach der Wirkkraft der Chiaroscuro–Gemälde: Mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit wird dargestellt, welche Grundierungen im barocken Europa üblich waren, welche Bildträger und Effekte zum Einsatz kamen. Deutlich wird hierbei, dass die Utrechter Maler auf den starken Kontrast Caravaggios von dunklem Schatten und hellem Schlaglicht verzichteten und sich in der gemäßigten Modellierung der Figuren eher an Leonardos oder Giorgiones Malweise orientierten, die sie gekonnt mit niederländischen Techniken verbanden.
Als revolutionär dürfte der hieraus gezogene Appell Ashok Roys gelten, die Bilder ter Brugghens, van Baburens und van Honthorsts entgegen der häufigen Praxis in Publikationen und Museen nicht als Beispiele des Caravaggismus anzusehen, sondern sie vielmehr in ihrer eigenen Originalität und Dynamik wahrzunehmen. Sie stehen, so die These, nicht in der Nachfolge eines einzigen Genies, sondern sind technisch ausgefeilte, gänzlich anders geartete Werke, die nur mit Blick auf das europäische Netzwerk, aus dem sie hervorgingen, verstanden werden können.
Die einzelnen Beiträge enthalten ein angemessenes Maß an hochwertigen Farbreproduktionen, während Kurztexte im Katalogteil die zahlreichen abgebildeten Gemälde erläutern. Die Autoren begeben sich auf die Spuren der Erben Caravaggios und zeichnen ein einmaliges Bild ihrer Künstlerreise, sodass ein feinmaschiges Netz an Informationen über die Stilepoche entsteht. Wähnt man sich nun üblicherweise am Ende der Lektüre, so stellt der umfangreiche Katalogteil den eigentlichen Höhepunkt des Lese- und Sehvergnügens dar: Er lässt den Leser durch konzise Analysen sowie die Zusammenführung unterschiedlicher europäischer Umsetzungen von Bildthemen in die individuellen Ausführungen meisterhafter Lichtführung und dramatischer Bildregie eintauchen.