Buchrezensionen, Rezensionen

Bernd Stiegler/Felix Thürlemann (Hg.): Das subjektive Bild. Texte zur Kunstphotographie um 1900, Wilhelm Fink Verlag 2012

Die Kunstfotografie um 1900 gehört als Übergangszeit zu den interessantesten wie umstrittensten Phasen der Fotografiegeschichte. So liegt das Verdienst des von Stiegler und Thürlemann vorgelegten Bandes auch darin, eine umfassende, repräsentative und kommentierte Dokumentation wichtiger Quellen und Zeugnisse der Kunstfotografie zusammengetragen zu haben, findet Walter Kayser.

Es wäre heute eine absurde Vorstellung, wenn noch irgendjemand ernsthaft bestreiten wollte, Fotografie sei keine eigene, oder doch etwas abseitige, Kunstgattung. Die Preise auf dem Kunstmarkt sind explodiert, gerade in den letzten Jahrzehnten hat es einen »Hype« gegeben.

Vor hundert Jahren war das gründlich anders. Die »Lichtmalerei«, wie sie damals bezeichnenderweise auch gern von ihren Liebhabern genannt wurde, stand immer noch im Geruch, nichts als Technik zu sein. Da war dieser einäugige »Apparat«, der mechanisch auf Knopfdruck reagierte, und ansonsten war der Weg vom »Negativ« zum »Positiv« ein nahezu alchemistisches Mysterium von Laboranten in einer chemischen Hexenküche. Die Ergebnisse waren zwar frappant, aber eben doch ein Produkt technischer Reproduzierbarkeit. Die Aura der großen Malerei blieb davon unberührt. Denn in dem Maße, wie dieser die Funktion der Wirklichkeitsabbildung streitig gemacht wurde, besann sie sich auf ihre ureigensten Möglichkeiten und wurde »autonom«.

Gegen diese Abwertung der Fotografie wandte sich eine um Anerkennung bemühte Gegenströmung von neuer Kunstfotografie, der unlängst in der Städtischen Wessenberg-Galerie in Konstanz eine Ausstellung gewidmet wurde. Sie wurde auch an dieser Stelle von Günter Baumann besprochen.

In der Reihe »photogramme« des Wilhelm Fink Verlags hat Bernd Stiegler, der sich in den vergangenen Jahren zum führenden deutschsprachigen Theoretiker im Bereich der Fotografie entwickelt hat, dieses Kapitels angenommen. Zusammen mit Felix Thürlemann, dem scheidenden Professor für Kunstgeschichte an der Uni Konstanz, wo Stiegler selbst auch »Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext« lehrt, haben sie eine Dokumentation vorgelegt. Sie beleuchtet diese »zweite Geburtsstunde« der Fotografie vor hundert Jahren in Text und Bild genauer. Anhand von Aufsätzen aus den damals überaus zahlreichen Zeitschriften zur Fotografie wird noch einmal ersichtlich, wie umstritten die neue Gattung war. Das Buch gliedert sich in acht Abschnitte, die programmatische Schwerpunkte setzen: Wien und Hamburg etwa als Zentren dieser internationalen, von Amerika ausgehenden Bewegung; eine gegen die Berufsfotografen gerichtete breite Front an Amateuren; eine Debatte über Schärfe und Unschärfe oder die, ob und inwiefern Fotografie eigentlich künstlerischer Rang zugesprochen werden könne. – Die heutzutage nicht unbedingt mehr geläufigen Verfassernamen werden in einem Autoren- und Fotografenverzeichnis kurz vorgestellt und das Ganze durch ein vorzügliches Nachwort zusammenfassend erläutert.

Stiegler und Thürlemann haben der Sammlung von 27 Texten sehr bewusst den Titel »Das subjektive Bild« gegeben. Denn nicht zuletzt haftete der Fotografie ja zu sehr der leichte Hautgout an, ganz am Gegenstand orientiert zu sein. War es doch gerade diese alte erkenntnistheoretische Trennung von Subjekt und Objekt, die als Vehikel genutzt wurde, um die Photographen als bloße Handwerker zu diffamieren, als Sklaven des Objektiven.

Nun, in der »piktorialistischen« Phase um 1900, der eigentlichen Geburtsstunde der Kunstfotografie, ging es also darum, der toten Maschine eine Seele einzuhauchen. Die Black Box musste dem menschlichen Auge angepasst, das Sehen mehr als eine mechanische Aufzeichnung werden: »Wir sehen nicht nur den Gegenstand, sondern gleichzeitig sozusagen die logische Konstruktion, die innere Idee des Gegenstandes«, umschrieb einer der Wortführer der Bewegung, der Basler Kunstkritiker Hans Merian, im Jahr 1900 in einem Aufsatz mit dem Titel »Das malerische Sehen in der Fotografie« die Zielsetzung. Entsprechend gab es Versuche, sich durch Anbiederung an den herrschenden Zeitgeschmack als »salonfähig« zu erweisen und sich so breite Anerkennung zu erschleichen. Nach und nach entwickelte sich daraus ein umfassendes ästhetisches Konzept, ja, eine Volksaufklärungsbewegung.

Die als „unbarmherzig“ verschriene Schärfe des ausgeleuchteten Gegenstandes sollte zurückgenommen und durch weiche Sfumato-Valeurs ersetzt werden. Das subjektive Bild sollte verschleiert, gleichsam von Erinnerung und Projektion überzogen werden, von jenem Konstruktions- und Kompositionswillen, der als der eigentlich bildnerische Impuls zu verstehen sei. Abenteuerlich, zu welchen Tricks man dabei griff: Ein Rahmen, bespannt mit einem Netz aus schwarzer Gaze, wurde während der Belichtung vor die Linse geschwenkt, um den Lichtstrahl zu brechen. Oder man versetzte mit einem Geigenbogen den gesamten Apparat sehr zart in Schwingung, um ein gleichmäßiges Verwackeln und die gewünschten Unschärfeeffekte zu erzielen. Der weichen Tonigkeit, die wir auch zeitgleich bei symbolistischen Malern und Radierern wie Odilon Redon, Max Klinger oder Fernand Khnopff finden, kam es auch entgegen, dass das fast in Vergessenheit geratene Gummiabdruckverfahren neu entdeckt wurde.

Um das Medium sprunghaft vielen Amateuren öffnen zu können, war eine andere Voraussetzung nötig: die 1871 entwickelte Belichtung von Gelatine-Trockenplatten. »Avanti dilettanti« hätte daraufhin der Schlachtruf sein können, um den eingefahrenen schablonenhaften Posen und Bildtypen der Berufsphotographen mit unverbrauchten Sehgewohnheiten und neuem Einfallsreichtum zu begegnen. Eine der Schlüsselfiguren dieser Entwicklung war der im Bereich der Kunsterziehung sehr rührige Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg rief er unermüdlich dazu auf, auf täglichen Wanderungen durch die unmittelbare Umgebung, »das Auge zu erziehen«, - notfalls auch mittels einer kleinen schwarzen Pappscheibe mit einem Loch, das man jederzeit aus der Hosentasche ziehen und so geeignete Motive entdecken könnte.

Aber die Öffnung hin zu den (meist wohlhabenden) Amateuren setzte auch eine neue Öffentlichkeit voraus. Sie konstituierte sich in drei Bereichen: in den neu ins Leben gerufenen Clubs, in einer Vielzahl von Ausstellungen und Wettbewerben und nicht zuletzt in einer Fülle von Fachzeitschriften. Da es neben der neuen Breitenentwicklung zugleich auch eine Tendenz gab, durch bewusste Verknappung der Abzüge den Wert eines Fotobildes zu heben, sind neben seltenen Unikaten gerade diese Zeitschriften manchmal auch die einzigen Bildquellen für diese photogeschichtliche Epoche, galt doch «die Breite als Feind der Größe».

Die Ergebnisse der piktorialistischen Bilder waren lange verkannt. Kunstfotografien dieser Phase zeigen alle Merkmale der Malerei dieser Zeit: Wie häufig die zweite Reihe einer stilbildenden Generation zeigen sie besonders deutlich, was dem Zeitgeschmack entsprach. Sie bedienen epigonal, was auf dem Kunstmarkt hoch im Kurs stand: Sie wirken impressionistisch wie Corots spärlich belaubte Frühjahrsbäume im flirrenden Gegenlicht. Sie sind verwaschen tonig wie fin-de-siècle-Porträts aus Kohle oder Rötel. Sie sind kompositionell gewagt wie die flächig geschichteten Plakate der »arte decorative«. Sie wirken ins Sakrale überhöht, bedeutungsschwanger aufgeladen und mystisch vieldeutig wie flandrische Symbolisten oder Wiener Sezessionisten. Überdeutlich wird das in der hitzig geführten Kontroverse um den Amerikaner Eduard J. Steichen. Die Art und Weise, wie er mit den Mitteln der Fotografie »malt«, empörte viele konservative Zunftgemüter, die ihn als »Kunstekel« diffamierten und äußerten, »wenn es eine Kohlezeichnung wäre, dann wäre das Bild vorzüglich, aber da es eine Fotografie sei, wäre es abscheulich«. Solche Zugeständnisse an den Zeitgeschmack trugen dieser Fotografie in der Vergangenheit immer wieder den Ruf des Kitschig-Schwülstigen ein.  Ihren wirklichen Wert im historischen Kontext wieder erkannt zu haben, das ist das bleibende Verdienst dieser Publikation.

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns