Buchrezensionen, Rezensionen

Besprechung im Doppelpack: Die letzte Freiheit / The Last Freedom und Horizon Field

Land Art - die Kunstrichtung, die sich dem Umgestalten von Naturräumen widmet, ist immer wieder durch ihre Radikalität aufgefallen. Günter Baumann widmet sich der Literatur zur Land Art und bespricht zwei Publikationen zum Thema.

Mit dem Buch »Die letzte Freiheit«, erschienen im Mailänder Verlag Silvana Editoriale Spa, wird eine Lücke geschlossen, die als solche kaum wahrgenommen wurde. Das verwundert, weil die Land Art längst keine abgelegene Disziplin mehr ist, sondern eine etablierte Kunstgattung, die hervorragende Protagonisten hervorgebracht hat, die bis heute fest in der Öffentlichkeit etabliert sind – das Renommee etwa von Christo (mit Jeanne-Claude) ist ungebrochen hoch, zusammen mit Richard Long ist er sozusagen ein Klassiker der Zunft. So gibt es zahlreiche Monographien zu einzelnen Künstlern und sogar spezielle Land-Art-Aktionen, aber eine Überblicksdarstellung hat es lange nicht gegeben. Dem Ludwig Museum im Deutschherrenhaus in Koblenz ist es zu verdanken, dass nicht nur diese längst fällige Übersicht erscheinen konnte – bezeichnenderweise in keinem der renommierten deutschen Kunstverlage, sondern in Italien. Das Buch ging aus einer Ausstellung hervor, die bis vor kurzem in Koblenz zu sehen war. Dort war es wohl auch nur als Reflex zur Bundesgartenschau gedacht; umso erfreulicher ist es, dass quasi „nebenbei“ eine epochale Schau zustande kam, die einem schön aufgemachten Standardwerk zur Land Art den Stoff lieferte. Warum diese Gattung als »letzte Freiheit« gefeiert wird, erschließt sich deshalb zwar nicht so recht, aber dass es um Freiräume geht, um Freiräume des Denkens und zum Nachdenken, die offenkundig immer rarer werden, kann man durchaus nachvollziehen.

Warum es die Land Art relativ schwer hat, ihre weithin sichtbare Präsenz im breiten Bewusstsein auch in der Form zu etablieren, zumal in Zeiten, wo die Skulpturengärten und kunstvoll inszenierten Parks fast aus dem Boden zu schießen scheinen, ist schwer nachzuvollziehen. Möglicherweise liegt dies daran, dass die Land Art sich in den 1960er Jahren in den USA ausbreitete, wo die Weite des Raumes sprichwörtlich geworden ist, während sich die Kunst in Europa grade mit der geografischen und mehr noch mit der gesellschaftlichen Enge auseinandersetzen musste. In Europa fehlte sozusagen der wenig, wenn nicht gar unbesiedelte Naturraum, jenseits von Wald und bestelltem Feld. Das Katalogbuch trägt dem Rechnung, indem die zeitbedingten Grundlagen dargelegt werden, der wissenschaftliche Anspruch betont wird, der im Hinblick auf die Kunst oft genug unterbelichtet ist, und indem die Künstlerwerke in Bild und Wort breit vorgestellt werden. Im Zuge der Öffnung innerhalb der Kunstgattungen, der wachsenden Bedeutung des Raumes für die Kunst hat sich allerdings weltweit auch das Verhältnis von Naturraum, Künstler und Prozess bzw. Idee verändert: Die Plastik eroberte den Raum (Platz), die konzeptionelle Kunst machte sich gedanklich breit, mit Auswirkungen in der Natur (ästhetischer Garten). Dass dabei in den 1980er Jahren der Land-Art-Begriff erweitert wurde – wie etwa auch der Begriff der Plastik – , führte zu einer Schwächung der tatsächlichen Land Art und zugleich zu deren Sensibilisierung für neue Aufgaben: Die allerdings wurden oft nicht mehr als Teil einer Land Art wahrgenommen. Als Beispiel sei Ai Weiwei genannt, den jüngst von einer Kunstzeitschrift zum bedeutendsten lebenden Künstler erklärten Tausendsassa (dessen Bekanntheitsgrad freilich auch noch gestiegen ist, dass er vom totalitären chinesischen Regime in demütigender Weise mundtot gemacht wurde): Ausgerechnet als Land-Art-Künstler hat man ihn für gewöhnlich nicht auf dem Schirm. Im Katalog ist er mit Videostills vertreten, die Konzeptionelles und architekturbezogene Arbeiten miteinbeziehen.

Der Untertitel des Bandes ist schon der erste Hinweis darauf, zu welchen Quantensprüngen der Leser animiert wird: »Von den Pionieren der Land Art der 1960er Jahre bis zur Natur im Cyberspace«. Dass auf dem Weg dazwischen die Umweltzerstörung und die sozialen Zuspitzungen in Megastädten passiert werden, macht deutlich, wie vielfältig die Land Art agieren kann und muss. Da gilt es, dass ein Künstler anders gefordert ist, wenn er die Atelier- bzw. die Museumswände verlässt, um in die große weite Welt hinauszuziehen. Zwischen Buchdeckel gezwängt, verliert zwar diese spezielle Art der Kunst an Unmittelbarkeit, die jedoch auch durch die Präsentation im Museum nicht authentischer zu vermitteln ist. Denn die für die Land Art notwendige Form der Kunstvermittlung entzieht sich dem innerräumlichen Kontext. Doch wenn man bedenkt, dass man selten genug die Möglichkeiten hat, die »klassischen« Land-Art-Projekte in Augenschein zu nehmen, so darf man sich glücklich schätzen über den seltenen Versuch einer Ausstellung und noch mehr über die Überblicksschau in Form eines Buches.

Den kunsthistorischen und –philosophischen Essays von Gilles A. Tiberghien, Robert C. Morgan und Serge Paul folgen ausführliche Würdigungen von zwei Dutzend Künstlern, darunter – neben den genannten (Ai, Christo, Long, Turrell) – so kultverdächtigen Größen wie Walter de Maria, Jan Dibbets, Michael Heizer, Robert Morris, David Nash, Dennis Oppenheim oder Robert Smithson. Frauen tauchen in der Land Art eher selten auf. Sieht man von der Partnerin Christos ab, deren Anteil an den Projekten nicht so klar auszumachen ist, fällt Nancy Holt auf mit ihren raum- und zeitbezogenen Observatorien, aber auch die Konzeptkünstlerin Agnes Denes betritt mit ökologisch-sozialem Anspruch die Welt der Land Art.

Die Künstlerliste des Katalogs umfasst insgesamt (mit den Herkunftsländern):
Ai Weiwei (CN), Adam Berg (USA), Christo & Jeanne-Claude (USA), Walter de Maria (USA), Agnes Denes (USA), Jan Dibbets (NL), Florian Dombois (D), Toshikatsu Endo (J), Hamish Fulton (GB), Andy Goldsworthy (GB), Hans Haacke (D), Michael Heizer (USA), Nancy Holt (USA), Peter Hutchinson (USA), Richard Long (GB), Glenn Marshall (GB), Robert Morris (USA), David Nash (GB), Dennis Oppenheim (USA), Jaume Plensa (ES), Charles Ross (USA), Robert Smithson (USA), James Turrell (USA).

Im Entwurfsstadium war noch ein Name zu lesen, der leider im Zuge des Ausstellungsprozesses herausfiel: Antony Gormley. Das verwundert, gehört dessen »Horizon Field« doch zu den unbestrittenen Highlights, die zur Zeit in Europa zu sehen sind: »100 lebensgroße Abgüsse eines menschlichen Körpers aus massivem Gusseisen, verteilt über ein Gebiet von 150 Quadratkilometern auf einer Höhe von ziemlich genau 2039 Metern über dem Meeresspiegel im alpinen Hochgebirge Vorarlbergs, Österreich«. So steht es wie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung in dem vom Kunsthaus Bregenz herausgegebenen Band »Antony Gormley. Horizon Field« zu lesen. Seit August 2010 stehen diese Multiples wie stumme Wächter über ein Stück Natur, das menschheitsgeschichtlich erst relativ kurz als wegsame Landschaft wahrgenommen wird (bekanntlich machte der Dichter Petrarca die Alpen als friedliches Refugium nutzbar; lyrische Hymnen darauf wird es erst im 18. Jahrhundert geben) und die gerade in ihrer noch spürbaren Natürlichkeit und Archetypik mittlerweile bedroht ist wie andere Landstriche auch. Bis April 2012 ist die Präsenz dieser bronzenen Heerschar geplant – die durchaus ein Gegenentwurf zu den berühmten tönernen Grabwächtern für den ersten Kaiser von China sein könnte. Wer sich die kaum überblickbare Installation vor Augen führt, die durch die pure Existenz der Figuren aus der Alpenregion ein Land-Art-Projekt macht, kommt zwangsläufig auf die Fragen, die den Bildhauer antrieben: »Wer sind wir, was sind wir, woher kommen wir und wohin führt unser Weg?« Vier Fragen, die am Anfang und am Ende unserer Existenz stehen – alle Fragen dazwischen sind letztlich irrelevant. Zum Konzept gehört, dass nur manche der je 640 kg wiegenden Statuen auf ›natürlichem‹ (sprich eigentlich von Menschenhand vorgegebene) Wege erreichbar sind, an manchen kann etwa ein Schifahrer vorbeifahren, andere wiederum sind nahezu unerreichbar. Fünf Jahre lang wurde an der Realisierung gearbeitet, doch wer glaubt, dass diese »spinnige« Idee niemanden interessieren könnte, der täuscht sich: Zur Einweihung kamen 1700 Menschen – die Internetkontakte geht in die Hunderttausende. Ob es wohl ein größeres Kunstprojekt weltweit gibt?

Der Gormley-Katalog stellt die grandiose Arbeit in den Kontext des Werks wie auch in den einer zeitgenössischen Ästhetik. Von den begleitenden Texten seien Martin Seels Betrachtung über die »Umgekehrte Erhabenheit« und »Das Unbekannte in der Kunst« von Beat Wyss hervorgehoben. Die Bilder sprechen allerdings auch für sich – kein Wunder, bei der Kulisse. Bei einer solch eindringlichen Vertiefung in ein Einzelprojekt kann eine Überblicksdarstellung zum Thema der Land Art, wie sie »Die letzte Freiheit« bietet, qualitativ nur schwerlich mitziehen. Hier besticht jedoch der Wille zur Themenbreite.

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