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Beth Lilly - the oracle @ wifi, Kehrer Verlag 2012

Was könnte ein Künstler mit einer Handykamera anfangen? Beth Lilly beantwortet diese Frage mit einem Langzeitkunstprojekt, das sich an traditionelle Weissagungsmethoden anlehnt. Yi-Ji Lu erklärt Ihnen, was dahinter steckt.

Ein halb abgerissenes Plakat, eine auf Beton gemalte Springersilhouette, die Füße eines Marmordenkmals — drei scheinbar zusammenhangslose Schnappschüsse. Kann das Kunst sein und wenn ja wie? Erst wenn man den Fotoband »the oracle @ wifi« der Fotokünstlerin Beth Lilly durchblättert und die den fotografischen Triptychen jeweils zugehörige Frage wahrnimmt, lässt sich ein Bezug zwischen den losen Bilderreihen erahnen.

Kunst, so könnte die einfache Antwort in Lillys Fall lauten, vollzieht sich im Dialog. Erst wenn der Rezipient seinen Teil dazu beiträgt, wird das visuelle Puzzle durch eine schriftliche Botschaft komplementiert — im Fall des oben beschriebenen Triptychons durch die Frage »what’s next in my life?«.
Das Verfahren ist einfach wie innovativ. Beth Lilly empfängt an jedem siebten Tag im Monat Anrufe von Fremden. Wie einst beim Orakel von Delphi haben die Anrufer jeweils eine spezielle Frage im Kopf, die jedoch wird beim ersten Telefonat nicht verraten. Der Anrufer gibt der Künstlerin lediglich seine E-Mail-Adresse, sie nimmt daraufhin mit ihrer Handykamera drei Fotos aus ihrer Umgebung auf, sendet diese dem Anrufer zu und erhält von ihm im Gegenzug die Frage.

Fotografische Abbildungen von Rolltreppen in einem Einkaufszentrum, Schmuck in Vitrinen und von einem in Hochhäusern sich spiegelndem Himmel erhalten durch die Frage »how do I get over him?« eine thematische Stringenz. Der Fotoband gibt eindrucksvoll die sich auftuenden Fragen des Menschen angesichts moderner Anforderungen wieder. Lillys Kunst reagiert auf die sich verändernden Gesellschaftsstrukturen und sich wandelnden Lebenskonzepte von Partnerschaft, Beruf und Alltag. Dabei werden einerseits immergleiche anthropologische Grundbedürfnisse wie Liebe, Existenzsorgen, Tod oder Religiosität offengelegt, anderseits aber auch speziell Problematiken moderner Gesellschaften wie unbeständige Arbeits- und Lebenssituationen angeschnitten.

Die Fotokünstlerin greift das Kulturphänomen der Vorhersage auf und verlagert es in einen Kontext moderner Vernetzung. In 45 Triptychen zeichnet sich eines deutlich heraus: die dem Menschen inhärente Sehnsucht nach Gewissheit ist auch in der Gegenwart noch präsent. Dabei wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Denn eingeteilt sind die Fotografien zwar in vier Kapitel, ob diese Einteilung inhaltlichen oder lokalen Kriterien — auch die Zeitangaben lassen keine Deutungen zu — folgt, bleibt wie so vieles unklar. Auf eine Aufklärung verzichten auch die zwei einleitenden Texte, einmal von Beth Lilly selbst und einmal von Katherine Ware, und verwehren dem Betrachter damit ein vorgegebenes Ordnungsangebot.

Der Fotoband verschreibt sich einem Programm, das Lillys Kunst selbst immanent ist: der Sinnsuche: Das Projekt »the oracle @ wifi« will den Anrufern eine Hilfestellung geben, die Antworten auf lebensrelevante Fragen zu finden. Dies geschieht nicht dadurch, dass Beth Lilly jene Antworten vorgibt, sondern den Anrufer und Leser zur eigenen Sinnsuche auffordert. Welcher Sinn aus den Fotos gezogen werden soll, ist ganz dem Betrachter überlassen. So haben einige Fotoreihen einen klaren Zusammenhang, bei anderen fehlt dieser vollends: Kruzifixe, Stäbchen auf einem Teller und ein Aquarium mit Zierfischen — da lässt sich auch mit der Frage »should I apply to law school« kein rechter Zusammenhang herstellen.

Doch ist es womöglich auch nicht Lillys Anliegen, verdauliche Kunst zu schaffen, die unmittelbar Bedeutung enthält und sofort offenlegt. Gemäß der einstigen Inschrift an der Pilgerstätte am Hang des Parnass »Erkenne dich selbst« spielt die Fotokünstlerin mit der Psyche des Menschen und seiner ständigen Suche nach Bedeutungsmustern. Der Betrachter wird in der Annahme, dass hinter allem Wahrgenommenen eine scheinbare Bedeutung stecken muss, sodann ins Leere geführt. Hinter der Entstehung ihrer Kunst steht nämlich ganz der Zufall. In dieser Weise schafft sie ein semiotisches Versteckspiel, das dem Betrachter die Mechanismen seiner Wahrnehmung und Bedeutungsgenerierung vor Augen führt.

Wahrscheinlich ist dies schon eine Überinterpretation, für die uns das Projekt sensibilisiert. Es kann sich bei »the oracle @ wifi« auch bloß um einen Aufruf handeln — und das ist weder ein Widerspruch noch schmälert es den Wert des Projektes —, in erfrischender Weise imaginativ und kollaborativ an Kunst teilzunehmen. Der Fotoband ist daher begrenzt zu empfehlen, weniger denjenigen, die an schönen Fotos interessiert sind, als vielmehr denjenigen, die für neue Denkanstöße offen sind.

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Das Buch kann über den Buchhandel erworben werden.

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