Buchrezensionen

Birgit Verwiebe, Gabriel Montua (Hg.): Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir, Hirmer Verlag 2018

Rucksack gepackt, Stiefel geschnürt und ab ins Grüne! Das Wandern erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit. Das ist indes nicht erst seit gestern so: seit dem 18. Jahrhundert wurde es immer beliebter und eroberte als Sujet schließlich auch die Kunst. Andreas Maurer hat mit dem Buch eine Wanderung durch die Kunstgeschichte unternommen.

Schon ein paar simple Schritte vor die Haustüre können eine neue Epoche einleiten. Das beweist seit Mai die Sonderausstellung »Wanderlust« in der Alten Nationalgalerie in Berlin, die sich als erste ihrer Art dem Thema Wandern in der Kunst des 19. Jahrhunderts bis zur Klassischen Moderne widmet. Denn an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhunderts wurde Europa vom Wandervirus befallen, der sich noch immer an den steigenden Verkaufszahlen von Schuhen, Stöcken oder Navigationssystemen ablesen lässt. Während man heute aber lediglich ein paar Schritte zur Verdauung geht oder die eigenen Kinder mit einer sommerlichen Bergtour quält, war die grundlegende Idee des Wanderns im 19. Jahrhundert eine völlig andere: eine Erfahrungssuche mit identitätsstiftender Praktik.

Die Berliner Schau vereint dazu über 100 Kunstwerke, auf denen das Wandern thematisiert wird bzw. Wanderer dargestellt sind; nicht gezeigt werden die unmittelbaren Ergebnisse von Künstlerwanderungen wie z.B. Freilichtstudien. Begleitend ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der nicht nur die ausgestellten Werke farbenreich abbildet, sondern darüber hinaus das Wandern als Motiv in der europäischen Kunst in Textbeiträgen eindrücklich erklärt und auch für Couchpotatoes begreifbar macht. Denn: Die Chronik des Wanderns und Losgehens ist zugleich eine Geschichte der Sehnsüchte und Hoffnungen.

Immer wieder liest man zu diesem Thema (auch im Katalog), dass Jean Jacques Rousseaus Spruch »Zurück zur Natur« den Funken zu dieser neuen Lust am Wandern zündete. Da dieses Zitat aber bis heute keiner seiner gesicherten Schrift zugeordnet werden kann, scheint es wahrscheinlicher, dass Rousseaus einflussreicher Erziehungsroman »Emilé« (1762) den Stein ins Rollen brachte. Denn darin sinniert der Schriftsteller und Philosoph über die langsame Fußwanderung und warum sie der schnelleren Postkutschenfahrt vorzuziehen sei. Selbstbestimmtheit in Tempo, Weg und Ziel sollten zu einer neuen, intensiveren Art der Naturbegegnung und zu einer körperlichen Form der Weltaneignung führten. Ein erster Schritt zum Epochenwandel in der Reisepraxis, denn im Gegensatz zur vorherrschenden Grand Tour zählte nicht mehr allein das Ziel, sondern auch der eingeschlagene Weg dorthin. Dichter und Maler mutierten zu passionierten Wanderern und als netter Nebeneffekt wurde dabei auch das Sujet des Landschaftsbilds erneuert.

Niederschlag fand das Wandern aber neben der Literatur und der bildenden Kunst auch in der Musik. Als etwa Franz Schubert Texte mit dem Thema »Wandern« vertonte (»Die schöne Müllerin«, »Winterreise«), hatte er weniger das Naturleben, sondern mehr eine innere Reise vor Augen. Die Figur des Wanderers ist dabei häufig mit Motiven wie dem Weg, der Weite, der Schlucht, dem Abgrund, dem Gipfel, der Überfahrt oder der Rast verbunden. Zwar spiegeln sich in diesen Stationen auch reale Eindrücke der Künstler wider, zugleich wurde das Wandern aber ebenso als Sinnbild für den Lebensweg verstanden, vergleichbar mit einem Pilger auf Suche nach Erfahrung und Erkenntnis. Auch die Gliederung des Katalogs – Entdeckung der Natur, Lebensreise, Künstlerwanderung, Spaziergänge, Sehnsuchtsland Italien und Wanderlandschaften nördlich der Alpen – ist thematisch an diese Abschnitte angelehnt.

Die Voraussetzung für jede Wanderschaft bildet aber der Aufbruch, der Mut sich in die damals noch unberührten und unbekannten Landschaften hinein zu wagen. Indiana Jones–ähnlich waren es damals die Alpenmaler aus der Schweiz, die sich (wahrscheinlich mehr aus wissenschaftlichem Interesse) ins bis dahin gefürchtete Hochgebirge wagten und dieses zeichneten und malten, als sich andere Künstler noch im schützenden Tal aufhielten. Aus naturhistorischem Interesse wurde schließlich allgemeine Faszination, aus Faszination Sehnsucht und aus Sehnsucht Kunst. Die Konfrontation mit dem Fremden führte zur Entdeckung des Eigenen und zu zahlreichen Darstellungen heimischer Landschaften, etwa der Rheingegend, des Harz, der Sächsischen Schweiz, des Riesengebirges oder der Eifel.

Dennoch: die durchwanderte Landschaft wurde an der Wende zum 19. Jahrhundert meist noch als Ideallandschaft im Atelier komponiert. Doch auch die sonst eher konservativen Akademien sprangen langsam aber doch auf den neuen Zug auf. Die Naturtreue erfasste die Lehrpläne und Studienreisen wurden zum obligaten Teil des Unterrichts, das Wandern selbst zum Königsweg eines neuen Landschaftsbildes. Die so entstandenen Werke bemühten sich zwar um ein Maximum an Wahrheit, brachten jedoch nur ein Minimum an Wirklichkeit zustande. Von einem Realismus wie er sich später in Naturdarstellungen zeigen sollte war man noch weit entfernt. Dennoch: Aufbruch, Weg, Rast und Ziel wurden von jedem individuell erfahren und gedeutet. Und gerade die Tatsache, dass es kein einheitliches Bild dieser »Wanderlust« gibt macht die Spannung dieser Kunsterzeugnisse aus.

Mit der Aufklärung wurde schließlich auch das gemeine Volk von der Wanderlust infiziert. Aktionsräume begannen sich auszudehnen und wer lieber zur geringen körperlichen Anstrengung und kürzeren Entfernungen tendierte, entschied sich statt einer Wanderung für einen Spaziergang. »Wandern light« eben bei dem das betrachtende Genießen der Natur im Vordergrund stand. Und das zeigt vor allem eines: Dass die beginnende Industrialisierung und die neuen Fortbewegungsmittel (Eisenbahn, Dampfschiff) den Menschen zum Kontrastprogramm zwangen, zu einer Rückkehr zum menschlichen Maß des Schrittes. Natur war nun die offizielle Gegnerin der Großstadt, der Verzicht auf Technik Ausdruck eines modernen Lebensgefühls. Angesichts des hohen Tempos in der heutigen Lebenswelt vielleicht ein willkommener Denkanstoß zur Entschleunigung.

Wer nun aber glaubt, der Berliner Katalog zeige nur romantisch verklärte Wandersmänner und -frauen, der irrt gewaltig. Obwohl der Ursprung der »Wanderlust« in der Romantik zu finden ist, deckt sie die verschiedensten Epochen ab und spannt den Bogen bis zur Gegenwart. Der Untertitel nennt als Endstation zwar August Renoir, in Wirklichkeit geht die Reise aber weiter: bis zu Ernst Barlach und Joseph Beuys (»La rivoluzzione simao noi« von 1971), Losgehen als grundsätzlicher Aufbruch. Den Auftakt bildet, wie könnte es anders sein, Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«, dazwischen führt der Katalog die Leser aber auch an unerwartete Wegkreuzungen. Als etwa Paul Gauguin in Begleitung Van Goghs 1888 nach Montpellier wanderte, war er von Gustave Courbets Werk »Bonjour Monsieur Courbet« so beeindruckt, dass er gleich seine eigene Version »Bonjour Monsieur Gauguin« malte. Dazu widmet man sich auch schrittweise der Emanzipation der Frau mit der selbstbewussten Bergsteigerin von Jens Ferdinand Willumsen als ihrem Höhepunkt.

Wandern wird auf diesen Seiten zum Gleichnis, zum Nachdenken über den Sinn des Lebens. Der Lebensmüde von Ferdinand Hodler thematisiert schließlich das Ende dieser Reise. Dazwischen finden sich Werke von Carl Blechen bis Otto Dix, die verdeutlichen, wie mächtig und fruchtbar das Motiv des Wanderns nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Norwegen oder Russland war. Ein europäischer Hype der auch durch die Internationalität der Leihgeber der Werke dokumentiert ist. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet auch das angehängte Literaturverzeichnis, das nicht moderne Publikationen aufgelistet, sondern exemplarische Literatur aus der jeweiligen Epoche von 1762 bis 1874 anführt. So viel Natur und Wandergeist aber in die Seiten gepackt wurde, so stutzig macht das Vorwort. Denn Ausstellung und Katalog wurden durch die Volkswagen Aktiengesellschaft finanziert. Vielleicht für alle die mehr auf Road–Trips stehen…

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