Kolumne

Blickwinkel #11: Ich bin ganz Ohr

Raiko Oldenettel über seltsame Kunstwerke und die Hinterlassenschaften des Vincent van Gogh.

Seit meiner frühen Jugend leide ich unter einem furchtbaren Tinnitus, der mir zeitweise mein Gehör versagt, wie auch meinen Sinn für das Gleichgewicht. Beides keine besonders notwendigen Fähigkeiten, um mich mit der Kunst zu beschäftigen, noch ein Grund mir das Ohr abzuschneiden. Halt! Das haben Sie schon einmal gehört? Selbstverständlich ist dies eine der Mythen um das abgeschnittene Ohr des Künstlers Vincent van Gogh. Ob nun vollständig oder gänzlich abgeschnitten – das Bild des ohrlosen Mitbegründers der Moderne ist mit auf seine Akte in unserem historischen Gedächtnis gewandert. Selbst wenn der Vorfall um den Streit mit Gauguin während van Goghs Besuch in Arles 1888 nicht wirklich wird geklärt werden können, haben wir uns in der Gegenwart, fast 126 Jahre später, immer noch nicht davon gelöst.

Wieso also nicht das Corpus Delicti zum Leben erwecken? Ganz Frankenstein‘scher Hobby-Küche entsprungen hat sich die Künstlerin Diemut Strebe ein Kunstwerk ersonnen, das uns genau das ermöglicht. In einer Nährlösung aufbewahrt stellt sie im ZKM das durch 3D-Drucker hergestellte Ohr aus. Der Glanzpunkt: Die verwendeten Zellen wurden aus dem genetischen Material eines Verwandten van Goghs hergestellt. Des Urenkels des Bruders, um genau zu sein. Das Ohr wurde jedoch nicht freiwachsend, wie oft schon gesehen auf dem Rücken einer Ratte gezüchtet, sondern in die überlieferte Form von van Goghs tatsächlichen Ohren gepresst. Also kein Körperwelten und auch kein Damien Hirst, etwas dazwischen, das uns eine neue Grauzone präsentiert.

Wozu das alles? Nicht nur, dass man durch das Kunstwerk und seiner Besprechung das Wort Ohr inflationär benutzen darf, es wirft auch Fragen auf, die das Werk selbst untergraben. Stellen wir uns vor, der Künstler wäre in unserer Zeit dazu aus innerem Wunsch heraus getrieben worden sich das Ohr, bei bereits vorhandenem Ruhm, abzuschneiden und es in Nährlösung zu geben – was hätten wir davon? Den konservierten und ausgestellten fleischlichen Teil eines Künstlers? Der Gedanke an Gruselkammern und eingelegte Föten dringt durch. Legt man diesen Gedanken ab, eröffnen sich weitere. Wieso ermöglicht die Künstlerin über ein Mikrofon die Interaktion mit dem Sinnesorgan? Wird irgendwo erklärt, ob auch das Innenohr, also die Instrumente des Hörens, nachgebildet wurden? Oder konfrontiert man uns mit einer labbrigen Masse geklonter Zellen, die als Schalltrichter für eine Abhörwanze dienen, die dann, ich frage mich wieso, das durch die Nährlösung verzerrte Geräusch meiner Stimme über einen Lautsprecher ausgibt?

Hirsts getrennte Kuh und ihr Kalb haben mich damals geistig auf den Prüfstand gestellt, aber sie haben nicht vor meiner Faszination versagt. Van Goghs Ohr zu klonen, oder auch nicht zu klonen (verwirrend diese vielen Veränderungen im Lichte von Theseus‘ Schiff), hängt mir nach Wochen noch nach. Es ist einerseits die Kommunikation mit dem tot-lebendigen Objekt, das gleichzeitig genial und im selben Augenblick schlecht gelungen ist; als auch die Feststellung, dass die Übertragung von »Abschneiden« zu »Klonen« tatsächlich interessante Gedanken ermöglicht. Die Nährlösung ist mittlerweile abgelaufen und das Ohr nicht mehr zur Schau ausgestellt. Die Verzweiflung an diesem Kunstwerk also bleibt zunächst bestehen. Nur eine Nachfolge oder eine Verjährung dürften für mich das Kapitel zufriedenstellend beenden. Vielleicht kommt dann ja als nächstes die Nase des Condottiere Federico da Montefeltro an die Reihe! Samt der spannenden Frage: Vor, oder nach seiner Begegnung mit der gegnerischen Lanze?

PS: Ohr, Ohr, Ohr, Ohr, Ohr!

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