Kolumne

Blickwinkel #2: Eadweard Muybridge

Anlässlich seines heutigen 183. Geburtstages widmet sich Raiko Oldenettel dem britischen Fotografen und Pionier der Fototechnik.

Eine Fliege löst ihr Umfeld in 250 Bilder die Sekunde auf. Was schlicht und ergreifend grandios ist, bedenkt man, dass der Mensch dies gerade einmal in 14 Bildern kann. Würde uns am frühen Morgen diese Gabe geschenkt, könnten wir dem ungeschickten Fall unserer Kaffeetasse in Zeitlupe zusehen und die Agonie des bevorstehenden Aufpralls vollends genießen. Eadweard Muybridge hatte Ende des 19. Jahrhunderts etwas ähnlich Stimulierendes vollbracht, wenngleich er mit seiner Sicht der Dinge einen anderen Fall aufschlüsselte. Er vervollständigte den menschlichen Sehapparat um die Wahrnehmung schneller Bewegungen, in dem er die erste Publikation von Chronofotografien der Welt vorstellte. Hinter einer einfachen Reihenschaltung von Kameras und angetriebenen Bisons, Pferden und Elefanten stand eine tiefere Idee, die auch die darauffolgenden Künstler in den Bann zog. Wie bewegt sich das Ding, das Tier, der Mensch eigentlich wirklich? Welche Muskeln arbeiten gleichzeitig, was passiert weiterhin mit den Zehen, wenn man rennt?

Da gibt es zum Beispiel Marcel Duchamp. Er übernimmt in seinem Gemälde „Akt, einen Treppe herunter steigend“ die minutiös sezierte Zeitfolge einer der Serien und stellt die Figur als kolportierende Sequenz in einem Wurmschlauch menschlicher Formen dar. Der Empfindungsbereich des Betrachters wird gesteigert, denn, was ihm üblicherweise im Alltag verwehrt bliebe, ist genau diese Gabe der Zeit gefrierenden Kamera, die Duchamp mit Öl auskostete. Die Erfahrung von Einfangen, Verstehen und sinnvoll Anordnen gibt der Kunst neue Begriffe an die Hand, neue Werkzeuge des Entdeckens und Vermittelns. Auch scheint Muybridge, der durchaus seine weniger fotogenen Charakterseiten hatte, seine Sehgewohnheiten in die Historie einprogrammiert zu haben. So ist die Szene aus Matrix nicht mehr weg zu denken, in der Trinity zum Tritt in der Luft ansetzt und den Zuschauer aus 360° daran teilhaben lässt. Man könnte ihn ebenso gut Eadweard “Bullet time“ Muybridge nennen.

Daumenkino, Zeitlupe, Zeitraffer. Der Einfall der hintereinander geschalteten Seelenräuber bleibt genial. Und so einfach, dass Werbekampagnen, Dokumentarfilme und wissenschaftliche Youtube-Beiträge nicht mehr darauf verzichten wollen. Was Muybridge uns ermöglicht hat, ist aber nicht nur Spielerei. Er hat, wie viele Wissenschaften, das Limit der Sinne erweitert. Er hat uns verstehen lassen, welcher der vielen kleinen Muskeln in unserer Hand nicht funktionierte, als der Henkel vom Zeigefinger rutschte.

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