Buchrezensionen

Bologne, Jean-Claude: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls, Hermann Böhlaus Nachf. Verlag, Weimar 2001.

Die Nacktheit ist ohne das Schamgefühl nicht denkbar. Als Synonym für Sexualität war der nackte Körper über Jahrtausende mit Scham belegt.

Im 19. und 20. Jahrhundert änderte sich das in den westlichen Industriestaaten radikal. Seitdem hat das Nackte nicht nur in der Werbung Konjunktur. Auch in der Kulturindustrie. Neuerliche Belege hierfür liefert unter anderem der deutschsprachige Raum, wo zum Beispiel eine Reihe großer Ausstellungen das Thema des nackten Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandelten beziehungsweise behandeln. Letztes Jahr liefen zwei große und sehr
erfolgreiche Ausstellungen über Nacktheit und Aktkunst (und im Kino Doris Dörries Film "Nackt"). Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigte "Nackt. Die Ästhetik der Blöße" und die Emdener Kunsthalle "Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts". Ende September dieses Jahres bis zum Januar 2004 ist im Frankfurter Städel "Nackt! Der Körper der Frau am Beginn der Moderne" zu sehen.

Diesem großen Interesse am Bild des nackten Menschen lässt sich eine andere Beobachtung zur Seite stellen. Dass nämlich die Annahme weit verbreitet ist, in der westlichen säkularen Gesellschaft würden die Tabus schwinden. Grenzüberschreitungen und Provokationen scheinen beinahe unmöglich oder immer schwieriger geworden zu sein. Selbst das Bild der Nacktheit, früher oft ein Stein des Anstoßes, macht da keine Ausnahme. Die Darstellungen des nackten menschlichen Körpers sind heutzutage ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags, unserer Bildkultur und der Kunst. Und hier gibt es kaum mehr Tabus, Schamgrenzen, die fallen könnten. "Nichts ist unmöglich!", könnte es auch hier heißen. Wenn der amerikanische Aktionskünstler Spencer Tunick in Barcelona mit etwa 7000 Nackten ein Menschenmeer arrangiert, löst das höchstens ein Stirnrunzeln, keineswegs aber einen Entrüstungssturm aus.

Doch das, was im okzidentalischen Kulturkreis für selbstverständlich
erachtet wird, kann etwa im orientalischen auf völliges Unverständnis, nicht selten auf Protest und Ablehnung stoßen, weil es als Verstoß gegen die sogenannten guten Sitten und als "schamlos" gewertet wird. So jüngst geschehen bei einer Kunstaktion im Ägyptischen Museum Berlin, die den Ägyptern offenbar erst die Scham- und dann die Zornesröte ins Gesicht trieb. Und das "nur", weil das ungarische Künstlerduo Little Warsaw für eine Video-Dokumentation den Kopf der Nofretete kurzzeitig auf einen auf den ersten Blick nackt erscheinenden Frauenkörper setzte. Für eine Kairoer Tageszeitung war der Tatbestand klar: "Königin Nofretete nackt im Museum Berlin", titelte sie entsetzt über das vermeintliche Sakrileg, das begangen wurde - und nahm den "Skandal" gleich zum Anlass, die Büste der ägyptischen
Schönheit zurückzufordern.

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Wie ist der Diskurs über Nacktheit und Aktkunst angesichts des privaten und öffentlichen Lebens zu bewerten? Ist er Ausdruck eines gewandelten Körperbewusstseins, einer größeren Selbstverständlichkeit im Umgang mit Bildern der Nacktheit? Ist er ein Indikator für ein verändertes Schamgefühl? Gar für einen vollkommenen Sittenwandel?

Bolognes Mentalitätsgeschichte des Schamgefühls bietet die Möglichkeit, mit der nötigen historischen Distanz auf das Phänomen zu blicken. Das Buch, in Frankreich 1999 unter dem schlichten Titel "Histoire de la pudeur" erschienen - warum erhalten deutsche Ausgaben fremdsprachiger kulturgeschichtlicher Monographien so häufig marktschreierische Titel: "Nacktheit und Prüderie"? - ist der erste Versuch eines Kulturhistorikers, die Geschichte des Schamgefühls zu schreiben. Er spürt diesem für unser Leben so wichtigen Gefühl im Bereich des Alltags und der Kunst (bildende Kunst, Theater, Film, Literatur) nach und kommt dabei zu interessanten Ergebnissen. Dass zum Beispiel die Audienz auf dem Nachtstuhl in der gehobenen französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts weniger mit "lockeren Sitten" als mit der Inszenierung von Macht und der Demütigung
desjenigen, der Augenzeuge sein musste, zu tun hat. "Der Herzog von Parma hatte eines Tages seinen Bischof in einer Mission zum
Herzog von Vendôme gesandt. Der ehrwürdige Herr, schreibt Saint-Simon, \'war sehr überrascht vom Herrn von Vendôme auf dem Nachtstuhl empfangen zu werden, und noch mehr, als er mit ansehen musste, wie dieser sich mitten im Gespräch erhob und vor seinen Augen den Hintern wischte. Der Vorfall empörte ihn dermaßen, dass er, allerdings ohne ein Wort darüber zu verlieren, nach Parma zurückkehrte, obwohl seine Mission noch nicht vollendet war.\' (...) Daraufhin entsandte der Herzog von Parma den jungen Priester Giulio Alberoni
(...). Es folgt nun eine burleske Szene, als der Botschafter aus Parma genau dasselbe erlebt wie der Bischof vor ihm. Im Angesichts des herzoglichen Hinterns ruft der Priester verzückt aus: \'Welch engelgleiches Gesäß!\' und besiegelt den Ausruf mit einem Kuss auf den so gerühmten Körperteil." Der Herzog von Vendôme hatte Nachahmer. "Gaignières berichtet, der Marquis de Watteville habe den Maréchal de Force auf dem Nachtstuhl empfangen und sich wie Vendôme mitten im Gespräch davon erhoben, woraufhin der Marschall ohne zu zögern mit den Worten \'Ich empfange ihren Besuch hier\' selbst darauf
Platz genommen habe. Er reagiert also wie der Bischof aus Parma, indem er die Demütigung verweigert, nur dass er das mit mehr Takt und Humor als der Bischof tut. Indem er seinerseits den Herzog vom Nachtstuhl aus empfängt, stellt er das gestörte Gleichgewicht wieder her."

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Bologne zeigt in diesem und in vielen weiteren Beispielen, das Nacktheit und Schamgefühl im öffentlichen Raum immer in ihrem gesellschaftlichen Umfeld und in ihrer sozialen Funktion studiert werden müssen. Und dass beim Schamgefühl zu differenzieren ist zwischen sakralem, religiösem,
konventionellem, sozialem und individuellem.

Am Ende der nachdenklich stimmenden Lektüre hat man gelernt, dass die Entwicklung des Schamgefühls durch die Jahrhunderte kein linearer Prozess ist hin zu einer größeren Freizügigkeit und Freiheit des Körpers, wie sie sich im 20. Jahrhundert durchsetzen, sondern das diese komplizierte Entwicklung aufs engste verknüpft ist mit den Wandlungen der Gesellschaftund ihrer Werte.

Interessant für die Kunsthistoriker ist Bolognes Studie insbesondere dort, wo er speziell auf das Schamgefühl in der bildenden Kunst eingeht und dieEntwicklung der künstlerischen Nacktheit und die von ihr ausgelösten Skandale beleuchtet. Das Jahr 1907 ist für den Autor in der Geschichte des Schamgefühls ein Schlüsseljahr, denn nicht zufällig entstehen zur gleichen Zeit "Les Demoiselles d`Avignon" von Picasso und der "Blaue Akt" von Matisse- zwei zentrale Werke der modernen Aktmalerei. Infolge der durch die Formensprache des Kubismus und der Fauves ausgelösten Entwicklungen büßt der Akt seine Fähigkeit zu schockieren ein. Für Bologne sind die alten Tabusdamit meist überwunden: "Genauer gesagt: die parallele Entwicklung einer erotischen Kunst in darauf spezialisierten Zeitschriften hat der Nacktheit
in der Kunst andere Ziele vorgegeben als bloße Augenweide." Die
zeitgenössische Aktmalerei entspringe nicht mehr einem kleinkariertem
Begriff der Scham.

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Diese Geschichte des Schamgefühls ist ohne Frage sehr lesenswert und weckt ein neues Verständnis für den Gegenstand. Allerdings verärgert es, dass sich im Verlauf der 416 Seiten die Druckfehler derart häufen, dass der Leser sich manches Mal fragt, ob entweder die Konzentration der Übersetzer beim Abtippen ihres Manuskripts nachgelassen oder ob kein Auge eines Lektors die Druckfassung erblickt hat. Wie sonst ist zu erklären, dass es zum Beispiel in der Überschrift auf Seite 407 - einem Zitat von Foucault - heißt: "Die streng Monarchie der Sexualität"? (Im Inhalt heißt es richtig: "strenge".) Angesichts des hohen Preises kann man vom Verlag mehr Sorgfalt und Verantwortungsgefühl dem eigenen Produkt gegenüber erwarten.

Bibliographische Angaben

Bologne, Jean-Claude: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls, Hermann Böhlaus Nachf. Verlag, Weimar 2001. Gebunden, 480 Seiten, ISBN 3740011386.

 

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