Grölende, alkoholisierte Jugendliche vor einer U-Bahnstation, ältere Damen, die um einen Imbisstisch stehen, junge, sozialschwache Familien nach dem zermürbenden Einkauf und Rentnerehepaare, unterwegs auf Westberliner Straßen: das sind die Protagonisten der aktuellen Fotografien von Boris Mikhailov, die noch bis zum 17. Juni 2004 in der Galerie Barbara Weiss in Berlin zu sehen sind.
Die betont amateurhaft wirkenden Bilder scheinen dabei wie im Vorbeigehen geschossen, wie aus dem Fotoalbum eines Laien bzw. eines Durchschnittsbürgers entnommen. Dieser entspricht den abgebildeten „Durchschnittsberlinern“, die sich vor ihrem sozialen urbanen Kontext zeigen: abgewirtschaftete Einkaufsstraßen und Plätze im Westberliner Kiez, ehemals „moderne“ Architekturen und nicht zuletzt die sprießende Imbisskultur. Der Schnappschusscharakter der Fotografien, das Spontane und Beiläufige scheint somit neben dem Verzicht auf Nahaufnahmen, betontem Anschneiden von Köpfen und teilweise Aufnahmen der Personen von hinten – also dem technisch-kompositorischen Aspekt – auch durch die Motivwahl hervorgerufen. Hier werden “Nichtereignisse“ festgehalten, d.h. Situationen, wie sie tagtäglich zu sehen sind.
Boris Mikhailov, 1938 in der Ukraine geboren und seit 1996 in Berlin lebend, ist mit Sozialstudien der postsowjetischen Gesellschaft seiner Heimat bekannt geworden. Sein Buch „Case History“ (1996/97) schockierte durch die brutale Direktheit der größtenteils nackten und verstümmelten, in der Armut verwurzelten Menschen, die dem Betrachter direkt ins Gesicht blicken.
Doch die Berliner Fotos lassen den Fotografen als Anwesenden nicht sichtbar werden, keiner der Protagonisten schaut direkt in die Kamera. Die Aufnahmen lesen sich allerdings ebenfalls als eine Art gesellschaftliche Dokumentation, eine Erforschung des Umfeldes, in der der Künstler nun seit einiger Zeit als Fremder lebt. Es bleibt zu berücksichtigen, dass die Ausstellung keine Bilder in Fotoalbengröße zeigt, sondern farbige Prints, deren Größe zwischen 100 bis 150 x 150 cm schwankt. Diese Tatsache hebt die Fotografien in den Status von Gemälden. Ihr tafelbildartiger Charakter vermittelt neue Bedeutungszusammenhänge. Der Betrachter wähnt sich näher am Bild selbst und erfährt durch die überdimensionale Größe der Fotos eine intensive Konfrontation mit dem Bildsujet.
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Das Großformat und auch die Rahmung der Fotografien erzeugt einen Zuwachs an Bedeutung und Wichtigkeit, der den Motiven kaum gegensätzlicher gegenüberstehen kann. Nicht ausnahmslos als Sozialkritik zu verstehen, beinhaltet das Aufzeigen des unspektakulären Lebens im ehemals glanzvollen Westen, der neben dem Wiederaufbau im Osten als Tristesse zurückbleibt, indirekt den Hinweis auf eine „neue“ Armut. Die abgebildeten Menschen sind zwar noch nicht wie die Obdachlosen der „Case History“-Serie durch das „soziale Netz“ gefallen, jedoch wird hier das typische Westverständnis auseinandergenommen. Frauen, die in abgestellten Kisten nach brauchbaren Kleidungsstücken wühlen, erinnern an Märkte in Osteuropa.
Öffnungszeiten
Di-Sa 11-18 Uhr