Im Spiegel der jüngsten, spektakulären Kunstdiebstähle wird man Publikationen wie der vorliegenden von Céline Delavaux gewiss eine gesteigerte Aufmerksamkeit schenken. Eine die Jahrhunderte und Kulturen umspannende Auswahl von 40 verlorenen Meisterwerken präsentiert sie in ihrem imaginären Museum der verschwundenen Schätze und breitet vor dem Publikum einen rauschenden, bunten Bilderbogen aus. Das kann man mögen oder auch nicht, findet Ulrike Schuster.
Optisch besticht das Buch aus dem Hause des renommierten Prestel Verlags durch die bewährt-gediegene Aufmachung und qualitativ hochwertige Abbildungen. Die Darstellung ist thematisch in fünf Blöcke gegliedert und die einzelnen Kapitel mit den Attributen Verschollen, Verändert, Zerstört, Verborgen und Gestohlen überschrieben. Beim näheren Durchblättern erkennt man jedoch sehr schnell, dass hier in erster Linie eine Zusammenschau von wohlbekannten »Best of…«–Beispielen stattfindet. Die zudem nicht selten in einem Grenzbereich zur allgemeinen Einführungsliteratur angesiedelt sind. Dass heutzutage berühmte Gemälde und Artefakte vielfach nur mehr in Vor- beziehungsweise Nachzeichnungen überliefert sind, oder dass ein Großteil der griechisch-klassischen Originale lediglich in der Gestalt von römischen Kopien auf uns gekommen sind, sollte eigentlich bereits hinreichend dargelegt worden sein. Und gehört es tatsächlich noch in diesem Zusammenhang, wenn zeitgenössische Künstler ihre Arbeiten bewusst auf eine begrenzte Dauer angelegt hatten, wie Christo und Jeanne-Claude ihre Installation der »Surrounded Islands«? Ebenso erscheint es etwas weit hergeholt, ein höchst raffinertes (gleichfalls ephemeres) Trompe l’œil des Künstlers Felice Varini von 1999 unter »verschollen« zu kategorisieren, da es sich dazumal für den Betrachter nur von einem bestimmten Blickwinkel aus erschließen mochte.
Immerhin vermag die Publikation deutlich zu machen, dass die Ursachen für den Verlust oder die Zerstörung von Kunstwerken komplex und vielfältig sind. Sie reichen von mutwilligen Vandalenakten und dreisten Diebstählen bis hin zu den verheerenden Auswirkungen von Kriegen, Naturgewalten und Feuersbrünsten. Die Autorin thematisiert weiterhin die Problematik von späteren Überarbeitungen und Vereinnahmungen, von schlecht ausgeführten Restaurierungen und umstrittenen Konservierungspraktiken und verweist auf fragwürdige Sammleraktivitäten wie etwa das Zerstückeln von wertvollen Kodizes.
Anhand von Röntgenaufnahmen kann sie belegen, wie einige prominente Gemälde, zum Beispiel die weltberühmten »Las Meninas« von Diego de Velázquez, nachträglich noch einmal von der Hand des Meisters überarbeitet wurden. – Wobei allerdings die Frage offen bleibt, ob man ein solches Vorgehen als zerstörerischen oder schöpferischen Eingriff werten sollte.
Mit ihrem weitgestreuten Spektrum schneidet Delavaux eine Vielzahl an Themenkomplexen an, deren detaillierte Ausführung den Rahmen einer Übersichtspublikation mit Sicherheit gesprengt hätte. Doch in der Auflistung von allzu vielen unterschiedlichen Aspekten, über Kunstregionen und Kulturepochen verstreut, entsteht letztlich ein Bild von bunt gemischter Beliebigkeit. Dieser Eindruck setzt sich fort, wenn man sich in die begleitenden Texte vertieft: Zwar kann die Autorin mit einer beeindruckenden Detailfülle aufwarten. Doch die Fakten wirken oftmals unsystematisch zusammengetragen und lassen auch nicht immer den Bezug zum übergeordneten thematischen Anliegen des Buches erkennen.
Dennoch: als »Einstiegsdroge« für alle diejenigen, die sich grundsätzlich mit der Thematik vertraut machen wollen, erwirbt sich diese Publikation durchaus große Verdienste. Zumal sie uns drastisch vor Augen führt, dass der menschlichen Dummheit auch in der heutigen Zeit leider keine Grenzen gesetzt sind: 1993 explodierte eine Bombe neben den Uffizien in Florenz. Dabei wurde das weltberühmte Gemälde »Die Anbetung der Hirten« von Gerrit van Honthorst unwiederbringlich zerstört. 2002 endete der abenteuerliche Serienraub eines Elsässers mit der Vernichtung sämtlicher Meisterwerke, darunter ein »Schlafender Hirtenjunge« von François Boucher. Und schauerlich ist man berührt vom Schicksal der Skulptur »The Sphere« von Fritz Koenig: Auf ihrem Standplatz im Zentrum der World Trade Center Plaza wurde sie zwar schwer beschädigt, aber nicht völlig zerstört und steht nunmehr als Mahnmal für die Opfer des 11. Septembers in einem Park im Süden Manhattans.
Das imaginäre Museum von Delavaux ist also mit Bestimmtheit dazu geeignet, die Neugierde nach mehr zu erwecken: ein gutes Werk, dass die Hoffnung nährt, das eine oder andere verschollene Werk möge, dank Initiativen wie dieser, eines Tages wieder an seinem Platz in der Öffentlichkeit zurückkehren.