Buchrezensionen, Rezensionen

Cara Schweizer: Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch. Das Leben einer Künstlerin 1889-1978, Osburg Verlag 2011

Das Leben einer Aussteigerin in der Weimarer »Bierbauchkulturepoche«: Den »Schnitt mit dem Küchenmesser« durch »die Bierbauchepoche« vollzog Hannah Höch nicht nur symbolisch in ihrer bekannten Collage. Sie erkannte auch messerscharf die Stupidität ihrer Zeit und lebte danach. Sonja Lüke hat Höchs Aufbegehren gegen die (ebenfalls ein Werktitel) »ewigen Schuhplattler« der Hampelmänner mit immer größerer Bewunderung für echten Mut in der neu erschienenen Biografie mitverfolgt.

Eine »Karawane« der Sportausstatterfirma für die Freiheit. Hannah Höch zog in den von den Zeitgenossen als »Wanderniere« oder »vollendete Sperrholzlaube« belächelten Wohnwagen »Karawane« umher und machte sich mit ihrem 20 Jahre jüngeren Partner auf Europareise. Sie heiratete nicht, war sexuell unkonventionell und gehörte dem illustren Männerclub Dada an. Schließlich zog sie sich in die blühende Natur ihres Gartens in Berlin-Heiligensee zurück ― über sie und ihre Blumenoase mit mehr als 800 Pflanzen gibt es einen wunderbaren Dokumentarfilm. In ihrem Garten vergrub sie den Kunstschatz ihrer Freunde, um ihn vor Enteignung und Zerstörung zu bewahren. Hannah Höch ist eine Anarchistin vom Feinsten. Auch die Geschichten in den Geschichten erzählen vom Absurdistan des Anarchismus. So beschützte wegen Tumulten und Schlägereien im Publikum ausgerechnet die schikanöse Polizei, die später ihren Lebenspartner inhaftierte, die tourenden Dadaisten. Höchs Charakter wäre für die Titelheldin einer Tragödie geradezu geschaffen. Es ist schön, wenn die Realität die Fiktion überbietet.

Eigentlich hätte Höch zu einem Idol der Flower-Power-Bewegung werden können. Allein aus Abenteuerlust besteigt sie den »Glutbälle hoch in die Luft werfenden« Vesuv, wie sie in ihrem Tagebuch notiert. Sie ist ein Inbild der Unabhängigkeit: »Ich möchte die festen Grenzen auswischen, die wir Menschen mit eigenartiger Sicherheit um alles gezogen haben«. Und sie liebt es, in eine fremde Haut zu schlüpfen: »Ich würde heute die Welt aus der Sicht einer Ameise wiedergeben und morgen, so wie der Mond sie vielleicht sieht«.

Ihr Reisekalender und ihr schwarzer Humor sind ihre treuesten Begleiter. Weil sie eine Sammlerpersönlichkeit war, kann die ausführliche Biografie sehr sinnlich ihr Erleben nacherzählen, ganz ohne etwas zu erfinden: Höch kommt selbst in aller Selbstironie zu Wort. Ihre Erinnerung und ihre spöttelnde Weltsicht spiegeln sich in ihren täglichen Kommentaren in ihrem Taschenkalender und in ihren Briefen wider. Die Biografin hatte die Qual der Wahl. Auch, was das andere Erinnerungsbuch anbelangt, das Höch geführt hat, wenn sie nicht auf leichtes Reisegepäck verpflichtet war: Die Alben ihrer Zeitungsbildsammlungen, die das Rohmaterial ihres Kunstschaffens darstellen. Ausführliche Kunstinterpretationen beleuchten geschickt Höchs Persönlichkeit. Entlang der schwarzhumorigen Werke ― mit Titeln wie »Die Mücke ist tot«, »Vita immortalis« oder »Selbstbildnis als russische Tänzerin« ― werden die Identitätsspiele der Künstlerin und mit ihnen ihre Lebensgeschichte, ihr Lebensgefühl, enthüllt. Höch hat selbst die Eckdaten ihrer Erinnerung in ihrer visuellen Autobiografie collagenartig sechs Jahre vor ihrem Tod zusammengefasst. Das Dokumentarische der Biografie ist vorbildhaft. Wem gefallen schon erfundene Biografien, außer sie sind vom Künstler selbst inszeniert?

Nicht nur die dramatischen politischen Umstände machen das Buch zur nervenaufreibenden, spannenden Lektüre. Die Autorin Cara Schweitzer versteht es als Kunsthistorikerin auch, über Hannah Höchs Freundschaften mit Raoul Haussmann, Kurt Schwitters, Lázló Moholoy-Nagy, Theo und Nelly van Doesburg, sowie Hans Arp und Sophie Täubner-Arp lebendige Einblicke in die virile Kunstszene zu vermitteln.

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