Ausstellungsbesprechungen

Carl Strüwe – Reisen in unbekannte Welten, Kunsthalle Bielefeld, bis 13. Mai 2012

Nachdem Carl Strüwes Schaffen in letzter Zeit national und international verstärkt Beachtung erfahren hat, wird das Werk des Bielefelder Foto-Pioniers in einer umfassenden Retrospektive vorgestellt. Mit den gezeigten Mikrofotografien, den frühen Zeichnungen des 18-Jährigen bis zur Malerei des Spätwerks wird erstmals ein Überblick über sein Gesamtwerk möglich. Rainer K. Wick war vor Ort.

Im Jahr 1955 erschien im renommierten Münchner Prestel-Verlag unter dem Titel »Formen des Mikrokosmos« ein Bildband mit 96 ganzseitigen Tafelabbildungen in Schwarzweiß, die mikroskopische Aufnahmen von Kristallen, Zellen, Flüssigkeiten, pflanzlichen, tierischen und menschlichen Substanzen in bis zu 2000facher Vergrößerung zeigten. Sein Autor: Carl Strüwe, ein Bielefelder Gebrauchsgrafiker, Künstler und Fotograf. Trotz dieser Publikation und des 1986 publizierten Fotobandes »Hohenstaufen in Italien« ist Strüwe allenfalls Insidern bekannt, da er bislang gewissermaßen durch die Maschen der Rezeption hindurchgefallen ist. Mit der umfassenden Retrospektive, die derzeit in der Kunsthalle Bielefeld zu besichtigen ist, dürfte sich das allerdings grundlegend ändern.

Denn diese Ausstellung lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die zeichnerischen, malerischen und gebrauchsgrafischen Arbeiten Strüwes, sondern in erster Linie auf sein fotografisches Œuvre, das fotohistorisch zwischen der Neuen Sachlichkeit der 1920er und der Subjektiven Fotografie der 1950er Jahre anzusiedeln ist und sich durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit auszeichnet. Letztere resultiert aus der Tatsache, dass Strüwe mit der Werkgruppe »Formen des Mikrokosmos«, die zwischen 1926 und 1959 entstanden ist, das Spezialgebiet der angewandten, naturwissenschaftlichen Mikrofotografie auf die Ebene der freien, künstlerischen Fotografie gehoben hat.

Die Biografie von Carl Strüwe ist unspektakulär. 1898 geboren, 1988 gestorben, absolvierte er von 1913 bis 1917 bei der Fa. Gundlach, einem Bielefelder druckgrafischen Betrieb, eine Lithografenlehre. Nach 50-jähriger Betriebszugehörigkeit schied er 1963 aus diesem Unternehmen aus. Trotz der Zwänge, die ihm sein Brotberuf auferlegte, fühlte er sich schon früh zur Kunst hingezogen, was in der Bielefelder Ausstellung durch zahlreiche Landschaftszeichnungen belegt wird – um 1916 zunächst naturalistisch, dann, um 1919 und angeregt von seinem Lehrer an der Bielefelder Handwerker- und Kunstgewerbeschule Ludwig Godewol, unter dem Einfluss von Expressionismus und Kubismus. In den 1920er Jahren wandte sich Strüwe dezidiert der Fotografie zu, die er auf Reisen in die Schweiz, nach Österreich, Italien und Nordafrika kultivierte. Über Jahrzehnte hinweg wuchsen die Werkkomplexe »Hohenstaufen in Italien« und »Antike Köpfe«. Der Erste zeigt meist kontrastreiche Aufnahmen jener Orte südlich der Alpen, an denen im Hochmittelalter die Staufer ihre Spuren hinterließen. Der zweite Komplex beinhaltet Aufnahmen von Skulpturen aus italienischen Museen, die sich von der in der Archäologie und Kunstwissenschaft üblichen „neutralen“ Objektfotografie durch ein betont subjektives fotografisches Sehen unterscheiden: Marmor- und Bronzeköpfe wurden als Individuen gezeigt und durch extreme Nahsichten gleichsam zum Leben erweckt. Erwähnenswert sind auch die eindrucksvollen Menschen-, Landschafts- und Architekturfotografien, die Strüwe Anfang der 1930er Jahre in Tunesien und Algerien schuf und die nicht nur ästhetisch überaus reizvoll, sondern nach 80 Jahren zudem von besonderem ethnografischen Interesse sind.

Im Mittelpunkt der gut gegliederten und konzentriert gehängten Bielefelder Retrospektive stehen Strüwes mikroskopische Aufnahmen, die den Betrachter auf »Reisen in unbekannte Welten« (so der Untertitel der Ausstellung) mitnehmen. Es sind dies Welten, die im Normalfall der Sichtbarkeit entzogen sind und die der Fotograf mit seinen apparativen Mitteln – Mikroskop und Kamera – der menschlichen Wahrnehmung erschließt. Dabei geht es ihm weniger um einen naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn als eher darum, auf die ästhetische Dimension dieser „unbekannten Welten“ hinzuweisen. Dass dies von Anfang Strüwes konzeptioneller Ansatz gewesen ist, zeigt schon seine erste Mikrofotografie des Jahres 1926. Es handelt sich um das Foto der Zellstruktur eines Fischbein genannten hornartigen Körperteils aus dem Maul des Wals. Bezeichnenderweise trägt das Foto aber keinen Titel aus der Sphäre der Biologie; vielmehr verweist der Bildtitel »Weiß über Grau schwebend« auf den Bereich der bildenden Kunst und könnte auch von einem abstrakten Maler gewählt worden sein. Besonders die Gruppe der „elementaren Formen“ erinnert weniger an ein Mikroskopie-Kompendium als an eine fotografische Bildersammlung im Fahrwasser der klassischen Gestaltungslehren Kandinskys, Klees, Ittens und ihrer Nachfolger, die sich auf die formalen Möglichkeiten der Grundelemente der Gestaltung, also Punkt, Linie, Fläche, Körper und Raum, Kreis, Quadrat und Dreieck, Kubus, Kegel, Zylinder und Pyramide konzentrierten. So gibt es in dieser Gruppe aus der zweiten Hälfte der 1920er und den frühen 1930er Jahren Aufnahmen, die schlicht als »Kreisform«, »Quadratform«, »Rechteckform«, »Dreieckform«, »Spirale«, »Kugelform« und »Kegelform« bezeichnet sind und erst im zweiten (Unter-)Titel Aufschluss auf das mikroskopierte Material selbst geben, etwa auf Diatomeen (Kieselalgen) oder Hippursäure (eine organische Carbonsäure im Harn von Pferden).

Im Unterschied zu den „elementaren Formen“ führen die in der Gruppe der „Ur- und Sinnbilder“ zusammengefassten Mikrofotografien über das rein Formale hinaus. Hier hat Strüwe seine weitgehend abstrakt wirkenden Mikrofotografien durch inhaltliche Zuschreibungen mit Bedeutungen aufgeladen. So finden sich in der Ausstellung zahlreiche Fotos, die sinnbildlich spezifische menschliche Seinszustände und soziale Verhaltenweisen repräsentieren: »Individualität«, »Kollektiv«, »Verankerung«, »Anpassung«, »Räubertum«, »Abwehr«, um die von Strüwe selbst benutzten Begriffe zu zitieren. Und es gibt eine Reihe von Mikrofotografien, die explizit das Licht bzw. dessen formende Kraft und damit den essentiellen Kern des Mediums Fotografie thematisieren. Denn Fotografie heißt ja nichts anderes als Schreiben bzw. Zeichnen mit Licht (griech. Fōtó = Licht; gráfein = schreiben, zeichnen). Bildtitel wie »Lichtgefälle über Stärkekörnen in einer Lackschicht«, »Spitzlicht an Diatomeen« oder »Geteiltes Schräglicht« zeigen, dass Strüwe nicht primär an einer auf naturwissenschaftliche Objektivität zielenden Mikrofotografie interessiert war, sondern in erster Linie daran, im subjektiven Zugriff auf das Material die Gestaltungsmöglichkeiten des Mediums Fotografie auszuloten.

Gleichwohl war die Faszination, die die Phänomene des Mikrokosmos auf Carl Strüwe ausübten, enorm. Und sie war zeittypisch. Erinnert sei an die großen Tafelwerke des von Darwins Evolutionstheorie beeinflussten Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel und, auf dem Gebiet der Fotografie, an das Buch »Urformen der Kunst« von Karl Blossfeldt aus dem Jahr 1928 — Publikationen, die die verborgenen strukturellen Übereinstimmungen zwischen Natur- und Kunstform zu visualisieren suchten.

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