Buchrezensionen

Christa Lichtenstern: Henry Moore. Werk – Theorie – Wirkung, Deutscher Kunstverlag, München, Berlin 2008

Verena Paul über diesen neuen wichtigen Band zur Moore-Forschung. Ihr Fazit: Spannend wie ein Roman!

„Mit seinen monumentalen Bronzen, Stein- und Holzskulpturen, die an vielen Orten auf der Welt anzutreffen sind, hat Henry Moore (1898-1986) für die Skulptur neue Maßstäbe gesetzt. Wo auch immer seine kraftvollen Figuren ihr Gespräch mit Bäumen, Felsen, Hügeln oder Seen aufnehmen, sich vor einer Hochhausarchitektur behaupten oder in einem öffentlichen Raum den Betrachter ansprechen, stets halten sie einen unerhörten Reichtum an Form-Beziehungen, Interaktionen und neuen Raumschöpfungen bereit“, so Christa Lichtenstern in der Einleitung zu ihrer profunden Publikation „Henry Moore. Werk – Theorie – Wirkung“. Daher, so die Autorin weiter, vermochte „Moores beispielloser Umgang mit organischen Formen und deren immanenten Rhythmen, mit Raumdurchbrüchen und Landschaftsanalogien […] das Verständnis von Plastik aus wechselnder Perspektive mehr als ein Jahrhundert lang“ zu weiten. In den nun folgenden Kapiteln zeichnet Lichtenstern aber nicht nur die werkgeschichtliche Entwicklung des Bildhauers nach, sondern öffnet dem Leser auch den Blick auf einen Künstler, der für Menschlichkeit mit und durch seine Werke eintrat. In ihrer Gedenkrede 1986 würdigte Brigitte Matschinsky-Denninghoff zu Recht die Geradlinigkeit und das Verantwortungsbewusstsein ihres einstigen Mentors, wenn sie sagte: „Er empfand seinen Ruhm als Verantwortung, mit der er sehr behutsam umging als strenger aber positiver Beobachter und Kritiker, ohne jede Bosheit, voller Respekt vor den Bemühungen anderer und allem, was der Kunst dient.“ [Matschinsky-Denninghoff]

Um den Leser einen Zugang zum Œuvre Henry Moores zu ermöglichen, beleuchtet Lichtenstern im ersten Teil in chronologischer Abfolge die „verschiedenen Gruppen von thematisch verwandten Skulpturen“, wobei sie zunächst die Orientierungspunkte des jungen Bildhauers darlegt. Neben einer altmexikanischen Chacmool-Figur, der Moore selbst in formaler Hinsicht einen großen Einfluss auf sein Frühwerk beimaß, waren es Paul Cézanne, Henri Gaudier-Brzeska, Jacob Epstein, Alexander Archipenko, Aristide Maillol, Ossip Zadkine und nicht zuletzt Pablo Picasso, die auf den Künstler in den 1920er Jahren entscheidend eingewirkt haben. In der folgenden Dekade dann nahm Moore surrealistische Impulse auf und beantwortet die object trouvé-Ästhetik mit dem Biomorphismus seiner markanten „Transformation Drawings“. Stand am Anfang jener Zeichnungen die Nachbildung von Funden aus der Natur, wie Kieselsteinen, Muscheln, angeschwemmtem Holz oder Knochen, wandelten sich diese im weiteren Zeichnungsprozess zu Menschen oder neuartigen, figurativen Erscheinungen. Im Dialog mit Alberto Giacomettis surrealistischen Arbeiten demonstriert die Autorin dem Leser, dass Moore die Erprobung von Form „durch neue raumplastische Vorstellungen und vertiefte Ausdrucksdimensionen zu erweitern“ vermochte. Die Experimente dieser Zeit führten den Bildhauer aber nicht nur zu neuen Themen, sondern letztlich auch zu seinen eigenen „englisch-romantischen Quellen“ – zu Natur und Magie.

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Nicht minder spannend zu lesen ist das Kapitel über die „Shelter Drawings“, den so genannten Bunker-Zeichnungen, in denen der Künstler die Kriegsrealität zu durchdringen suchte, indem er den Mensch in einer Grenzsituation einfing – in seinem stoischen Ausharren, in seiner Furcht oder seinem verzweifelten Schlafen. Im darauf folgenden Themenkomplex steht Moores Zuwendung zur Antike, die ihm den Weg zu sich selbst wies sowie seine Zuwendung zur italienischen Kunst im Fokus, „die seiner ganzen Sensibilität am ehesten entsprach und von daher“, so das Ergebnis der Autorin, „eine wirkliche Identifikation ermöglichte.“ Mit Beginn der 60er Jahre beginnt Moores Alterswerk, das durch einen intensiven Dialog mit der Architektur und der Landschaft geprägt ist, wobei die in die Landschaft versetzte Skulptur „angesichts der hier gesteigerten Fülle von Gestaltbezügen [mehr noch] auf sich selbst verwiesen“ wird, wie Lichtenstern betont.

Im Kapitel „Die irisch-angelsächsische Konstante“ geht die Verfasserin der Frage nach Moores „Englishness“ nach und gelangt – „trotz aller Unvollständigkeiten, die der Behandlung eines solchen Kernthemas notwenig anhaften“ – zu dem Resultat, dass der Bildhauer in seinen Bezügen zur Romantik wohl am „englischsten“ war – Literaten, Philosophen und Dichter wie Coleridge, Keats, Wordsworth, Walter Scott und Thomas Hardy prägten Moores innerste „Weltsicht auf die Natur und auf den Menschen“ nicht weniger als die Maler Turner, Constable und Blake. Im abschließenden Kapitel des ersten Teils verortet Lichtenstern Henry Moore in der Skulpturgeschichte, indem sie ihn im Verhältnis zu Auguste Rodin, dem Wegbereiter der Skulptur des 20. Jahrhunderts, betrachtet. Während der Ältere „aus dem symbolistischen Geist der Suggestion“ die „inhaltlich offene Geste der Verehrung zelebriert, betont der Engländer, stärker der Empirie verhaftet, das dialogische Miteinander“ und bleibt damit dem Leben enger verbunden. Pointiert erfasst Lichtenstern diesen Antagonismus in dem Satz: „Lyrisches Pathos wird bei Moore durch reelle Mitmenschlichkeit ersetzt.“

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Mit dem zweiten Teil betritt die Verfasserin ein hochinteressantes und dergestalt noch nicht untersuchtes, komplexes Themengebiet, indem sie Moores ästhetische Leitbegriffe und deren ästhetikgeschichtliche Grundlagen zusammenhängend untersucht. Dabei fußen Begriffe wie „organic whole“ und „spiritual vitality“ – so Lichtenstern – „in einem vom deutschen Idealismus eröffneten und auf die englische Romantik übergreifenden Diskussionsraum“. Weitere Begriffe wie „balance“, „rhythm“, „size“, „space“, „intensity“ und „metaphor“ begründen dann Moores Hauptziel der „humanity of form“. Trotz der Theorie-Skepsis des Künstlers formulieren diese Schlüsselbegriffe im Austausch miteinander eine Einheit, die Moore schließlich – und dies das prägnante Fazit der Autorin – „aus seinem idealistisch-romantischen Gedankengut heraus zum modernen Verteidiger eines organischen Formganzen werden“ ließ.

Mit dem dritten und abschließenden Teil der Monographie, der sich den „Aspekten der Wirkungsgeschichte“ widmet, erfolgt noch einmal ein Perspektivwechsel. Gleich zu Beginn hält Lichtenstern fest, dass Henry Moores Wirkungsgeschichte nach 1945 aus skulpturhistorischer Sicht gesehen „schlichtweg beispiellos“ ist, was sich nicht nur in den zahlreichen Ausstellungen, sondern vor allem durch das Weiterwirken in Künstlerateliers artikuliert. Eingehend untersucht sie nun Moores künstlerischen Einfluss in den unterschiedlichen politischen Systemen von West- und Ostdeutschland, in England, Amerika, Japan, Russland und Polen. Dabei werden dem Leser sowohl greifbare Motivähnlichkeiten, etwa zwischen Frühwerken Brigitte Matschinsky-Denninghoffs und Arbeiten Moores als auch kunsttheoretische Gemeinsamkeiten, wie sie zwischen dem Bildhauer und Joseph Beuys bestehen, aufgezeigt. In ihren Schlusssätzen betont Lichtenstern, dass Henry Moores Formen „als Zeugnisse einer großen Menschlichkeit und einer naturgebundenen Innerlichkeit […] Maßstäbe dafür setzen [konnten], was Skulptur vermag. In Zeiten eines erschreckend rasch um sich greifenden Verlustes an haptisch-sinnlichem Erfahrungsvermögen bieten sich seine Plastiken als Remedium an.“ Und sie vermutet, dass genau das die Künstler bereits geahnt haben, die sich mit seinem Œuvre beschäftigten. Wichtig scheinen mir besonders in diesem Teil die Verweise der Autorin auf Forschungsfelder, die noch nicht ausgiebig erschlossen sind. Darin sei jedoch weniger die wissenschaftliche Lücke, als vielmehr die Nische betont, auf die Lichtenstern für andere Kunsthistoriker aufmerksam machen möchte.

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Neben dem in präziser und zugleich sehr einfühlsamer Sprache geschriebenen, wohl strukturierten und wissenschaftlich fundierten Text der Autorin, weiß das vorliegende Buch durch die Vielzahl an Abbildungen zu überzeugen, die in hervorragender Druckqualität wiedergegeben sind. Gerade bei plastischen Arbeiten ist es aufschlussreich, wenn sie nicht nur aus einer, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen werden, um so ihrem Charakter besser nachspüren zu können. Neben vereinzelten Detailaufnahmen wurden daher häufig Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert, um so der Mehransichtigkeit, die Moores dreidimensionalen Arbeiten eingeschrieben ist, Rechnung zu tragen.

Christa Lichtenstern leistet mit diesem Band einen fundamental wichtigen Beitrag zur Moore-Forschung. Wenngleich bereits zahlreiche Publikationen mit den unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen zu Moores Œuvre existieren, so erfuhr das seinem Schaffen zugrunde liegende komplexe Gedankengebäude bislang keine eingehende Betrachtung. „Dass dieser Künstler aber zweifellos eine höchst eigene und vielfältig theoretisch untermauerte Auffassung von Skulptur hatte“, hat die Autorin hier erstmals zusammenhängend dargelegt und damit den Werken ein geistiges Fundament unterlegt.

Ob in Händen von Studenten, Wissenschaftlern oder einem fachfremden, aber interessierten Publikum, diese Monographie ist eine absolut lohnenswerte Investition. Denn Lichtenstern versteht es, die Tür zu dem Menschen Henry Moore zu öffnen, mit dem sie sich persönlich in mehreren Gesprächen austauschen und so über den Bildhauer in dessen künstlerisches Wirken noch intensiver eintauchen konnte. Dadurch hat die Publikation eine ungemeine Klarheit und Authentizität erhalten, die nicht nur aus der gründlichen und langjährigen Recherche, sondern ganz besonders aus der tiefen Verbundenheit und Wertschätzung der Autorin zu und für Moore resultiert.

Auf sprachlich subtile, poetische, vor allem aber lebendige Weise führt Christa Lichtenstern uns zum Menschen Henry Moore und dessen vielschichtigem und für die Skulpturgeschichte bedeutendem Schaffen. Dabei bindet sie Bezüge zu geistesgeschichtlichen Leitfiguren des Bildhauers sowie kunsthistorisches Informationsmaterial derart geschickt ein, dass sich das vorliegende Werk spannend wie ein Roman und eindringlich wie die Zeilen eines Gedichtes lesen lässt!

 

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