Christiane Heuwinkel/Maja Jakubeit/Christoph Wagner/Kunstforum Hermann Stenner: Gustav Vriesen und die Entdeckung der Moderne in Bielefeld. Hirmer Verlag

Ein Kunsthistoriker im Zentrum: Gustav Vriesen (1912–1960) präsentierte eine der ersten Ausstellungen zu August Macke im Nachkriegsdeutschland, entdeckte den fast verschollenen Expressionisten Hermann Stenner wieder und forschte zu Robert und Sonia Delaunay. Mit seiner Recherche zu Gustav Vriesen, dem ehemaligen Leiter des Städtischen Kunsthauses Bielefeld, hat das Kunstforum Hermann Stenner vor einigen Jahren kunsthistorisches Neuland erschlossen. Auf der Basis unveröffentlichter Tagebücher, Dokumente und zahlreicher Abbildungen führt nun der begleitende bibliophile Band durch das Lebenswerk eines leidenschaftlichen Kunstvermittlers. Susanne Ramm–Weber ist dieser Spurensuche zur Wiederentdeckung der Moderne nach 1945 aufmerksam gefolgt.

cover © Hirmer Verlag
cover © Hirmer Verlag

Im Januar 2019 ist in Bielefeld das Kunstforum Hermann Stenner neu eröffnet worden. Unter der Leitung von Christiane Heuwinkel hat es sich zunächst der Präsentation von Werken Hermann Stenners (1891–1914) verschrieben, eines gebürtigen Bielefelder Künstlers, der erst in München, dann an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart seine Ausbildung bei Adolf Hölzel erhielt und im Alter von nur 23 Jahren im ersten Weltkrieg fiel. Im Hintergrund des Kunstforums steht wesentlich die Goldbeck–Stiftung als Förderer.

Die aktuelle Ausstellung im Kunstforum Hermann Stenner (noch bis zum 4. September 2022), beleuchtet das Schaffen des Kunsthistorikers Gustav Vriesen (1912–1960), dessen Verdienst es ist, Stenner im Jahr 1956 für Bielefeld (wieder–)entdeckt zu haben. Zu dieser Ausstellung ist ein umfangreicher, sehr sorgfältig gearbeiteter und reich bebilderter Katalog im Hirmer–Verlag München erschienen. Die Herausgeber sind Christiane Heuwinkel, Maja Jakubeit und Christoph Wagner.
Fünf Texte erhellen Vriesens Schaffen und seine Verdienste um die Präsentation und Wiederentdeckung der Moderne nach dem zweiten Weltkrieg.
Maja Jakubeit, die ein Promotionsprojekt zu Vriesen an der Universität Regensburg bearbeitet, stellt dabei seine Person und den Werdegang vor. Bevor Vriesen 1954 nach Bielefeld an das Städtische Kunsthaus, den Vorläufer der heutigen Kunsthalle kam, war er seit 1936 als Assistent am Landesmuseum in Oldenburg beschäftigt, wo sich die Ausstellungspolitik auf die Maler und Malerinnen des Oldenburgers Landes, die Kunst des Mittelalters und die volkskundliche Sammlung konzentrierte. Ab 1945 leitete Vriesen den Kunstverein Oldenburg und machte ihn zu seiner Spielwiese, um Werke von August Macke, Karl Schmidt–Rottluff, Werner Gilles oder Gerhard Marcks zu zeigen. Seine Forschungen zu August Macke und die Beziehung zu Robert und Sonja Delaunay wie auch ihr Einfluss werden als wegweisend charakterisiert. In Stuttgart stößt Vriesen auf die Arbeiten von Stenner in der Sammlung Borst und lernt mit Willi Baumeister, Ida Kerkovius und Oskar Schlemmer das Umfeld kennen.
Tanja Pirsig–Marschall vom Landesmuseum in Münster, das einen Großteil des Nachlasses von Macke beherbergt, befasst sich ausführlicher und in sachlich nachvollziehender Weise mit eben dieser Beziehung zu Macke und den Verdiensten um dessen Rezeption – Vriesen bezeichnete sich gar als »Mackeologe«.
In der Sicht auf die Leistung ihres Vorgängers lässt Christina Végh, die derzeitige Leiterin der Kunsthalle Bielefeld, das große Ganze aufscheinen. Sie thematisiert und rehabilitiert Vriesens Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus und würdigt seine Tätigkeit – die in Bielefeld nur sechs Jahre währte – als grundlegend für die Kunsthalle.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Einen Sonderaspekt in Vriesens Wirken stellt die Vorbereitung einer Ausstellung mit Werken aus dem Frühwerk des Autodidakten Richard Haizmann (1895–1963) im Jahr 1955 dar, die Christiane Heuwinkel näher beschreibt. Hier kommen die Wesenszüge, vor allem Vriesens Offenheit, aber auch seine Entschiedenheit zum Vorschein. Haizmann, der in seiner Bedeutung bis heute kaum erfasst ist, und in der Nähe des rumänisch–französischen Bildhauers Constantin Brâncuşi angesiedelt werden kann, schuf Tierplastiken in abstrahierter Formensprache, die heute in dem nach ihm benannten Museum im schleswig–holsteinischen Niebüll in einer Dauerausstellung bewahrt und gezeigt werden. Das Verhältnis zwischen Kurator und Künstler, so erfährt der Leser/die Leserin, war allerdings im Persönlichen von Verwerfung hinsichtlich der Beurteilung des Spätwerks getrübt.
Im fünften und umfangreichsten Text des Katalogbuches befasst sich schließlich der Kunsthistoriker Christoph Wagner von der Universität Regensburg intensiv mit den Dokumenten aus der NS–Zeit und der darauffolgenden Entnazifizierung, die Vriesen als »Mitläufer« charakterisiert.
Er thematisiert die Konkurrenz zwischen den Kunsthistorikern in Münster und Bielefeld hinsichtlich des Macke–Nachlasses und der Deutungshoheit über Macke im Zusammenhang mit einer großen Macke–Ausstellung in Münster im Jahr 1957. Er verweist darauf, wie sehr Vriesen die Kunst nicht als regional, sondern als international ansah, was sich auf die Ankaufspolitik auswirkte: Werke von George Braques, Pablo Picasso, Marc Chagall und Pierre Soulages finden sich daraufhin im Grundstock der Kunsthalle. Sonja Delaunay widmet Vriesen die erste Retrospektive in Deutschland. Er setzt sich für Positionen ein, die zuvor unter den Nationalsozialisten verfemt waren. In der Abgrenzung zu den älteren Kunsthistorikern wie Hans Sedlmayr und Wilhelm Pinder, bei dem er studiert hatte, entwickle Vriesen, so Christoph Wagner, eine Zukunftsperspektive, die bis heute Bestand habe, indem er erkenne, dass »auch in den Werken der abstrakten Kunst eine Abkehr von der Banalität der handgreiflichen Wirklichkeit der Dinge vollzogen wird und das Sinnliche immer weitgehender ins Geistige verwandelt und sublimiert erscheint.« Wagner kommt zu dem Schluss, dass Vriesens Lebensleistung nicht nur Lippen– sondern als Lebensbekenntnis für eine international und europäisch begründete Sicht auf die Moderne zu bewerten sei.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Die Publikation zeigt darüber hinaus, dass das Geschehen stets von den handelnden Personen und ihren Beziehungen abhängig ist, dass eine regionale Bedeutung weit über ihren scheinbar definierten Wirkungskreis hinausstrahlen kann und dass der Einfluss des Zeitgeschehens nicht dominant sein muss, sondern ihm etwas entgegengehalten werden kann.
Werke von Max Beckmann, Willi Baumeister, Ida Kerkovius, Oskar Schlemmer, Sonja und Robert Delaunay, Pierre Soulages, Edvard Munch, Richard Haizmann, August Macke und Paula Modersohn–Becker veranschaulichen den Lebensweg Vriesens, ebenso wie Bilder der weniger bekannten Künstler:innen Reg Butler, Hella Guth, Guitou Knoop, Edgard Pillet, Hedwig Thun und eben Hermann Stenner. Auch einige frühe Arbeiten von Vriesen selbst, der vor seinem Kunstgeschichtsstudium an der Folkwang–Schule in Essen Kurse belegte, sind enthalten. Der Katalog ist mit Literatur–Verzeichnis, Werkliste, Biografie und Ausstellungschronik sowie Informationen zu den Autor:innen versehen. Er bereichert mit dem Blick in die Historie.

Gustav Vriesen und die Entdeckung der Moderne in Bielefeld
Herausgeber:innen: Christiane Heuwinkel, Maja Jakubeit, Christoph Wagner, Kunstforum Hermann Stenner. Katalog für das Kunstforum Hermann Stenner Bielefeld
Hirmer–Verlag München 2022
Beiträge von: Christiane Heuwinkel, Maja Jakubeit, T. Pirsig–Marshall, C. Végh, Christoph Wagner
204 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe 18 x 23 cm, gebunden

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns