Buchrezensionen

Christoph Stiegemann (Hg.) Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Michael Imhof Verlag 2015

Caritas – der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, ist eine anspruchsvolle, großangelegte Publikation mit hochkarätigen Exponaten aus Kunst und Architektur, sowie kritisch-analytischen Beiträgen zu einem zeitlos aktuellen Thema. Ulrike Schuster hat ihn unter die Lupe genommen.

Da die Caritas zunächst einmal eine genuin christliche Tugend ist, gestattet man sich zum Eingang ein wenig Brimborium: Auf den ersten Seiten prangen prominente Grußworte; des Präsidenten von Caritas International Kardinal Óscar Andrés Rodriguez Maradiaga, des Kölner Erzbischofes Rainer Maria Kardinal Woelki, des Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes Prälat Dr. Peter Neher, des Erzbischofes von Paderborn Hans-Josef Becker. Es folgen die Worte des Herausgebers, schließlich lange Listen aller Mitwirkender, der Leihgeber, der wissenschaftlichen Beiräte, der Autorinnen und Autoren.

Die Dedikationen allerdings sind verdient, wie endlich der Blick auf das Inhaltsverzeichnis offenbart: »Caritas« ist ein Ausstellungskatalog mit enzyklopädischen Qualitäten, einer, der das Zeug dazu hat, weit über den Anlass seiner Veröffentlichung hinaus als Nachschlag- und Referenzwerk zu dienen. Interdisziplinär und interkonfessionell besetzt, referieren renommierte Historiker, Kunsthistoriker, Theologen und Archäologen in insgesamt dreißig Essays zur Geschichte der sozialen Wohlfahrt, der Armenfürsorge, des Krankenwesens und den damit verbundenen Institutionen. Nicht zuletzt kommen ausführlich die Manifestationen von karikativer Tätigkeit in Städtebau, Architektur und der bildenden Kunst zur Sprache.

Inhaltlich setzt der geschichtliche Überblick in der Welt der Spätantike an. Das frühe Christentum war die Geburtsstunde der aktiv praktizierten Barmherzigkeit und in dieser Form ein gesellschaftliches Novum. Sie setzte sich ab von der bis dahin praktizierten Wohltätigkeit durch Mäzenatentum, doch gibt es durchaus vergleichbare Ansätze zum Verständnis von Nächstenliebe in den großen Weltreligionen von Judentum, Islam und Buddhismus. Der Beitrag von Elisa Klaphek, Klaus von Stosch und Daniel Rumel bietet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Blick über den Tellerrand.

Im europäischen Abendland indes entwickelten sich seit dem frühen Mittelalter eine Reihe von karikativen Einrichtungen wie Hospitäler, Fremdenhospize, Armen- und Waisenhäuser. Die Katalogessays zeigen kompetente, auch weniger bekannte Einblicke in das mittelalterliche Spitalswesen, verweisen darüber hinaus auf die sozialen Bewegungen, aus denen sich das Fürsorgewesen speiste. Dazu zählten, neben den geistlichen Ständen, neben starken, engagierten Persönlichkeiten wie Elisabeth von Thüringen, immer wieder auch einfache Vertreter aus dem Laienstand. Diese freilich rekrutierten sich aus dem aufstrebenden Bürgertum, das zunehmend selbstbewusster auftrat. Wohlhabende Patrizier, wie etwa die Medici in Florenz, nutzten ihren Einfluss auf die wohltätigen Stiftungen natürlich gerne zur Steigerung des eigenen Prestiges.

In der frühen Neuzeit vollzog sich ein grundlegender Wandel im System der Armenfürsorge. Sie wurde zunehmend aus dem Zuständigkeitsbereich der Kirche herausgelöst und in kommunale und staatliche Einrichtungen überführt. Ein Prozess der Institutionalisierung kam in Gang, und in seinem Gefolge konstituierte sich allmählich ein Verwaltungsapparat. Gleichzeitig veränderte sich das Bild des Armen. Armut wandelte sich, kurz gesagt, von einem Zustand der Mittellosigkeit zu einem Stigma für Müßiggang, und letztlich Lasterhaftigkeit. Von nun an galt es, die finanziellen Ausgaben an die Bedürftigen, so wie die Bedürftigen selbst zu kontrollieren, Geldverschwendung oder vermeintlichem Betrug auf die Schliche zu kommen, und endlich entstand ein neues Feindbild: der »falsche« Bettler, der sich unter vorgetäuschten Vorwänden sein Almosen zu erschleichen suchte! Auch zwischen den eigenen und den ortsfremden Bettlern wurde nunmehr penibel unterschieden.

Im 18. Jahrhundert verschärfte man noch einmal die Gangart und richtete Zucht- und Arbeitshäuser ein, um das bettelnde Volk aus dem Stadtbild zu verbannen und zu nützlicher Werktätigkeit zu »erziehen«. Im Kampf der Obrigkeit wurden nicht nur die Bettelnden wurden mit drastischen Strafen bedroht. In Wien beispielsweise sollte im ausgehenden 18. Jahrhundert sogar das freiwillige Spenden von Almosen unter Strafandrohung gestellt werden! Was natürlich erst recht kein probates Mittel darstellte gegen das Massenelend des hereinbrechenden Industriezeitalters.

Aufsätze zur Entwicklung des modernen Sozialstaates, auf seinem Weg durch das lange 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, beschließen den Textteil. Ihm folgt der nicht minder profunde Katalogteil, der rund 200 Objekte umfasst. Der Bogen der Exponate spannt sich von antiken Sarkophagen, mittelalterlicher Buchmalerei und Kunsthandwerk, über Gemälde bedeutender Künstler wie Raffael, Peter Paul Rubens, Delacroix, Kirchner und Picasso bis hin zu Foto- und Videoarbeiten von Vanessa Beecroft und Bill Viola. Prominente Highlights finden sich darin ebenso wie unbekannte, der Entdeckung harrende Juwelen. Die Qualität der Abbildungen übrigens ist schlichtweg hervorragend.

Dennoch, beschauliche Nostalgie wird bei der Lektüre der durchwegs lesenswerten Beiträge keine aufkommen. Vielmehr zeigt der Blick in die Geschichte, dass die ewigen Streitfragen bis heute nichts an Brisanz verloren haben. Die Geschichte der karikativen Einrichtungen ist ein Spiegel der sozialen Brennpunkte, angesichts der dynamischen Veränderungen der Gesellschaft. Man erfährt, dass frühere Epochen genauso ihre enormen sozialen Spannungen zu bewältigen hatten: ein wichtiges Anliegen, in Zeiten wie diesen.

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