Rezensionen, Kataloge

Christophe Duvivier / Josef Helfenstein: Camille Pissarro. Das Atelier der Moderne. Prestel Verlag

Entlang des vielfältigen Werks von Camille Pissarro (1830-1903), einem der bedeutendsten Künstler im Frankreich des 19. Jahrhunderts, entfaltete sich die Geburtsstunde der Moderne. Eine aktuelle Publikation gibt nun einen Überblick über das Schaffen des Malers und legt das Augenmerk vor allem auf seine Zusammenarbeit mit Zeitgenossen. Melanie Obraz hat den reich bebilderten Katalog gelesen.

Cover © Prestel Verlag
Cover © Prestel Verlag

Schon das Cover des Katalogs – Die Dame mit grünem Kopftuch, 1893 – hebt sogleich tief sinnierend und mit ihrem sanften und nachdenklichen Blick, den hingebungsvollen Tenor der Werke Pissarros hervor. Bemerkenswert ist, dass es die erste Retrospektive in der Schweiz seit mehr als 60 Jahren ist, die sich mit Leben und Werk des Künstlers beschäftigt.
Klar herausgestellt wird dabei, dass sich sein Werk in großer Vielfalt auffächert und die Moderne mitinitiiert. Pissarro ist demnach als einer der Ideengeber der Moderne zu verstehen, wenn nicht überhaupt der entscheidende Künstler, der mit seiner Malerei einen völlig neuen Weg in der Kunst anstieß.
Das Außergewöhnliche zeigt schon seine Herkunft: Am 10. Juli 1830 wird Camille Pissarro auf Saint Thomas (Antillen, Karibik) geboren, als der jüngste Sohn von praktizierenden Juden. Obwohl Pissarro nicht den religiösen Idealen seiner Eltern folgt, wird ihn seine Herkunft maßgeblich prägen und auch seine Einstellung zur Kunst wird ihn dadurch in eine so spezielle Aura führen.

Als These steht fest, dass Pissarro den Impressionismus nicht lediglich beeinflusste, sondern prägte. Das Einzigartige seines Werkes besteht darin, dass einerseits der Landschaft und dem Menschen eine zentrale Sichtweise zu Teil wird, die sich in dieser Ausprägung bei seinen Künstlerkollegen nicht zeigte. Pissarro verteilt den Fokus auf Landschaft und Menschen in einer bemerkenswerten Separation und vermeidet eine unterschiedliche Gewichtung. Gleichzeitig schlägt er den Weg des Neo-Impressionismus ein.

Pissarro ging damit ein nicht unbeträchtliches Risiko ein, zumal sich die Malweise des Impressionismus auch in Sammlerkreisen etabliert hatte und den Künstlern finanzielle Absicherungen garantierte. Doch Pissarros Persönlichkeit war darauf ausgerichtet stets das Neue auszuprobieren und zu wagen, und Kunst als dynamischen Prozess der Entwicklung zu betrachten.

Zu seinen Freunden und Weggefährten zählten herausragende und prägende Künstlerpersönlichkeiten wie Mary Cassatt, Paul Cézanne, Claude Monet, Georges Seurat, Edgar Degas oder Armand Guillaumin.
Was ist nun aber das Kennzeichnende der Malweise Camille Pissarros, das ihn von den Kollegen unterscheidet?
Als Beispiel sei seine Interpretation des Heuschobers aus dem Jahr 1873 genannt, die sich völlig anders präsentiert als die bekannten Heuhaufen Monets. Pissarro gibt dem Landschaftsausschnitt einen realistischen Touch, ganz im Gegensatz zu den flirrend vibrierenden Bildern Monets.
In diesem Sinne basiert das Außergewöhnliche in Pissarros Werken auf der Hervorhebung von Natürlichkeit.

Blick ins Buch © Prestel Verlag
Blick ins Buch © Prestel Verlag

Der Katalog betont im Besonderen den Charakter Pissarros, der sich durch einen Freiheitsdrang sowohl in der Kunst als auch in seinem persönlichen Leben zeigt. So beschäftigt er sich auf seine ureigene Art mit den Ideen des Anarchismus, indem er gegen jegliche Widerstände rebelliert, um die von ihm geforderten Grundsätze des freiheitlichen künstlerischen Schaffens und der damit fundamental eigenen Denkweise durchzusetzen. Dies spiegelt sich auch in der revolutionären Malweise Pissarros wider, die auch darin besteht, wie er die Frauen in seiner Kunst behandelt. Sie sind nicht mehr nur schöne Modelle, wie in den Bildern der Malerkollegen Pissarros (Cézanne, Gauguin, Monet). Setzten diese die Frau gewissermaßen in Szene, so kommt es Pissarro darauf an, ihre Natürlichkeit und ihre feminine Bewegung zu betonen.

Stets zeigt sich, wie sehr Pissarro von vielen politischen und ökologischen Problemen geprägt war. In der Begegnung mit der Natur, aber vor allem auch mit den von ihm dargestellten Menschen, entwickelte er wichtige Themen seines Kunstbegriffs. Oft wirken die Gemälde sanft und dennoch enthalten sie eine Aussage, die an einen Aufbruch denken lässt, eben weil die Themen wie Heuarbeit, Gartenarbeit, die Frau als Arbeiterin in der Ernte in dieser Weise noch nicht in der Kunst thematisiert worden waren.
Die Helligkeit und die Farbigkeit des Impressionismus zeigen den Weg, der in eine neue Natürlichkeit mündet. Pissarro bekundet auf diese Weise eindringlich seine Wertschätzung der dem Landleben verbundenen Menschen, die gleichsam in seinen Werken den Arbeitsprozess in einer erhabenen Ästhetik zelebrieren. Nicht zuletzt aus diesem Grunde schätzt Pissarro auch die Arbeiten Mary Cassetts, die in ihren Darstellungen den Alltag bürgerlicher Frauen präsentiert.

Blick ins Buch © Prestel Verlag
Blick ins Buch © Prestel Verlag

Pissarro war bestrebt an den drängenden Problemen der Zeit mitzudenken und suchte nach Lösungen. Darin war er völlig authentisch. Er betrachtete das Land nicht aus der Ferne. Er war vor Ort.
Der Katalog – ein ebenso extravagant gestalteter Bildband, der mit zahlreichen Fotografien auch das Privatleben Pissarros dokumentiert – lässt die Ausstellung noch einmal en Detail Revue passieren und hält damit die markantesten Augenblicke fest. Darüber hinaus bietet sich damit dem Interessierten auch eine Vertiefung der Kunst Pissarros. Zwölf Aufsätze namhafter Experten betonen mit unterschiedlichsten Ansätzen die Genialität des Meisters.

Titel: Camille Pissarro. Das Atelier der Moderne
Herausgeber: Christophe Duvivier / Josef Helfenstein
Autor:innen: André Dombrowski, Claire Durand-Ruel Snollaerts, Alma Egger
Sophie Eichner Colin Harrison Jelle Imkampe David Misteli Olga Osadtschy Joachim Pissarro Esther Rapoport Valérie Sueur Kerstin Thomas Christophe Duvivier, Josef Helfenstein
Verlag: Prestel
Gebunden 327 Seiten
ISBN 9783791378749

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