Wann wird ein Kunstwerk zum Meisterwerk? Wer entscheidet darüber und nach welchen Kriterien? Die Antworten von Künstlern, Kuratoren und Kunsthistorikern laden zu einem kurzweiligen, aufmerksamen Streifzug durch die Kunstgeschichte ein. Walter Kayser hat sich auf die Spur des Mysteriums "Meisterwerk" begeben.
Vom selbst ernannten „letzten Mohikaner“, dem Nestor der deutschen Musik- und Literaturkritik, von Joachim Kaiser also, stammt die Einsicht: »Alles Gelingen hat sein Geheimnis, alles Misslingen seine Gründe«.
Deshalb ist es auch ungleich schwerer, das einzigartig Geglückte in Worte zu fassen, als einen Verriss zu schreiben. Das gelungene Kunstwerk fordert nämlich etwas Adäquates auf dem Gebiet des Ausdrucksvermögens, nicht selten einen Gang an die Grenze der Sprache, der wie der Aufstieg des Moses auf den Berg Nebo ist, welcher ihm bekanntlich nicht mehr als eine Fernsicht auf das gelobte Land zu werfen erlaubte. Meisterwerke sind innovative Durchbrüche der traditionellen Formen, genial und singulär, tiefgründig und von zeitloser Gültigkeit, von vollendeter Subjektivität und Objektivität zugleich, denn sie haben »einen festen Platz in der Kette des Seins, wie eine Pflanze oder ein Kristall« (R.W.Emerson). Gleichwohl ist ein „Meisterwerk“ doch erheblich mehr als das, wofür das Wort von seiner Herkunft her steht: mehr als ein Ausweis perfekter technischer Beherrschung. Handwerk ist Handwerk; hohe Kunst aber verdankt ihren Ursprung möglicherweise tatsächlich den Mysterienkulten, mit Sicherheit aber hüllt sie sich letztlich wieder in ein Mysterium.
Das hier zur Diskussion stehende Buch wurde vor zwei Jahren in London publiziert und ist in der deutschen Ausgabe schon seit einem Jahr so oft über den Ladentisch gegangen, dass man es als Bestseller bezeichnen kann. Kein Wunder, ist der Band doch ohne weiteres als ein Kunstgeschichtskompendium zu lesen. Er ist zunächst einmal ganz und gar auf das Interesse des breiten Publikums zugeschnitten: ein üppiger Reigen von Bildern, geradezu ein Defilee von „must haves“, wie es auf Neudeutsch heißt. Ein Buch, journalistisch aufbereitet wie eine Illustrierte, mit ganzseitigen Abbildungen auf der rechten Seite, markanten Zitaten, groß aus dem Verfassertext herausgegriffen, zugespitzten Kommentaren zu den Vergleichsabbildungen — und wenig, sehr wenig Text, ganz rigoros auf zwei, höchsten drei Seiten beschränkt.
Die thematische Streuung von Meisterwerken ist breit, aber die Grenzen des populären Geschmacks werden nirgends einer Belastungsprobe unterzogen. Nur Ikonen der Kunstgeschichte mit hohem Wiedererkennbarkeitsstatus sind zu finden. Das ergibt eine Galerie von Highlights, beleuchtet von Meistern des pointierten Ausdrucks. In mehrfacher Hinsicht erinnert das Buch deshalb an die seit Jahrzehnten erfolgreich laufende Fernsehreihe »100 Meisterwerke«, längst erweitert auf »1000 Meisterwerke aus den großen Museen der Welt«, die ebenfalls zunächst aus Großbritannien kam und dann auch von der VGS in Köln in Buchform verlegt wurde.
Die Anordnung ist streng chronologisch: Das Eingangskapitel umfasst sehr knapp die vorzeitliche Höhlenmalerei und Antike, drei Kapitel Mittelalter, bis Piero della Francesca und Sandro Botticelli die Renaissance einläuten, gerade einmal zwei Kapitel für die Frühe Neuzeit, und dann kommt auch schon das letzte Kapitel, »nach 1800« überschrieben, und: »der Moderne entgegen«.
Mit anderen Worten: Es könnte, ja müsste mit guten Gründen moniert werden, dass doch gerade die moderne und zeitgenössische Kunst nach fachkundigen Erläuterungen verlange, ob und warum es sich hier um Meisterwerke handle. Doch kann man diesen Einwand auch leicht mit dem Verweis entkräften, dass niemand besser als die Zeit selbst am untrüglichsten erweisen wird, was Bestand haben wird und was nicht.
Sehr behutsam und zaghaft ist auch die Ausweitung des Horizonts auf Weltkunst. Ein wenig Indien, ein Moche-Porträt aus Peru, ein japanischer Holzschnitt aus Utamaros „Kopfkissenbuch“ — knappe, wohl kalkulierte Zugeständnisse in alle Himmelsrichtungen. Die unmittelbare Konfrontation von Donatellos David aus dem Bargello in Florenz mit einem aztekischen Adlerritter, der als Wächter der Sonne einen Höhepunkt des Museo des Templo Mayor in Mexiko-Stadt darstellt, ist verblüffend, legitimiert sich aber durch den gemeinsam Entstehungszeitraum im 15. Jahrhundert.
Das Geheimnis, in welches sich letztlich große Werke hüllen, kann natürlich nicht gelüftet werden. Dafür aber werden siebzig verschiedene Antworten gegeben, von Wissenschaftlern, Künstlern, Kuratoren, Schriftstellern — ein Chor anregender Stimmen.
Trotz alledem ist es kaum ausgemacht, dass dies ein Buch für Laien ist.
Was die Verfasser auf knappstem Raum zusammenfassen können, ist bewundernswert: Konzentrate, verdichtete Erträge mit jener Beschränkung auf das absolut Essenzielle, zu der erst fähig ist, wer zuvor dicke Bücher über das Thema geschrieben hat.
Angesichts des häufig doch etwas verquast komplizierten Wissenschaftsstils im deutschsprachigen Raum genießt der Leser eine leichtfüßig daherkommende Prosa. Die berühmte angelsächsische Form der cultural studies wirkt unterhaltsam und instruktiv zugleich. Aber es sind eben nicht nur Engländer, welche die hohe Kunst des Schreibens, »das Einfache, das schwer zu machen ist« (Brecht), so süffig demonstrieren.
Dazu drei Beispiele: Angesichts der Krieger von Riace weiß Robin Osborne, Senior Tutor des Kings College in Cambridge und emeritierter Professor für alte Geschichte, zu berichten, »dass Krieger A die heterosexuellen Besucher des Museums in Reggio di Calabria ansprach, während homosexuelle Besucher eher auf B reagierten«. — Das ist zwar völlig unerheblich, schärft aber doch den Blick und motiviert zum genaueren Nachschauen.
Zweitens: Martin Kemp, emeritierter Professor für Kunstgeschichte am Trinity College in Oxford, ist einer der ausgewiesensten Experten für das Universalgenie Leonardo da Vinci. Aber was kann man über die Mona Lisa noch sagen? Kemp überrascht: »Ein verschleiertes Porträt der Seele — das ist genau das, was Leonardo beabsichtigte […] Unser Auge sucht die Sicherheit von Konturen, wird aber in ein fantasievolles Spiel mit ihrem Ausdruck gezogen. Leonardo betrachtete die Augen als ein Fenster zur Seele. Und Lisas Fenster sind aus Rauchglas«.
Drittens: Jean Siméon Chardins Gemälde »Das Olivenglas« von 1760 muss Pierre Rosenberg über Jahrzehnte eng begleitet, zu einem Teil seines Lebens geworden sein. Schließlich war er nicht zuletzt von 1994 bis 2001 Direktor des Louvre, wo es heute noch hängt. Rosenberg lässt seine Betrachtung des Stilllebens in dem vollendeten Paradox münden: »Wie seine Vorgänger außerstande, diesen scheinbar unverständlichen ‚Zauber’, der der Sprache trotzt, zu beschreiben, begriff Diderot, dass Chardin nicht nur das malte, was er sehen konnte, sondern auch das was, was nicht zu sehen war«. — Das ist nicht nur der rhetorisch geschickt platzierte Unsagbarkeitstopos eines Ergriffenen, das ist, dem „Geheimnis des Meisterwerks“, ganz wörtlich, entsprechend, der Schleier vor dem Standbild der Wahrheit im ägyptischen Saïs, welcher von niemandem gehoben werden darf.