Buchrezensionen, Rezensionen

Christopher Thomas/Ira Stehmann: Venedig. Die Unsichtbare, Prestel Verlag 2012

Der Fotograf Christopher Thomas war im Morgengrauen mit seiner Großformatkamera in Venedig unterwegs und bannte die Anmut der Lagunenstadt auf Polaroid-Platten, die schon nicht mehr produziert werden. So entsteht ein Porträt einer menschenleeren Stadt, die wie aus der Zeit gefallen scheint: das heutige Venedig im Charme des frühen 20. Jahrhunderts. Ergänzt werden die außergewöhnlichen Bilder durch Gedichte von Albert Ostermeier. Walter Kayser hat sich das Buch angesehen.

Seit wann stirbt Venedig eigentlich? – Seit die Chemieanlagen von Mestre und Marghera ihr ätzendes Gift in die Luft blasen? Seit die Schiffsschrauben immer größerer Ozeandampfer und unendlich vieler Vaporetti mit Millionen von Touristen beladen das Lagunenwasser durchpflügen? Seit die Stadt 1797 durch Napoleon ihre Selbständigkeit verlor, oder doch schon seit dem 18. Jahrhundert, als die terra ferma all denen, die Lebensqualität und gesundes Klima sich leisten konnten, als rettendes Ufer erschien? Oder vielleicht sogar schon nach dem Fall von Konstantinopel 1453 und der allmählichen Verlagerung des Seehandels über den Atlantik? – Eines ist sicher: In den Dunst der Serenissima mischt sich nicht erst seit dem »Tod in Venedig« ein Hauch von Morbidität, überlebter Musealität und versinkender Dekadenz.

Der Fotograf Christopher Thomas ist von dem Bazillus Lord Byrons, von Platens und D'Annunzios angesteckt und in seinen Bildern diesem melancholischen Flair verfallen. Berühmt und mittlerweile mehrfach ausgezeichnet wurde der 1962 Geborene vor allem durch seine Städteporträts Münchner Elegien (2001–2005) und New York Sleeps (2009). Erst jüngst schloss das Bayerische Nationalmuseum die Ausstellung über seinen preisgekrönten Zyklus über die Passionsspiele in Oberammergau. Jetzt also zeigt die Münchener Galerie Bernheimer in der Brienner Straße bis zum 17. März eine Auswahl der Fotografien von der schlafenden Schönheit Venedig im Morgengrauen.

Der Zugang ist auch diesmal derselbe: Christopher Thomas’ Bilder entstehen im Kopf. Sie beschwören wie die Schriftsteller der Jahrhundertwende eine nicht sterben wollende Morbidezza. »Dies ist keine Einbildung. So sieht Venedig im 21. Jahrhundert aus!«, lautet der erste Satz von Ira Stehmanns Einleitungstext. Und tatsächlich, es ist schier unglaublich, aber die Fotos sind nachweislich in unseren Tagen geschossen; das verraten die elektrischen Straßenlaternen, die Kaffeehausstühle des Bacino San Marco mit ihrem Plastikgeflecht im Design 50er Jahre, die heruntergelassenen Eisenrollläden vor den Läden, auf die Graffiti geschmiert wurden. Und doch: Sie wollen durch und durch unzeitgemäß und nicht von dieser Welt sein. Eine fremde Stadt mit ihrer vertrauten Architektur, entrückt und wie aus der Zeit gefallen.

Ist das aber zugleich auch das wahre Gesicht dieser Stadt? So absolut menschenleer, weltverloren, monochrom, in gespenstisch schön nuancierten Grautönen? Ästhetisch sind diese Fotos den Pionieren der eigenen Kunstgattung verpflichtet. Sie wirken mit ihren Rändern, die das Bild wie Eisblumenkanten oder altmodische Schabracken einfassen, als wären sie legendäre Meisterwerke der Fotografie aus der Zeit vor der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Auch Brassais Pariser Nachtaufnahmen vom Ende der legendären 20er Jahre lassen grüßen.

Tatsächlich ist Thomas’ Technik anachronistisch wie ein Hochrad auf der Autobahn: Eine Großbildkamera des Typs 55 belichtet Polaroid-Platten, die gar nicht mehr produziert werden, in einer Farbigkeit, für die die Bezeichnung Schwarz-Weiß insofern völlig irreführend ist, als das Ergebnis feinste tonale Nuancen in Grau und milchigem Weiß ergibt. Die Himmel sind wie mit Claude Lorrains Bister-Pinsel hingewischt. Die Kanäle wirken, weil eine lange Belichtungszeit gewählt und somit jedes Wellengekräusel geglättet wurde, wie vereiste Straße, in denen sich nichts als Nebelschwaden stumpf spiegeln. Die Straßen hingegen glänzen nass wie Kanäle (tatsächlich sind sie häufig bei aqua alta aufgenommen). Christopher Thomas bevorzugte offensichtlich nicht die blaue Stunde der Abenddämmerung, sondern das unwirkliche Licht der Stunden des Morgengrauens, die Stunde des Wolfs.

Die entscheidende Frage aber sollte bei aller unzweifelhaften handwerklichen Meisterschaft sein: Ist diese programmierte Unzeitgemäßheit wirklich berückend und überzeugend, oder ist sie schlichtweg nur anachronistisch und old fashioned? Ist hier wirklich das wahre Gesicht dieser Stadt eingefangen - so in Weitwinkel-Objektiven breit aufgebrochen, so absolut menschenleer, so weltverloren, monochrom, in gespenstisch schön nuancierten Grautönen?

Wir kennen das Bedürfnis nach einer enthobenen Zeitlosigkeit und perfekten Inszenierung aus einer bestimmten Filmästhetik. Derek Jarmans »Caravaggio« oder »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« des britischen Regisseurs Peter Webber aus dem Jahr 2003 sind solche Werke gelungen.

Bei einer Stadt wie New York mag Thomas‘ drastische Umkehrung eines schier unermüdlichen quirligen und hektischen Gewusels als besondere Verfremdung Wirkung zeigen. Gerade aber im Fall Venedigs scheint mir das nicht angebracht. Zu sehr erinnern die Fotos tatsächlich an alte Postkartenalben. Vieles von dem, was die Stadt sonst ausmacht, ihr besonders strahlend gleißendes Licht, das Glitzern der allgegenwärtigen Wasserreflexe, kommt überhaupt nicht zur Geltung. Die Stadt wirkt nur ausgeräumt, ja steril und tot wie eine Ghost Town auf einem fernen Planeten, den die Bewohner nach einer Strahlenkatastrophe aufgeben mussten.

Auch die Verbindung der Fotografien mit den Gedichten von Albert Ostermeier wirkt keineswegs überzeugend. Die in konsequenter Kleinschreibung gesetzten reimlosen Verse verwischen die Sinneinheiten nicht nur durch häufige Enjambements. Sie beziehen sich zwar auf die Stadt Venedig und scheinen auch oft von der Betrachtung der Bilder auszugehen; allerdings setzen sie zu den Stadtansichten, die eher »nature mortes« genannt werden sollten, einen Kontrapunkt. Die Schauplätze geben fast immer nur den Anstoß zu einer Szene, die sich entwickelt, häufig einer Liebesbegegnung, die nichts mit der Ästhetik dieser Bilder zu tun hat.

Dabei hat sich der Prestel-Verlag mit dieser Edition besondere Mühe gegeben: Das breite Format, der Schriftsatz mit der besonders zarten Fraktur, die großzügig breiten Ränder und der große Zeilenabstand: Alles wirkt erlesen, delikat. Und der Einband mit seiner Seidenbespannung in einem dunklem Aubergine erweckt den Anschein, als sei er im Fin de siècle von Marcel Proust persönlich entworfen worden. – Leider auch die Fotografien.

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