Clara Siewert - eine Weggefährtin und Freundin von Käthe Kollwitz - gehörte zu den wenigen originären weiblichen Künstlerpersönlichkeiten in der Zeit um 1900. In ihrer über 60-jährigen künstlerischen Tätigkeit schuf Clara Siewert eine Vielzahl an Gemälden, Gouachen, Zeichnungen und Druckgrafiken. Daneben war sie auch als Porzellanmalerin, Stoffkünstlerin und Bildhauerin tätig. Einzigartig sind ihre abgründigen Themen, die zwischen Dämonie und Realität angesiedelt sind. Der größte Teil ihrer Kunstwerke wurde jedoch bei dem Luftangriff auf Berlin 1944 zerstört, der auch der Künstlerin das Leben kostete. Durch ihren tragischen Tod gerieten die Künstlerin und ihr Werk lange Zeit in Vergessenheit.
Als es nach dem Zweiten Weltkrieg daran ging, die Wege in der Kunst zu sichten, neu zu spuren und auf neue Ziele hin zu orientieren, war der Name Clara Siewerts bereits vergessen. Das Kriegsende hatte die 1862 geborene und bei einem Bombenangriff 1944 gestorbene Künstlerin nicht mehr erlebt, und die meisten ihrer Werke wurden zerstört. Die große Retrospektive, die im vergangenen Jahr in Regensburg – im Kunstforum Ostdeutsche Galerie – gezeigt wurde, hat sie dem Vergessen endlich entrissen. Doch nach wie vor stellt die Frage, die den vorbildlich gemachten Katalog einleitete und sogleich mit einer ernüchternden Antwort versehen wurde: »Clara Siewert? Nie gehört.« An die sorgenvolle Erkenntnis schloss sich die Hoffnung an, mit dem Ausstellungsprojekt und der vorliegenden Publikation Clara Siewert mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem tragischen Tod endlich in die deutsche Kunstgeschichte einführen und fest verankern zu können. Auf jeden Fall ist es gelungen, den Leser zu animieren, den knappen Antwortsatz zumindest auch mit einem Fragezeichen zu versehen: »Nie gehört?« Zu überhören war der Name dank der Werkschau an solch prominenter Stelle kaum, allenfalls die Tagesgeschäfte kunstgeschichtlicher Betrachtung einerseits und das Durchwinken neuer, im Streben nach spektakulärer Gegenwartskunst stets die Sinne vereinnahmender Eventveranstaltungen andrerseits ließen den Aufmerksamkeitspegel wieder sinken. Wenn die Ausstellung auf der anderen Seite der Republik im Käthe-Kollwitz-Museum in Köln noch einmal präsentiert wird, dürfte es wohl geschafft sein: Wir werden nicht umhin kommen, Clara Siewert, die über Jahre hinweg auch freundschaftlich mit der jüngeren Käthe Kollwitz verbunden war, neben (oder sagen wir einmal vorsichtig: zwischen) Paula Modersohn-Becker und Sabine Lepsius zu positionieren.
In einer noch von Männern dominierten Welt, in der sich erst allmählich auch Frauen zu behaupten lernten, ist das Œuvre in seiner Vielfalt umso erstaunlicher – man bedenke, dass Modersohn-Becker Rückhalt in der Worpsweder Kolonie und Lepsius über ihren Mann und dessen Bekanntenkreis Zugang zum kulturellen Leben hatte –: Sie schuf Gemälde genauso wie Zeichnungen undGouachen , Grafik und Plastik genauso wie Arbeiten auf Porzellan und Stoff. Um Kollwitz nachzueifern, war sie zu sehr dem 19. Jahrhundert verhaftet. So bediente sie die Themen (Selbst-)Porträt, Akt und Kinderdarstellungen sowie Religiöses im weiteren Sinn, insbesondere mit mystischem Einschlag. Roman Zieglgänsberger, der für die Regensburger Ausstellung wie für den Katalog verantwortlich ist, hat sich in diesem begleitenden Buch behutsam, von der als verschollen geltenden Künstlerin ausgehend, in ihren Lebenslauf hineinbegeben, um über die Berliner Kunstszene jener Zeit auf ihr erhaltenes Werk zuzugehen. Unterstützt wurde der Kurator am Kunstforum Ostdeutsche Galerie (der interessanterweise zuvor Kustos am Paula-Modersohn-Becker-Museum in Bremen war) von Renate Berger und Michael Kotterer sowie Klaus Friedl. Mitten in die Ausstellungsvorbereitungen tauchte sogar ein verloren geglaubtes Bild auf, was bei dem notgedrungen schmalen Werk als glückliche Fügung zu werten ist. Der Katalog selbst ist jetzt schon ein Standardwerk, das nicht nur die Ausstellungen (in Regensburg und Köln) begleitete und noch begleitet. Ein vorbildlicher Werkkatalog und eine anregende Dokumentation, die u.a. über das literarische Schaffen der Schwester Elisabeth Siewert informiert, runden den etwa 190 Seiten umfassenden Katalog ab. Satztechnisch und gestalterisch kann man die souveräne Hand erkennen, die die Publikation durch die ideele und finanzielle Zuwendung von Seiten der Stiftung Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg und durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien erfahren hat. Der Wechsel von Bild und Text innerhalb der Seite zwischen Groß- und Kleinformat bzw. Detail sowie die im dezent grauen Schriftbild herausgehobenen grünen Überschriftenzeilen machen die Lektüre und das Anschauen zum Genuss.
Der gelungenen Monografie über Clara Siewert kann man nur viele Leser und der anstehenden Ausstellung eine große Aufmerksamkeit wünschen.