Buchrezensionen

Claus Carstensen, JensTang Kristensen, Thea Rydal Jørgensen (Hg.): Becoming Animal, Hatje Cantz 2018

Der Mensch und seine Kreatur, das innere Tier. Es steht für das Triebhafte, für die Begierde. Es verweist auf das Fremde, das Andere. Seit Menschengedenken liefert das Animalische ein umfangreiches Repertoire an Vergleichen, insbesondere im Zusammenhang mit Schimpfwörtern. Es ist etwas Feindliches und zugleich einem jedem Sein innewohnend. Dieses ambivalente und spannungsreiche Verhältnis lotet »Becoming Animal« aus. Ulrike Schuster hat den Katalog gelesen.

Die vorliegende Publikation ist der Katalog zu einer gleichnamigen Ausstellung, die im diesjährigen Frühjahr am Den Frie Centre of Contemporary Art und dem Museum of Religious Art in Kopenhagen stattfand. Damit ist das Projekt in Wahrheit nur unzureichend erklärt, denn es handelte sich hierbei um alles andere als eine konventionelle Themenausstellung. Die Schau sowie der Katalog sind lediglich Aus- und Querschnitte eines immensen, komplexen work in progress, dem opus magnum des dänischen Konzeptkünstlers und Kurators Claus Carstensen. Dieser verfolgt den eigenen Angaben nach seine Idee seit mittlerweile mehr als 30 Jahren, bewegt sich dabei grenzüberschreitend in den Bereichen von Bildender Kunst und Philosophie, Psychologie, Theologie, Literatur und Gesellschaftskritik. Die Abgrenzungen zwischen den unterschiedlichen Kategorien sind ebenso fließend wie die zugrunde liegenden Gedanken vielschichtig und nach allen Seiten hin offen.
Für die Ausstellung in Kopenhagen kompilierte Carstensen einen Bilderkosmos von knapp 300 Bildwerken, aus hochkarätigen internationalen Sammlungen stammend, die er in Gegenüberstellung unter anderem mit eigenen Arbeiten präsentierte. Epochenübergreifend und dicht gedrängt ergibt sich daraus ein bildgewaltiges Epos, wie zu einer einzigen gigantischen Collage zusammengeschmolzen, das ergänzt wird um Zitate und Essays. Es ist keine leichte Kost, denn dieses Reich des Animalischen kennt keine Niedlichkeiten! Das Tier, das zur Rede steht, ist die Kreatur im Menschen, in ihrer Zerbrechlichkeit und ihren Widersprüchen, ihren animalischen Begierden und den dunklen, uneinsehbaren Abgründen. Programmatisch steht am Anfang ein Zitat aus dem Buch Prediger 3:18-19: »Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder, auf daß Gott sie prüfe und sie sehen, daß sie an sich selbst sind wie das Vieh. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel. …«
Das Wissen um die eigene Sterblichkeit und daraus resultierende existenzielle Ängste kennzeichnen das menschliche Sein, aber auch der Schrecken vor der gähnenden Leere, zugleich das ewige Ringen mit den triebhaft-animalischen Kräften des Körpers. In einer facettenreichen Herangehensweise unternimmt Carstensen den Versuch einer Auslotung und schickt sein Publikum auf eine wilde, in Teilen äußerst verstörende Nachtfahrt. Nicht zufällig hebt das erste Kapitel an mit der bildnerischen Auseinandersetzung mit Alpträumen. Von düsterer Spätromantik über die Radierungen von Francisco de Goya spannt sich der Bogen, von frühneuzeitlicher Druckgraphik bis zum Symbolismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges, von der frühen Moderne, den bissigen und sarkastischen Bildmontagen der 1920/30-er Jahre bis in die jüngste Gegenwart. Die Farben sind düster, vorwiegend in Schwarz und Weiß gehalten. Die eingesetzten Medien umfassen das gesamte Spektrum zwischen Graphik, Malerei, Photographie, Assemblagen und Installationen. Häufig und gerne nimmt Carstensen Bezug auf die Fotomontagen John Hartfields und seiner Zeitgenossen, deren Technik er auch in seinen eigenen Arbeiten aufgreift.
Er geht aufs Ganze. Eindeutig außerhalb der Komfortzone sind jene Kapitel angesiedelt, die von Tod und Vernichtung handeln. Aufnahmen des Fotographen Jan Grarup zeigen den Wahnsinn des Völkermordes in Ruanda im Jahr 1994. Jeffrey Silverthorne fotografierte ungeschönt Leichname in einer Aufbahrungshalle, eines dieser Bilder stellt das Motiv für das Cover der Publikation. Um billige Schockeffekte geht es freilich nie. Weite Bereiche widmen sich dem Wandern durch dunkle Seelenlandschaften, beispielsweise von Max Klinger und James Ensor, in Gegenüberstellung mit Werken der Art Brut, geschaffen von Patienten der Psychiatrie. Nahezu harmlos nehmen sich dagegen die Affenporträts des virtuosen Tiermalers Gabriel von Max aus, doch nur auf den ersten Blick, denn der Affe ist des Menschen liebster Spiegel. Das wussten auch Werner Büttner und die Jungen Wilden der 1980-er Jahre.
Nicht alles an dieser Kompilation erschließt sich zwingend logisch, doch dass muss es wohl auch nicht. Das Gebiet, das »Becoming Animal« umschreibt, entzieht sich einer systematischen wissenschaftlichen Rationalität. Dies zeigt sich unter anderem auch an den begleitenden Essays. Die Texte sind klug geschrieben und enthalten interessante und erhellende Einzelheiten, doch letztlich behandeln sie Teilaspekte einer Materie, der die Sicht auf ein großes Ganzes nicht gegeben ist. Das Fragmentarische, Zersplitterte an der Darstellung stellt auch die größte Barriere für die Zugänglichkeit des dahinterstehenden Konzeptes dar. Die Komplexität des Themas steht außer Frage, doch insbesondere Carstensen, der Schöpfer und Spiritus Rector hinter dem Projekt, steht oft sehr nahe am Detail und konzentriert sich auf Facetten und Spezialgebiete. Die Distanzlosigkeit ist möglicherweise so gewollt, spiegelt sich auch in der Aufmachung der Publikation, die nicht gerade auf Übersichtlichkeit angelegt ist.
Doch außer Zweifel steht, er konfrontiert uns und fordert uns heraus. »Becoming Animal« verlangt dem Betrachter einiges ab und verweist auf unbequeme Wahrheiten, vor allem auf die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz. Carstensen gibt in seinem Projekt der Kunst eine ihrer genuinen, ureigensten Aufgaben zurück, nämlich ihre Fähigkeit, aufzuwühlen und mitzureißen. Jenseits von Gefälligkeit.

Titelangaben

Claus Carstensen, JensTang Kristensen, Thea Rydal Jørgensen (Hg.)
Becoming Animal
Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-4466-9, Ladenpreis 40,00 €

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