Ausstellungsbesprechungen

Cranach, Kunstsammlungen Chemnitz

Die ältere Dame im Café gegenüber war schon dreimal da. Den eigens angereisten ehemaligen Studienkollegen trifft man dort zufällig. Beim mittäglichen Betreten und Verlassen der Säle am späten Nachmittag winden sich lange Schlangen an der Kasse. In diesen Tagen ist Chemnitz der Nabel der Welt, einer prächtigen, sinnenreichen und intimen Welt, die Lucas Cranach der Ältere und, auf seinen Schultern, der Sohn Cranach der Jüngere geschaffen haben.

Haupt-Bildleihgeber dieses an Qualität und Fülle raren Panoramas des 16. Jahrhunderts sind die Gemäldegalerie Alte Meister und die Rüstkammer der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden. Ergänzt um weitere Stücke, vornehmlich aus dem regionalen Umfeld, liefert die Chemnitzer Schau gleich drei bedeutsame Daseins-Gründe: Sie ist Anlass für die erste wissenschaftliche Erschließung des Gesamtbestandes der weltweit größten Sammlung von Cranach-Gemälden in Dresden; sie präsentiert Chemnitz als geografische Mitte des Wirkungsgebiets der Malerfamilie; schließlich ist sie eine der umfangreichsten zu Cranach, die es überhaupt je gab. Ingrid Mössinger, die Generaldirektorin der Kunstsammlungen Chemnitz hat sich und ihre Stadt mit dieser Ausstellung, die zweifelsohne auch Publikumsrekorde bringen wird, ins beste Licht gerückt und das kulturell übermächtige Dresden nebenan immerhin eine Zeit lang in den Schatten gestellt.

 

Die Brillanz der Schau verdankt sich jedoch in erster Linie den großartigen Werken des alten und des jungen Lucas Cranach. Ihre Bildschöpfungen, obwohl mit der Ursuppe der Reformation gemalt, der sie auf maßgebliche Weise zu künstlerischem Ausdruck verhalfen, verzichten entgegen jeder schwarz auf weiß gedruckten Religions-Doktrin nicht auf die Farbigkeit des Sinnenlebens. Die Porträts der ernestinischen und albertinischen Familienmitglieder, manche darunter zählen zu den frühesten Ganzkörperdarstellungen der säkularen Kunst, wirken lebensnah und kraftvoll. Die Frauenbildnisse, auch bei religiösen Sujets, sind von einer oft unverhohlenen Erotik, die man besonders bei Cranach dem Älteren, dem Porträtisten Luthers und Hofmaler der reformierten sächsischen Herzöge, nicht erwartet hätte.

 

Der für die damals noch junge Porträtmalerei sehr ungewöhnliche direkte Blick der dargestellten Frauen auf den Betrachter aus ihren außerirdisch schräggestellten Augen hat auch Picasso getroffen. Dieser hielt Cranach nicht nur für den bedeutendsten deutschen Künstler und schätzte ihn mehr als Mantegna und Raffael, er ließ sich auch zu einer ganzen Reihe von Grafiken und Drucken inspirieren, die größtenteils cranachsche Frauendarstellungen variieren. In Chemnitz werden sie in einem separaten Raum gezeigt, um nicht unnötig von den eigentlich im Mittelpunkt stehenden Werken wegzuführen, die keines bereichernden Vergleichs mit dem 20. Jahrhundert bedürfen.

 

Angenehm zurückhaltend ist auch der Rahmen der Ausstellung. Weder wurde versucht, den Bildern die Coolness des white cube zuzumuten, noch wählte man dunkelschwülstige Wandfarben, wie sie als Hintergrund für die Präsentation Alter Meister leider allzu oft verwendet werden. In hellen Oberlichtsälen hängen die Gemälde in respektvollem Abstand zueinander und bieten für mehrere Besucher gleichzeitig Platz zum Betrachten, zum Lesen der ausführlichen Bilderläuterungen oder zur Bearbeitung der technoiden Audio-Guides, die das jeweils besprochene Bild auf einem Display gleich mitliefern. Da man an die Geräte mehrere Kopfhörer stecken kann, gibt es abseits der Gemälde erfrischende Bilder kamelartiger Kabel-Kolonnenbildung.

  

Die einzelnen Räume sind thematisch geordnet und verzichten auf chronologische Reihenfolge. Die Werke des älteren und des jüngeren Cranach hängen dadurch Seite an Seite, was jederzeit die Möglichkeit des – verblüffend schwierigen – Vergleichs der beiden Maler erlaubt. Bei der Porträtmalerei immerhin fällt auf, dass der Jüngere oft einen kulissenartigen Phantasie-Hintergrund wählt, auf dem sich deutlich die Schatten der hart von einer Seite beleuchteten Personen abzeichnen. Der vom Bildrand angeschnittene Schattenwurf der „Herzogin Elisabeth von Sachsen als Kind“ wirkt derart lebendig, dass man bereits die gereifte Frau hinter ihrem Rücken vermutet. Wahrhaft kurios ist das Porträt von „Martin Luther im Tode“ in dem Saal mit Reformations-Themen, ebenfalls von Cranach dem Jüngeren und vermutlich erst knapp dreißig Jahre nach dessen Tod entstanden. In ein voluminöses Todeskleid gewandet, der massige Kopf umfangen von einem Wolkenkissen, erscheint der tote Luther wie die gealterte Inkarnation eines katholischen Riesenputtos.

 

Zahlenmäßig dominant gegenüber den Porträts sind allerdings biblische und mythologische Szenen. Neben den berühmten Darstellungen von Adam und Eva, Venus und Amor, stehen teilweise geradezu erschreckend lebensnahe narrative Szenenschilderungen; der „Bethlehemitische Kindermord“ von Cranach dem Älteren verfolgt einen noch lange, so handgreiflich ist der Schrecken in den Gesichtern der Frauen, so unbarmherzig detailreich der aufgetürmte Leichenberg der Säuglinge, der an die blutrünstigen Assemblagen der Chapman-Brüder erinnert. In seiner „Auferweckung des Lazarus“ dagegen dekliniert er auf den Gesichtern der Zeugen die stillen Krümmungen und Nuancen inwendiger Gläubigkeit. Inhaltlich von der Textvorlage abweichend, wird die Wunder-Szene zum gelehrten Diskursgegenstand der das geöffnete Grab Umstehenden, deren Reihe sich auf die Betrachter des Bildes verlängert.

 

Anerkennend zu erwähnen ist die didaktische Aufbereitung der infrarot-reflektografischen Untersuchung der Gemälde. Auf den Infrarot-Reflektografien kann man die Vorzeichnungen unter der Malerei sehen und Änderungen gegenüber der ursprünglich geplanten Fassung erkennen. Die Tiefe und Weite des cranachschen Werks hat die Chemnitzer Ausstellung nicht nur technisch aufs ansprechendste durchleuchtet. Wer es bis 12. März nicht mehr nach Chemnitz schafft, sei auf den reichhaltigen, im Wienand Verlag Köln erschienen Katalog verwiesen, der im Buchhandel zum Preis von 58 € erhältlich ist.

Weitere Informationen

Öffnungszeiten

Dienstag - Freitag 11 - 19 Uhr

Samstag, Sonntag und Feiertage 10 - 19 Uhr

24. und 31.12.2005 geschlossen

 

Eintrittspreise (mit Audioguide)

Erwachsene 8,00 Euro ermäßigt 5,00 Euro

  

http://www.chemnitz.de/kunstsammlungen

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