Ausstellungsbesprechungen

Dalí, Ernst, Miró, Magritte… Surreale Begegnungen aus den Sammlungen Roland Penrose, Edward James, Gabrielle Keiller, Ulla und Heiner Pietzsch, Hamburger Kunsthalle, bis 22. Januar 2017

Den Surrealismus feiert in diesem Herbst die Hamburger Kunsthalle mit einer grandiosen Ausstellung. Aus den reichen Beständen dreier Museen und fünf bedeutender Sammler wurde eine Schau zusammengestellt, die wohl niemanden unbeeindruckt lässt. Stefan Diebitz ist nach Hamburg gepilgert.

Es ist die dritte Ausstellung nacheinander, welche die Hamburger Kunsthalle seit dem Sommer aus den Beständen generöser Sammler präsentiert, aber es ist die mit Abstand größte Schau – und es ist diejenige, in der sie am wenigsten auf eigene Bestände zurückgreifen kann. Mit anderen Worten: Die übergroße Mehrzahl der ausgestellten zweihundert Werke kann man nur jetzt in Hamburg sehen, jetzt und dann so schnell nicht wieder. Und wie schon der Titel andeutet – »Dalí, Ernst, Miró, Magritte…« – sind es einige der größten Meister des 20. Jahrhunderts, deren Werke sich in der Kunsthalle versammelt haben. Sogar Pablo Picasso ist mit etlichen Werken vertreten, auch Hans Arp, aber selbst sie haben es angesichts dieser Konkurrenz nicht auf den Titel geschafft.

Und noch etwas Anderes ist bemerkenswert: Viele der Gemälde werden nicht unter Glas gezeigt, sondern gänzlich ungeschützt, als würden wir sie in einem Privathaus anschauen. Derart nahe werden wir diesen Bildern so schnell nicht wieder kommen.

Es sind neun Räume, in denen die Bilder präsentiert werden, und einige von ihnen dienen der Veranschaulichung der surrealistischen Techniken und Theorie. Ein Raum ist »Kombinatorische Verfahren« überschrieben, ein anderer demonstriert »Die Freude an Metamorphosen«, ein dritter zeigt die »Chiffren des Lebendigen«, womit besonders die »Biomorphe« genannten, amöbenähnlichen Figuren Mirós gemeint sind.

Die Themen und Motive wiederholen sich sehr stark, aber sie werden von den vier Hauptkünstlern wie von den anderen ganz individuell behandelt, so dass man wirklich von Begegnungen sprechen und die Personalstile vergleichen kann. Die ausgeprägte Persönlichkeit der Künstler lässt in aller Regel auch ohne einen Blick auf die Bezeichnung des Werkes kaum einen Zweifel an der Autorschaft zu. Am vielseitigsten erscheint Max Ernst, der immer und immer wieder von neuem begonnen hat und sich dabei von allerlei Assoziationstechniken lenken ließ. Mit Collagen, Frottagen und seltsam-rätselhaften Titeln versuchte er sowohl die eigene Fantasie wie auch die der Betrachter anzuregen.

Wenn man an seinen Bildern wie denen seiner Kollegen vorbeigeht, dann sind es zunächst die visualisierten Wortspiele und –witze, die amüsieren. Aber nicht lange. Es ist meist ein kurzes Vergnügen. Und auch die abstrusen Theorien, die hinter den Methoden der Surrealisten stehen und auf die immer als erstes eingegangen wird, können nicht wirklich befriedigen – es ist eine allzu trübe Mischung aus Psychoanalyse und Alchemie. Schließlich die Lust an der Provokation, die wohl besonders mit der Geschäftstüchtigkeit junger oder auch älterer Männer zu tun hatte, denn irgendwie musste man ja erst ins Gespräch kommen und dann auch bleiben. Insbesondere das surrealistische Haus in New York, das Dalí für Edward James konzipierte, kann künstlerisch überhaupt nicht überzeugen. Es provozierte das prüde Amerika mit allerlei Geschmacklosigkeiten, das aber war es dann auch schon.

Also warum wirken viele der surrealistischen Kunstwerke trotz dieser Einwände?

Wegen der ganz unwahrscheinlichen Meisterschaft dieser Künstler – sie waren hervorragende, sogar überragende Handwerker. Sie konnten es einfach, und sie haben enorm fleißig und intensiv gearbeitet – an den Bildern, aber auch an sich selbst. Dalí malte altmeisterlich, äußerst akkurat und penibel, Magritte demonstrierte sein enormes Können auf jedem einzelnen seiner Bilder, und für alle anderen in Hamburg gezeigten Künstler, auch für die weniger populären wie Leonora Carrington oder Paul Delvaux, gilt dasselbe. Sie waren wirkliche Meister, und es ist die hohe Qualität der einzelnen Arbeiten, die den Betrachter gefangennimmt.

Die eigenartigen, oft wirklich poetischen Wortspielereien und Titel – Arnold Gehlen sprach von der »Beredsamkeit des Widersinns« – faszinieren im ersten Augenblick, aber was nachwirkt, muss neben der hohen Qualität der Gemälde etwas ganz Anderes sein. Vielleicht ist es auf vielen Gemälden die Leere des Raumes, welche die Fantasie anregt (man denke nur an die weiten Himmel auf den Bildern Dalís), vielleicht ist es auch die Stummheit der Figuren wie auf den Bildern von Paul Delvaux: Da stehen nackte Frauen herum, aber das Bild erzählt keine Geschichte, sondern lässt uns allein, und wir rätseln über das Geschehen.

Oft, sehr oft ist es auch der Einbruch des gänzlich Fremden. Besonders fremd und unheimlich scheint »Der Hausengel« von Max Ernst, eine Gestalt, die das Werk Jacques Callots fortzuschreiben scheint, oder vom selben Meister »Junger Mann beunruhigt durch den Flug einer nicht neu-euklidischen Fliege«. Den jungen Mann kann ich auf dem Bild nicht finden, sondern allein ein Gesicht, das an die Makroaufnahme einer Gottesanbeterin erinnert. Die den fiesen Kopf – den Schädel eines echten Alien – umsausenden Kugeln sind sicherlich Reminiszenzen an das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell, also Elektronen, und das ist dann zwar nicht die Begegnung von Regenschirm und Nähmaschine, aber doch etwas Ähnliches.

Ein häufiges Symbol ist der Spiegel. Auch Magrittes Porträt von Edward James auf dem Ausstellungsplakat zeigt ein Spiegelbild, und zunächst ist es wieder ein Witz – ein sehr intelligenter sogar. James wollte sich nämlich nicht porträtieren lassen, und so stellte ihn Magritte vor einen Spiegel, in dem sich dann aber nicht sein Gesicht spiegelt, wie sich das gehört, sondern in dem wir noch einmal seinen Rücken sehen. Edgar Allan Poes »Arthur Gordon Pym« in einer billigen, blassblauen Ausgabe dagegen spiegelt sich ganz korrekt.

Direkt neben diesem Spiegelbild hängt ein »Das Glashaus« betiteltes Rückenporträt eines Herrn, auf dessen Hinterkopf der Betrachter dessen großäugig-stumm vor sich hin starrendes Gesicht findet. Das ist eine absurde Idee, aber was das Bild so hervorragend macht, ist die Qualität der Malerei zusammen mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck: die Augen starren uns an, und der Mund ist stumm zusammengepresst. So spricht das Bild nicht zu uns, aber es prägt sich dem ratlosen Betrachter tief ein.

Bei dieser Hamburger Ausstellung handelt es sich nicht allein um eine Ausstellung von großartigen Kunstwerken, sondern zusätzlich um eine Dokumentation der Sammlertätigkeit auf höchstem Niveau, denn es werden die Personen selbst vorgestellt, und ihr jahrzehntelanges Engagement wird mit Essays im Katalog, Infoständen und zusätzlich einer Vielzahl von Papieren dokumentiert. So kann man einen Vertrag anschauen, den der Brite Edward James mit dem noch jungen Salvador Dalí, »hereinafter called the seller«, schloss und in dem der aufstrebende Surrealist seinem Mäzen eine ganze Jahresproduktion für ein regelmäßiges Monatssalär überließ. »Aus seiner besten Zeit«, wie die Kuratorin Annabelle Görgen betont, und die Qualität der in Hamburg ausgestellten Arbeiten Dalís spricht wirklich dafür. Von 1936 stammt unter anderem das gigantische Triptychon »Landschaft mit seilspringendem Mädchen«, aber auch die anderen Arbeiten können größtenteils überzeugen.

Sein berühmtes, aber als Kunstwerk weit überschätztes »Lippensofa« – eigentlich gehört es zu den Witzen – fertigte er ebenso wie zahlreiche andere Objekte in enger Absprache und auf Wunsch von James an, der sie alle dann in seinem »Monkton House« aufstellte, das also nicht allein eine erstaunliche Menge an surrealistischen Kunstwerken beherbergte, sondern auch entsprechende Einrichtungsgegenstände wie das Kussmund-Möbel und den »armchair«; in einem Wortspiel nahm Dalí geschnitzte, sich hilfesuchend aufwärts reckende Arme, zwischen denen ursprünglich Fäden als Lehne gespannt waren. Auch das Lippensofa kann man in Hamburg bestaunen – es ist ganz prominent aufgestellt –, und ein ausführlicher Essay beleuchtet im Katalog das Wirken und den Einfluss von Edward James, der auch noch zu anderen Surrealisten engen Kontakt pflegte.

Monkton House, aber auch die anderen Häuser, die sich James errichten ließ, werden im Katalog beschrieben – die letzteren mit Fotos, die deutlich machen, wie überladen und wohl auch sinnlos das alles wurde. Der Katalogbeitrag von Hubertus Gassner findet dafür wirklich treffende Worte, wenn er das »Äußere des Hauses mit der zerklüfteten Oberfläche, den Höhlungen und Grotten, vor allem aber mit den weißen, knüppelartigen Stegen, die stellenweise in Händen endeten, wie ein verzaubertes Korallenriff unter Wasser« beschreibt. Wer die »Italienische Reise« gelesen hat, wird vielleicht an das vom Weimarer Klassiker verabscheute sizilianische Schloss des Prinzen Pallagonia denken. Goethe stieß sich an der Willkür und Sinnlosigkeit der Zusammenstellungen, und bei manchen Werken Dalís hätte er das ganz gewiss ebenfalls getan.

Denken kann man auch an Gustav René Hockes »Die Welt als Labyrinth«, in dem Dalí immer wieder besprochen wird. Die Kuratoren der Hamburger Ausstellung weisen mit Recht daraufhin, wie sehr die surrealistischen Konzepte in die Zukunft weisen, aber man kann es eben auch wie Hocke umgekehrt machen und die Verankerung der surrealistischen Bewegung im Manierismus herausstellen. Ohne Hockes Namen und sein populäres Buch zu nennen, hat Gehlen ihm widersprochen, als er den Surrealismus eine »vollständig neuartige Kunst« nannte und nichts von dem Einfluss des »Arcimboldismus« wissen wollte.

Die Vergangenheit wird in dieser Ausstellung ganz und gar ausgespart. Aber erst vor wenigen Jahren hat Werner Hofmann, der lange Jahre Direktor der Hamburger Kunsthalle war, für den Umschlag seines Buches über das Phantastische in der Kunst (»Phantasiestücke«) ein zutiefst beeindruckendes, ein wirklich grandioses Bild von Max Ernst genommen, das man jetzt in Hamburg anschauen kann, den »Kopf des Hausengels«. Auch Hofmann hat die Linien nach rückwärts verfolgt, und es ist wohl an der Zeit, sein sehr kluges Buch noch einmal in die Hand zu nehmen.

In dem umfangreichen und schönen Katalog wird jeder der Stifter mit einem längeren biografischen Essay vorgestellt, und zwar nicht allein mit seinen persönlichen Vorlieben, sondern vor allem mit Blick auf den Kunstmarkt und das Verhältnis zwischen Künstler und Sammler oder Mäzen. Verdienstvollerweise wird so eine Seite der Kunstgeschichte beleuchtet, die sonst oft im Schatten bleibt. Für uns in Deutschland muss besonders die Geschichte des Ehepaares Ulla und Heiner Pietzsch interessant sein. Sie begann in den ersten Nachkriegstagen, in denen der spätere Sammler als Halbwüchsiger ein erstes Mal mit der vom Nationalsozialismus verfemten Kunst konfrontiert wurde. Zunächst lehnte er sie ab, aber er war offen und hartnäckig genug, sich immer und immer wieder mit ihr zu beschäftigen und so im Lauf der Zeit für sich zu entdecken. Diese Beschäftigung mündete in eine klug und sensibel zusammengestellte Sammlung, die man in diesen Tagen in Hamburg bestaunen darf: Eine wohl einmalige Gelegenheit, die man sich keinesfalls entgehen lassen sollte.

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