Buchrezensionen

Daniel Dombrowski, Jochen Griesbach (Hg.): Augen & Blicke. Das Sehen in der bildenden Kunst von Alt-Ägypten bis zur Moderne, Königshausen & Neumann 2015

Mit der Darstellung des Auges und des Blickens seit den ersten Anfängen der griechischen Kunst beschäftigt sich ein Katalogband des Martin von Wagner-Museums in Würzburg. Stefan Diebitz hat den anregenden Band über das Sehen gelesen.

Das Martin Wagner-Museum in Würzburg dürfte zu den ältesten und vornehmsten Orten der kunstgeschichtlichen Forschung in Deutschland gehören, denn bereits seit 1790 wird dort besonders die antike Kunst sowohl gesammelt und ausgestellt als auch in der Lehre behandelt. So ist der Kurator des Museums und Herausgeber des Bandes über das Sehen auch ein klassischer Archäologe, kein Kunsthistoriker, und der Band selbst weniger kunstgeschichtlich als vielmehr geistesgeschichtlich oder sogar anthropologisch ausgerichtet. In insgesamt zehn Kapiteln werden die Abbildung des Auges wie auch das Sehen als Vorgang in einem künstlerischen Bild unter verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt – im Ergebnis liegt dann eine Geschichte des Sehens und Blickens im Spiegel der Kunst seit den frühesten Tagen der europäischen Kultur vor.

Wer schöne und hochwertige Abbildungen sucht, wird mit diesem Katalogbuch unzufrieden sein, denn die durchweg schwarzweißen und dazu kleinen Bilder dienen lediglich der Illustration der einzelnen Artikel. Aber insbesondere die beiden auf einander ebenso abgestimmten wie sich ergänzenden Essays zu Beginn sind sehr empfehlenswert. Die sich daran anschließenden zehn Kapitel dagegen können trotz ihrer unbestreitbaren Qualitäten eigentlich nur für die Besucher der Ausstellung interessant sein.

Während der erste Essay eher aus einer intimen Kenntnis antiker Kunst heraus argumentiert, ist der Beitrag von Ramin Shafiai mehr auf die Kunst des Mittelalters und der Neuzeit ausgerichtet und spricht zuletzt sogar die fraktale Geometrie des Mathematikers Benoît Mandelbrot an. Mandelbrot hat den Versuch unternommen, das eigentlich Unsichtbare sichtbar werden zu lassen.

Zunächst umschreiben Daniel Dombrowski und Jochen Griesbach unter dem Titel »Blicke sagen mehr als Worte!« das Interesse der Ausstellung. Man könnte es für banal halten, wenn die Autoren die Bedeutung des Auges für die bildende Kunst betonen, aber wer sich die Kunst der letzten Jahrzehnte anschaut, begegnet sehr oft einer Überbetonung des Gedanklichen. Und die Geringschätzung des Auges findet sich nicht allein in der Kunst, sondern auch in der Philosophie, denn nach Herbert Schnädelbach ist »die Neigung, Erkennen als eine Art des Sehens aufzufassen«, Ursache unzähliger Irrtümer. Wir »werden dazu verleitet«, glaubt er, »weil die meisten der Ausdrücke, mit denen wir Wissen beschreiben, der Metaphorik des Gesichtssinnes angehören.« Den Zusammenhang des Sehens mit dem Denken hält dieser Philosoph aber für eine ganz oberflächliche Erscheinung, durch die Metaphorik zufällig nahegelegt, keinesfalls aber durch die Sache gerechtfertigt.

Wenn Dombrowski und Griesbach dagegen daran festhalten, dass das Auge »der erste Zugang des Menschen zur Welt« ist (nach meiner Überzeugung eine eigentlich banale Weisheit), dann widersprechen sie mit Schnädelbach nicht allein einem prominenten Autor, sondern gleich einer Mehrheit von akademischen Philosophen, ja im Grunde sogar gleich dem Zeitgeist. Einen allerdings wissen sie hinter sich, einen gewissen Aristoteles, der bereits in den einleitenden Sätzen zu seiner »Metaphysik« die Bedeutung des Auges als unserem wichtigsten Sinnesorgan herausgestellt hat. Der ganze Band mit allen seinen Texten und Abbildungen kann ihn darin bestätigen. In dem zweiten der einleitenden Essays schreibt Ramin Shafiai: »Das Gesehene und Erkannte verwandelt sich in Erkenntnis.«

Es sind mehrere Gedanken, die an diesen beiden Essays herausgehoben werden sollen: zunächst die antike, unter anderem in Platons »Timaios« ausgebreitete Vorstellung, dass vom Auge Strahlen ausgehen und dass somit das Sehen ein aktiver, nicht etwa ein rezeptiver Vorgang sei, die Beobachtung, dass auf vielen archaischen, antiken und sogar noch mittelalterlichen Abbildungen das Auge des Menschen übergroß erscheint, endlich die in ihrer Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzende Bedeutung des Auges für alle sozialen Interaktionen, die schon für frühe griechische Malerei wichtig wurde. Dabei scheint diese Vokabel – »Interaktion« – doch um ein weniges zu blass für Vorgänge, in denen wir uns im Guten oder Schlechten mit anderen Menschen oder auch mit Tieren verbinden.

Das Sehen, erläutern Dombrowski/Griesbach in ihrer Einleitung, wurde in der Antike keineswegs »als bloß passive Aufnahme der Außenwelt verstanden«. Vielmehr wurde das Auge als ein aktives Organ begriffen, von dem Strahlen ausgingen, das also Strahlen aussendete. Ramin Shafiai schreibt: Diese »Theorie der Sehstrahlen, auch Extramission genannt, geht davon aus, dass eine Form von Feuer oder Pneuma aus dem Auge heraus sich mit dem Licht der Außenwelt verbindet und uns so die Welt erblicken lässt.« Es war zuletzt Hans Belting, der in seinem Buch über »Florenz und Bagdad« die antike Theorie des Sehens beschrieben hat. Shafiai geht an mehreren Stellen auf dieses seinerzeit vielbeachtete Buch ein.

Dem antiken Menschen schien das Sehen ein Vorgang, der unter Umständen sogar aggressiv sein konnte – eine Vorstellung, die sich noch heute in manchen sprachlichen Wendungen spiegelt oder in der nur scheinbar liebenswürdigen Sitte, den Verurteilten vor dem Erschießungskommando die Augen zu verbinden. Denn zum Schutz ihrer Seelenruhe hat man das gewiss nicht getan, sondern um die Henker vor dem letzten Blick eines Sterbenden zu schützen. Heute dagegen wird das Auge so sehr als ein ausschließlich rezeptives Sinnesorgan verstanden, dass darüber das Wissen um die Notwendigkeit seiner Bewegung verlorenging. Viele wissen nicht, dass auch das Auge sich bewegen muss – auch wenn es nur ein kaum wahrnehmbares Zittern sein mag –, um überhaupt etwas wahrnehmen zu können.

Ebenso interessant ist die von Dombrowski / Griesbach angedeutete Geschichte der Darstellung des Menschen in der antiken Kunst. Der menschliche Leib erscheint zunächst wie aus Modulen zusammengesetzt (oder wurde auf den archaischen Vasen tatsächlich aus einzelnen Modulen zusammengefügt) – und zunächst war dieser Mensch augenlos. Dann folgte ein Augenpunkt, dem anschließend die Pupille eingefügt wurde, so dass diese Figur bereits blickend war. Bald darauf begann die übermäßige Vergrößerung der Augen, die also nicht gleich am Anfang der Menschendarstellung gestanden zu haben scheint. Julian Jaynes hat in seinem Buch über die »Entstehung des Bewußtseins« aus den übergroßen Augen nicht bloß griechischer, sondern überhaupt orientalischer Statuen sehr weitgehende Folgerungen gezogen, aber seine Überlegungen fußen auf dem größtmöglichen Alter dieser aus riesigen Augen ins Leere starrenden Gesichter. Auf derartige sehr umstrittene Theorien gehen die Autoren aber leider nicht ein, trotz der Prominenz dieser einen, die lange heftig diskutiert wurde. Für riesige Augen bietet der Essay von Dombrowski und Griesbach auch noch andere und spätere Beispiele, etwa aus dem frühen Mittelalter: »in den Augen Christi zentriert sich das ganze Bild.«

Große Augen bringen wir besonders mit Emotion in Verbindung – das ist eines der umfangreichsten Kapitel dieses Kataloges, dessen Beispiele von antiker Vasenmalerei über Bilder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu Illustrationen von Dostojevskijs
»Rodion Raskolnikow« durch Wilfried Otto (1901 – 1983) reichen. Über diesen Maler verrät uns der Katalog außer seinen Lebensdaten merkwürdigerweise gar nichts. Er scheint eine eher lokale Berühmtheit gewesen zu sein, aber umso wichtiger hätten einige Informationen sein müssen.

Obwohl auch auf Bildwerke der Neuzeit eingegangen wird, liegt die Stärke des Buches der Ausrichtung des Museums entsprechend eher in der Ausdeutung antiker Vasenmalerei. Der Blickkontakt der verschiedenen Figuren wird analysiert und mit dem Mythos, gelegentlich aber auch mit der Dichtung in Verbindung gebracht. So stellt Alina Bräuer den Abschied Hectors von Andromache der Rückkehr des Paris zu Helena gegenüber, und ein anderes Beispiel zeigt, wie sich Achilles in Penthesilea verliebt. »Mittels Blickachsen waren die Künstler über den Transport von Affekten hinaus in die Lage versetzt, eine komplexe Erzählstruktur aufzubauen. Der Betrachter wurde nun zwar weitaus seltener durch Blicke ‚aus dem Bild heraus direkt angesprochen, aber die Logik der Aufmerksamkeit zwang ihn, den Blicken der Figuren solange zu folgen, bis ihr Beziehungsgeflecht entschlüsselt war.«

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